Viele Beobachter waren erstaunt über den plötzlichen Rückzug der Russen aus Syrien, den Präsident Wladimir Putin vor einigen Wochen ohne jegliche Vorzeichen verkündete. Je nach Position wurde gerätselt, ob Russland nun die Terror-Milizen IS und al-Nusra besiegt habe – oder vor ihnen kapituliert. Die Russen hatten bis unmittelbar vor Bekanntgabe des Rückzugs stets betont, der Kampf werde lange dauern.
Tatsächlich war schon der Wortlaut ziemlich aussagekräftig: Putin hatte gesagt, er werde einen Teil der Truppen zurückziehen, aber weiter gegen die Terroristen kämpfen. Ein wichtiges militärisches Ziel war mit den Luftschlägen zu diesem Zeitpunkt bereits erreicht: Die russischen Marine- und Luftwaffenstützpunkte in der Region Latakia waren gesichert. Die Russen hatten nach dem Abschuss eines Militär-Jets durch die Türkei auch Interkontinental-Raketen stationiert. Mit diesen Raketen wollten die Russen vor allem ein klares Signal in Richtung Türkei setzen. Diese Raketen vom Tys SS-20 Iskander sind immer noch in Syrien stationiert, wie die russische Militärwebsite military-informant.com am 27. März berichtet.
Auch die US-Nachrichtenagentur Reuters berichtet von umfangreichen Truppenverschiebungen: So kehrte der Marine-Eisbrecher „Jausa“ nicht in seinen Heimathafen in der Arktis zurück. Drei Tage nach Putins Erklärung am 14. März lief die „Jausa“, die als Teil des sogenannten „Syrien-Express“ die russischen Truppen in Syrien versorgt, vom Schwarzmeer-Hafen Noworossijsk abermals nach Tartus aus, dem russischen Marinestützpunkt in Syrien. Reuters: „Was immer die ,Jausa‘ geladen hatte – es war sehr schwer. Das Schiff lag so tief im Wasser, dass seine Ladelinie kaum noch zu sehen war.“ Auch zwei Landungsschiffe seien ins Mittelmeer entsandt worden – die „Caesar Kunikow“ und die „Saratow“. Beide dienen dem Transport von Truppen und Ausrüstung. Auch die „Saratow“ hatte laut Reuters sehr schwere Fracht an Bord, als sie am Donnerstag Kurs auf Syrien nahm.
Die Fahrten der russischen Schiffe legen nahe, dass in den vergangenen zwei Wochen mehr Ausrüstung und Nachschub nach Syrien gebracht als von dort abtransportiert wurde (mehr dazu hier). Was genau die Schiffe geladen haben und was an Bord der Frachtflugzeuge war, die zusammen mit russischen Kampfjets aus Syrien abgeflogen sind, ist nicht bekannt.
Reuters hat berechnet, dass in den Tagen nach Putins Erklärung rund die Hälfte der Kampfflugzeuge abgezogen wurde. Am Montag zeigte das Staatsfernsehen, wie drei Kampfhubschrauber aus Syrien abtransportiert wurden (Video am Anfang des Artikels). Die genauen Zahlen hält Russland geheim, doch vermutlich sind noch 36 Kampfjets in Syrien. Die TASS bestätigt diese Einschätzung und wiederholt zu diesem Zweck, dass Russland nie gesagt habe, es werde sich vollständig aus Syrien zurückziehen.
Vermutlich hat Russland derzeit mehr als ein Dutzend Kriegsschiffe im Mittelmeer. Dazu gehört auch die „Selenij Dol“, die mit äußerst zielgenauen „Kalibr“-Raketen ausgerüstet ist.
Der Grund der Ankündigung des russischen Abzugs war demnach offenbar nichts anderes als eine Kriegslist, mit der Putin zwei Dinge erreicht hat: Er hat die Terror-Milizen in die Irre geführt. So hatte der IS nach dem Putin-Statement angekündigt, nun werde man eine Offensive gegen Latakia starten. Doch die Terror-Milizen wurden in eine Falle gelockt: Mit Unterstützung der Russen gelang es der syrischen Armee, Palmyra zurückzuerobern und dem IS eine schwere Niederlage zuzufügen.
Putin hat diese Wendung nicht allein herbeigeführt, sondern offenkundig in enger Abstimmung mit US-Präsident Barack Obama. Dieser hatte sich vor Monaten bereits gegen die CIA und die Neocons gestellt und deren Idee, andere Staaten mit Söldnern zu destabilisieren, als gescheitert bezeichnet. In der Woche vor dem Fall von Palmyra war US-Außenminister John Kerry faktisch Dauergast im Kreml. Man kann davon ausgehen, dass die Strategie zur Beendigung des IS im Detail von den Großmächten gemeinsam entwickelt wurde.
Für die endgültige Beendigung des Krieges soll die Zusammenarbeit sogar offen operativ erfolgen: Russland und die USA bereiten sich nach Angaben aus Moskau und Washington gemeinsam auf die Bekämpfung der radikalislamischen Miliz IS in deren wichtigster Hochburg Raqqa vor. Beide Seiten würden über eine „konkrete“ militärische Koordinierung zur Befreiung der nordsyrischen Stadt sprechen, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax am Mittwoch den russischen Vize-Außenminister Oleg Syromolotow. Reuters schreibt, sichtlich beeindruckt: „Eine Zusammenarbeit, die auf eine Rückeroberung der de facto Hauptstadt des IS in Syrien abzielt, wäre auf dieser Ebene ein beispielloser Schritt.“
Das Weiße Haus hat die Zusammenarbeit ebenfalls bestätigt. Der stellvertretende Sicherheitsberater Ben Rhodes sagte am Mittwoch bei einer Pressekonferenz, dass man der Türkei klargemacht habe, dass es eine Kooperation zwischen den USA und Russland gäbe: „Einer der Punkte, die wir der Türkei gesagt haben, ist, dass wir mit Partnern des syrisch-arabischen Koalition zusammenarbeiten, welche sich gerade anschicken, den Druck auf ISIL nördlich von Raqqa zu erhöhen.“ Auch zu diesem Zweck sind die Russen in Syrien unverändert militärisch präsent. Der Staatssender Sputnik bringt ein Statement des russischen Verteidigungsministeriums. Demnach sind die Russen in der Nacht zum Mittwoch 23 Luftangriffe gegen 54 Ziele von Terroristen geflogen, mit offenbar erheblicher militärischer Wirkung.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Putin sich offenkundig mit Israel genau abstimmt. Defense News zitiert einen israelischen Luftwaffen-Offizier, der die fortgesetzte Präsenz der Russen in Syrien bestätigt, in ihr aber keine Gefahr für Israel erkennt. Die Russen würden die Langstreckenraketen zur Luftabwehr gegen die Türkei einsetzen und nicht gegen Israel richten. Auch der Iran, einer der Verbündeten der Russen in Syrien, stelle in diesem Zusammenhang keine Gefahr dar, im Gegenteil: Die israelischen Geheimdienste haben offenbar beobachtet, dass der Iran die Qualität seiner Truppen in Syrien zurückfährt.
Die überraschende Finte Putins hat offenbar noch einen weiteren Zweck erfüllt: Sie hat das Selbstvertrauen der syrischen Armee gestärkt. Wie der US-Journalist Seymour Hersh kürzlich bereits berichtete, sei man bei den US-Militärs durchweg voller Anerkennung für die Strategie der Russen, die Moral der syrischen Armee aufgebaut zu haben, damit sie den Kampf gegen den Terror annimmt. Der spektakuläre Erfolg der syrischen Armee bei der Rückeroberung von Palmyra scheint bereits das Ergebnis der wiedergewonnenen Kampfmoral zu sein. Denn anders als den Terror-Gruppen war der syrischen Armee rechtzeitig signalisiert worden, dass die Russen nicht daran denken, auf halbem Weg in Syrien umzukehren.
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