Vor wenigen Jahren wurde Österreich als das „bessere Deutschland“ gefeiert. Ein stärkeres Wachstum und niedrigere Arbeitslosigkeit waren die Merkmale, die nun verschwunden sind: von der Überholspur auf die Kriechspur. Die Arbeitslosigkeit ist besonders gravierend, weil das Land seit jeher nur eine geringe Beschäftigungsquote der über 60jährigen hat, wodurch seit langem die tatsächliche Arbeitslosigkeit verdeckt wird. Nach EU-Berechnung liegt die Arbeitslosenrate derzeit bei 5,7 Prozent, nach den strengeren, nationalen Kriterien sogar bei 10 Prozent. Das BIP wuchs 2015 um geschätzt 0,9 Prozent gegenüber etwa 1,7 Prozent in Deutschland und in der Euro-Zone insgesamt. Und auch aktuell bleibt Österreich zurück. Was ist in den vergangenen Jahren geschehen?
Die objektiven Daten bieten keine ausreichende Erklärung
Man könnte mit objektiven Daten antworten: Die Konjunktur in Europa ist generell schwach und da kann sich eine kleine, offene Volkswirtschaft nicht abkoppeln. Eine entscheidende Rolle spielt Osteuropa. Die Nachbarländer im Osten der EU erleiden auf ihrem Weg von der kommunistischen Staatswirtschaft zur modernen Marktwirtschaft seit längerem eine Anpassungskrise. Russland ist in der gleichen Lage, doch wirken sich die EU-Sanktionen besonders negativ für Österreich aus. Die Weigerung der aktuellen sowie der vorangegangenen österreichischen Regierung, überfällige Reformen durchzuführen, hat dazu geführt, dass die öffentlichen Ausgaben bereits 52 Prozent des BIP erreichen. Die Steuern und Abgaben belaufen sich auf über 50 Prozent – ein Anteil, der die Wirtschaft naturgemäß lähmt.
Diese Antworten können nicht genügen, da Österreich Jahrzehnte in der Lage war, auch unter negativen Rahmenbedingungen besser abzuschneiden als andere Länder. Somit muss man diesem offenbar verloren gegangenen Erfolgsrezept nachspüren.
Auf der Suche nach dem verlorenen Erfolgsrezept
Entscheidend beigetragen zu den guten Ergebnissen hat die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppierungen, die ihre oft sehr unterschiedlichen Interessen und Ansichten koordiniert haben. Nun ist diese Konstellation bei oberflächlicher Betrachtung immer noch gegeben. In der Regierung koalieren wie zumeist seit 1945 die Sozialdemokraten mit der konservativen ÖVP, auf der Ebene der Wirtschaftspartner bekennt man sich immer noch zur Sozialpartnerschaft, also vor allem zur engen Abstimmung zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern. Hinter der äußeren Fassade ist jedoch vom Geist der traditionellen Zusammenarbeit wenig zu bemerken und diese Entwicklung hat die Stimmung zum Kippen gebracht.
Im Land von Sigmund Freud sind Statistiken und Bilanzen weniger wichtig, entscheidend ist die Befindlichkeit der „österreichischen Seele“, ein Begriff, den der Psychologe Erwin Ringel geprägt hat. Die Bevölkerung ist über den Verlust der Harmonie verärgert und wählt aus Protest die Rechtspartei FPÖ. Allerdings: In diesen Tagen dürfte sich die Stimmung entscheidend wandeln. Seit dem Dienstag nach Pfingsten hat das Land einen neuen Bundeskanzler, Christian Kern, SPÖ, bisher erfolgreicher Generaldirektor der Bahn, der als erste Botschaft ein Bekenntnis zu konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner ÖVP abgelegt hat. Sein Gegenüber, Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, ÖVP, begrüßte die Ansage und stoppte die Attacken der notorischen Kampfrhetoriker in seiner Partei. Bei jedem Wechsel in der Regierung reagieren die Wähler in Österreich prompt positiv, weil sie sich eine Besserung erwarten. Wird diese Hoffnung enttäuscht, zeigen die Umfragen schon nach wenigen Wochen negative Reaktionen. Auffallend ist eine nur in wenigen Ländern zu beobachtende, hohe Aufmerksamkeit für politische Veränderungen.
Erforderlich ist ein Blick auf die Mechanismen, die in der Vergangenheit funktioniert haben und in Zukunft wieder wirken sollen. Die Regierungen beschlossen jeweils ein gemeinsames Programm, das die Arbeit bestimmte. In letzter Zeit entstand der Eindruck, dass zwei Regierungen eigene Wege gehen und beide keine brauchbaren Resultate vorzuweisen haben. Jetzt ist wieder von einem gemeinsamen Programm die Rede und die Öffentlichkeit reagiert erfreut, wenn auch nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit skeptisch.
Abgesichert wurde die Harmonie zwischen SPÖ und ÖVP, zwischen Rot und Schwarz, durch die Beiträge der Sozialpartnerschaft. In umfangreichen und intensiven Diskussionen wurden für die jeweils aktuellen gesellschaftspolitischen Themen Lösungen erarbeitet, die für die Betriebe wie für die Arbeitnehmer vertretbar waren. Somit konnten in der Regierung und im Parlament Entscheidungen getroffen werden, die in der Folge keine oder keine größeren Proteste in der Bevölkerung auslösten.
Die Kooperation auf mehreren Ebenen funktioniert nicht mehr
Wie sehr dieses System nicht mehr funktioniert, zeigt sich am Beispiel der zu Beginn des Jahres 2016 in Kraft getretenen Steuerreform. Die Arbeitnehmerseite setzte eine Senkung der Lohn-und Einkommensteuer durch, die ohnehin überfällig war, weil seit Jahren keine Korrektur des Tarifs erfolgt ist und durch die Inflationsabgeltung die Einkommen in höhere Tarifstufen aufrückten. Unter dem Druck der EU-Regeln bestand aber der Finanzminister auf einer Gegenfinanzierung, sodass im Effekt nur eine Umschichtung erfolgte und keine Senkung zustande kam.
Die Umschichtung erfolgte auf Kosten der Unternehmen, die in der schwachen Konjunktur ohnehin zu kämpfen haben und nun zusätzlich belastet werden, wodurch sich eine Verschlechterung der Gesamtsituation ergibt. In Zeiten der funktionierenden wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit hätten in einer ersten Phase die Sozialpartner ein Steuerkonzept entwickelt. Anschließend wäre in einer Abstimmung zwischen den Vertretern der Regierung und der Sozialpartner die Finalisierung erfolgt.
Der Verzicht auf eine akkordierte Lösung wurde mit dem Hinweis verteidigt, dass die im Gefolge der Steuersenkung höheren Nettoeinkommen den Konsum beleben, das Wachstum fördern und so die negativen Begleiterscheinungen korrigieren werden. Davon kann keine Rede sein: In der allgemein schlechten Stimmung stagniert der Konsum seit Beginn des Jahres, die Mittel aus der Steuersenkung werden gespart oder von der Teuerung aufgezehrt, die zudem in Österreich mit einem Prozent höher ist als im übrigen Europa.
Die besonderen Auswirkungen der EU-Regularien
Einen entscheidenden Beitrag zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage leisten auch die EU-Regularien, die in ganz Europa bremsend wirken, aber in Österreich einen besonderen Nerv treffen. Mehr als anderswo werden, oder eher wurden, die im Land dominierenden kleinen und mittleren Unternehmen über Kredit finanziert. Dennoch halten – korrekt: hielten – sich die Ausfälle in einem sehr geringen und von den Banken leicht verkraftbaren Rahmen. Diese Faktoren ergeben sich aus der breiten Streuung und der meist kleineren Summen.
Die geschilderte Praxis hat auch sehr viel mit Psychologie, mit der österreichischen Seele zu tun. Die Unternehmer und Bankbetreuer entwickeln ein Vertrauensverhältnis, beide wissen, dass man den anderen nicht enttäuschen darf. Abgelehnt wird meist die Hereinnahme von Teilhabern, man zieht die Partnerschaft mit der Bank vor, auch wenn dies oft eine Abhängigkeit bedeutet.
Diese eigene, für Außenstehende schwer nachvollziehbare Welt wird oder besser wurde durch die EU-Regeln vernichtet: Der Zwang, jederzeit aktuelle Rechenwerke parat zu haben, eine hohe Eigenkapitalausstattung vorweisen zu können und zahllose Informationspflichten einhalten zu müssen, überfordern das österreichische System. Die Banken sind verpflichtet für die Einhaltung zu sorgen, da sie sonst hohe Strafen zahlen müssen. In der Folge erstarrt die Kreditfinanzierung. Viele Unternehmen schließen. Viele beugen sich und im Ausfüllen der Formulare und Meldungen geht die Dynamik verloren. Die Bürokratie erstickt ein vermeintlich „unordentliches“, aber sehr erfolgreiches System.
Dass sich der Formular- und Meldungswahn nicht nur im Finanzierungsbereich entfaltet, sondern ausnahmslos alle Sparten wie eine Epidemie erfasst, bedarf keiner besonderen Betonung und stellt auch kein österreichisches Spezifikum dar.
Eine Regierung, die streitet und nicht regiert, Sozialpartner, die keine Partnerschaft leben, Reformen, die nicht durchgeführt werden, eine extrem hohe Steuerbelastung, keine funktionierende Außenfinanzierung, und Vorschriften, Vorschriften und wieder Vorschriften sorgen täglich, stündlich für Unmut. Das ist ein Zustand der ein seelenvolles Volk wie die Österreicher in die Lähmung, in den Burn-Out und in die Depression treibt.
Die nüchterne Konsequenz lautet: Stagnation und hohe Arbeitslosigkeit.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.
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