Im Westen gilt Russlands Präsident Wladimir Putin als Kriegstreiber, mehr noch, zuletzt wurde die Rhetorik verschärft und nun ist vom Kriegsverbrecher die Rede. Die Auseinandersetzung entzündet sich – vordergründig - am Eingreifen Russlands an der Seite der syrischen Regierungstruppen im Kampf gegen die Rebellen in Aleppo. Diese sind allerdings zum beachtlichen Teil Söldner oder gehören der dschihadistisch-salafistischen Gruppe Al-Nusra an. Die Aufständischen werden vom Westen unterstützt und in Washington wird überlegt, ob nicht die US-Armee direkt in den Krieg eingreifen sollte. Womit die Armeen Russlands und der USA einander bekämpfen würden. Auch in London werden ähnliche Töne angeschlagen. Nicht zufällig hat der syrische Präsident Baschar Al-Assad gemeint, in seinem Land rieche es nach dem Dritten Weltkrieg.
Präsident Barack Obama, der zwar die letzten Monate seiner Amtszeit für zahlreiche Friedensinitiativen nützt, sieht Putin als Bedrohung des Weltfriedens: Die Annexion der Krim und die Unterstützung von Assad, der für Washington nur ein brutaler Diktator ist, würden dies beweisen. Aus der Sicht der USA ist es an Putin, seine aggressive Politik zu korrigieren.
So einfach sind die Dinge leider nicht. Die Annexion der Krim ist im Zusammenhang mit der Ukraine-Politik der NATO zu sehen. Die Intervention in Syrien steht im Konnex mit den politischen Spannungen rund um den Iran, den Irak, den IS und die Türkei. In beiden Problemfeldern hat die Politik der USA und der NATO wie auch der EU für kritische Entwicklungen gesorgt, deren Ausmaß offensichtlich weder in Washington noch in Brüssel erkannt wurde.
Das jüngste Treffen der Außenminister der USA und Russlands, John Kerry und Sergei Lawrow, am 15. Oktober 2016 in Lausanne, hätte die Gelegenheit geboten, Lösungen zu finden und die drohende Eskalation zu vermeiden. Dies umso mehr als Vertreter der betroffenen Länder an den Gesprächen teilnahmen. Die Chance wurde nicht genützt, man begnügte sich mit der vagen Bereitschaft zu weiteren Kontakten.
Die Politik Russlands gegenüber der Ukraine entstand nicht willkürlich
Die Übernahme der Krim durch Russland kam nicht aus heiterem Himmel und auch nicht als willkürliche Aggression. Zuvor hatte die NATO systematisch die Eingliederung der Ukraine in die westliche Verteidigungsallianz betrieben. Es kam zwar nicht zu einer formellen Mitgliedschaft, aber zu weitgehenden Vereinbarungen. Außerdem wurde eine Art „Mitgliedschaft light“ mit der EU vertraglich fixiert und die EU versteht sich seit dem 2009 in Kraft getretenen „Lissabonner Vertrag“ als enger Partner der NATO.
Die Schwarzmeer-Flotte Russlands ist an der Krim stationiert. Dies beruht auf alten, langfristigen Verträgen. Für Russland bedeutete die Entwicklung, dass die eigene Flotte plötzlich de-facto in NATO-Gebiet stand. Ähnliches würden umgekehrt auch die NATO-Staaten nicht akzeptieren. Außerdem muss die vom Westen als ungültig bezeichnete Abstimmung der Bevölkerung für Russland nicht unbedingt gefälscht sein. Auf der Halbinsel und darüber hinaus bis nach Odessa sind viele Einwohner bei der Flotte beschäftigt und sind emotional mit Russland verbunden.
Zudem ist die militärische Aufrüstung der Ukraine nicht die dringendste Aufgabe, auch wenn dies Präsident Petro Poroschenko und der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, ständig wiederholen. Diese Politik nützt nur der Waffenindustrie. Das Land ist bankrott und braucht dringend Milliarden Investitionen in allen Bereichen. Mit einem entsprechenden Programm würde man die Ukraine an den Westen binden. Eine Quasi-Mitgliedschaft bei der EU und der NATO sorgen nur für den sinnlosen Konflikt mit Russland.
Um diesen Konflikt zu entschärfen müssten sich die NATO und die EU zurückziehen, da nicht nur die Krim ein Krisenherd ist, sondern auch der Umstand eine Rolle spielt, dass die Ukraine im Osten eine lange Grenze zu Russland hat. Die Separatisten-Kämpfe im Osten sind ebenfalls eine Antwort auf die NATO-Politik. Somit sollten auch die von den USA und der EU gegen Russland verhängten Sanktionen aufgehoben werden. Vor allem muss der ukrainischen Bevölkerung verlässlich signalisiert werden, dass der Westen ein umfangreiches Aufbau-Programm ermöglichen wird.
Im Interesse des Weltfriedens müsste zuerst der Westen seine falsche Politik korrigieren. Es ist allerdings fraglich, ob die Eitelkeit der Akteure dies zulässt.
Der Krieg in Syrien und das Großmachtstreben des Iran
Im Nahen Osten hat die von den USA betriebene Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran die politische Landschaft grundlegend verändert. Schlagartig wurde das Land zu einem bestimmenden Faktor, wozu allerdings auch Umstände beitragen, die sich aus früheren Entwicklungen ergeben. Nach der Vernichtung des Regimes von Diktator Saddam Hussein durch die USA sollte der Irak eine Demokratie werden. Wie in vielen Fällen in der Region brach auch im Irak nach dem Sturz des Machthabers das Chaos aus, das sich der Iran zunutze machte. Die Regierung des Irak wird jetzt stark vom Iran bestimmt. Zudem bestehen enge Bindungen zum syrischen Präsidenten Assad. Die im Libanon einflussreiche Terrorgruppe Hisbollah anerkennt den geistigen und politischen Führer des Iran, Ali Khamenei, als ihr Oberhaupt.
In greifbare Nähe gerückt war also die Schaffung eines iranischen Großreichs, gebildet aus dem Iran, dem Irak, Syrien und dem Libanon, das die Region beherrscht hätte. Unterbrochen wurde und wird diese Entwicklung durch den Islamischen Staat, der große Teile des Iraks und Syriens erobert hat. Der IS ist als Nachfolge-Organisation der sunnitischen Partei Saddam Husseins entstanden und somit in unbedingter Konfrontation mit dem schiitischen Iran.
Gestört wird das Konzept, eine iranische Großmacht aufzubauen, auch durch den Bürgerkrieg in Syrien, wo Söldner und die Dschihadisten-Gruppe Al-Nusra den Sturz von Präsident Assad betreiben. Diese Gruppe stellt sich als Teil des „arabischen Frühlings“ dar und wird deswegen von den USA unterstützt. Mittlerweile erweisen sich die Aufständischen allerdings als brutale Terroristen.
Für Moskau bedeuten diese Entwicklungen, dass im Süden Russland ein muslimisches Großreich zu entstehen droht, das die religiösen Spannungen in Russland vergrößern würde. Hier sei nur daran erinnert, dass viele Tschetschenen fanatische, fundamentalistische Islamisten sind, dass der Nordkaukasus seit Jahrhunderten im russischen Reich eine islamische Enklave bildet.
Konsequent wurde daher von Russland eine Doppelstrategie eingeschlagen:
Der erste Teil: Man suchte die Kooperation mit dem Iran, die man nun auch durch die Lieferung von Atomkraftwerken an den Iran untermauert. Hier sei daran erinnert, dass die russische Atomindustrie immer noch den Typ RBMK im Programm und im Einsatz hat, der bei laufendem Betrieb rasch die Entnahme von waffenfähigem Plutonium ermöglicht. In dem veröffentlichten Lieferprogramm für den Iran ist dieses Kraftwerksmodell allerdings nicht enthalten.
Der innenpolitische Flankenschutz: In Moskau betonen Präsident Putin und Premierminister Dmitri Medwedew oft die Verbundenheit mit den muslimischen Mitbürgern.
Der zweite Teil: Um das Großmachtstreben des Iran zu bremsen, stärkt Putin den syrischen Präsidenten Assad, der zwar als Mitglied der alevitischen Glaubensgemeinschaft eng mit den schiitischen Iranern verbunden ist, aber nicht unbedingt zu einer Marionette von Teheran absinken möchte. Zudem hat Russland im syrischen Tartus den einzigen Militärstützpunkt im Mittelmeer, der vermutlich nur unter Assad gesichert ist. Aus dieser Strategie ergibt sich die Bekämpfung der Aufständischen in Syrien und die Bombardierung von Aleppo. Nicht zuletzt erklärt dieses Konzept, warum Russland den IS nur zögerlich bekämpft, da diese Terrorgruppe das Großmachtstreben des Iran behindert.
Die Interessen Russland und der USA wären auf einen Nenner zu bringen
Die meisten Elemente der russischen Politik entsprechen sogar den Interessen des Westens. Auch die USA können nicht akzeptieren, dass der Iran zur Großmacht wird. Schließlich lässt Khamenei keine Gelegenheit aus, um Amerika wüst zu beschimpfen und zu verteufeln. Auch die USA müssten daran interessiert sein, dass in der Region mehrere Staaten für eine politische Balance sorgen. Also sollte hier eine abgestimmte Vorgehensweise mit Russland möglich sein.
Die derzeit von den USA betriebene Politik verkennt die Realität:
„Assad ist ein brutaler Diktator, also muss er beseitigt werden.“ Diese Logik ist unbestreitbar menschlich richtig, aber politisch falsch. Vorweg ist sicherzustellen, dass Syrien nicht im Chaos versinkt wie der Irak nach Saddam oder wie Libyen nach Gaddafi.
„Der IS ist eine Terroristenbande, die Massenmorde begeht und daher vernichtet werden muss.“ Auch diese Logik ist menschlich richtig, nur muss vorweg die Frage geklärt werden, wie der Irak stabilisiert werden kann.
Diese Aufgaben könnten und müssten die USA und Russland im Interesse des Weltfriedens gemeinsam lösen. Voraussetzung ist allerdings, dass man in Washington die Welt nicht einfach in Gut und Böse teilt, sondern die zahlreichen bestimmenden Faktoren berücksichtigt.
Die Türkei stellt eine Herausforderung für die Diplomatie des Westens und Russland dar
In der Region ist mit der Entwicklung der Türkei ein weiterer Krisenherd entstanden. Die Regierung Erdogan verletzt systematisch die Menschenrechte: Die Polizei schießt auf friedliche Demonstranten, kritische Journalisten werden eingesperrt. Nach dem Putschversuch im Juli hatte die Regierung erstaunlicher Weise innerhalb von Stunden die Liste von tausenden Verdächtigen parat, die prompt eingesperrt oder von ihren Posten enthoben wurden.
Die Türkei ist ein NATO-Staat und die Grundsätze der NATO besagen, dass nur demokratische Rechtsstaaten Mitglieder sein dürfen. Somit wäre eine Kündigung der NATO-Mitgliedschaft angebracht. Die USA wollen aber ihren Stützpunkt in der Türkei nicht verlieren. Zudem übernimmt die Türkei tausende Flüchtlinge, die sonst in die EU kommen würden. Der Westen ist also an einem guten Einvernehmen mit der Türkei interessiert. Die Türkei selbst orientiert sich aber nach Moskau, weil Erdogan deutlich erkennt, dass die Unterstützung aus dem Westen nur widerwillig und zögerlich erfolgt.
Somit hat Putin mit der Türkei ein weiteres Faustpfand, das er in der seit Monaten immer schärfer werdenden Auseinandersetzung mit dem Westen ausspielen kann. Hier ist die westliche Diplomatie gefordert. Die NATO ist nicht auf die Türkei angewiesen, das benachbarte Griechenland ist ebenfalls NATO-Mitglied. Die EU müsste auch ohne die Türkei das Flüchtlingsproblem lösen können. Also sollte es nicht schwer sein, sich in dieser Frage neu zu positionieren und auch in der türkischen Frage mit Russland zu einer Einigung zu kommen.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.