Finanzen

Renten-Desaster: Viele Deutsche werden in die Altersarmut rutschen

Lesezeit: 6 min
30.10.2016 01:37
Deutschland steht vor einem beispiellosen Desaster bei den Renten. Die Altersarmut ist für viele unausweichlich. Die Bundesregierung hat im Hinblick auf die Renten so ziemlich alles falsch gemacht.
Renten-Desaster: Viele Deutsche werden in die Altersarmut rutschen

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Die deutsche Bundesregierung hat an die Bürger appelliert, die private Vorsorge zu steigern, um der Altersarmut zu entgehen. Diese Aufforderung grenzt angesichts der Tatsachen an Zynismus. Unter den derzeit gegebenen Umständen ist der Weg in die Altersarmut für sehr viele unvermeidlich.

Die Fakten sind klar:

Die gesetzlichen Renten entsprechen nur in etwa der Hälfte des Einkommens in der Aktivzeit, wobei die Quote bei den höheren Einkommen die Größenordnung von 55 Prozent erreichen kann – bei den niedrigen Einkommen ist der Satz deutlich geringer. Die Prognosen zeigen einen weiteren Rückgang. Bis 2030 darf der Satz nicht unter 43 Prozent fallen, danach gibt es keine Untergrenze mehr.

Das Netto-Durchschnittsvermögen der Haushalte beträgt nach Berechnungen der Bundesbank 60.000 Euro. Bei einer Pensionsdauer von zwanzig und mehr Jahren reichen diese Reserven nicht zur Sicherung des Lebensstandards.

Die privaten Vorsorgeprodukte sind durch die niedrigen und negativen Zinsen unter Druck geraten. Jetzt wirkt nicht nur die Teuerung als Geldentwertung. Niedrige Zinsen schaffen keinen Ausgleich, Minuszinsen bedeuten eine zusätzliche Einbuße.

Und nicht zuletzt: Viele können sich aufgrund ihrer Einkommenssituation das Ansparen einer Zusatzpension nicht leisten.

Diese Elemente sind nur die offenkundigen Probleme. Dazu kommen strukturelle Schwächen, die die Problematik extrem verschärfen.

Die Zahl der aktiven Beitragszahler sinkt dramatisch

-        Die durchschnittliche Frau in Deutschland bekommt nur 1,4 Kinder. Somit schrumpft die Bevölkerung kontinuierlich. Auch die Zuwanderung kann dieses Phänomen nicht ausgleichen.

-        Der Anteil der 20- bis 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung, also jener Gruppe, die die Hauptlast der Wertschöpfung und somit auch der Finanzierung der Renten trägt, sinkt von 61 Prozent im Jahr 2013 auf 51 oder 52 Prozent im Jahr 2060. Jeder Bürger muss somit einen anderen erhalten.

-        Um die Kosten der Pensionen zu entschärfen wurde das Rentenantrittsalter mit 67 festgelegt. Dieser Zustand wird aber nur schrittweise erreicht, erst der Jahrgang 1964 geht mit 67 in den Ruhestand. Lange bevor noch dieses Ziel im Jahr 2031 in greifbare Nähe rückte, wurde 2013 die Möglichkeit geschaffen, nach 45 Beitragsjahren bereits mit 63 abschlagsfrei in Pension zu gehen.

-      Die heute 60jährigen Frauen haben eine weitere Lebenserwartung von 25, die Männer von 21 Jahren. Die lange Dauer bedeutet enorme Kosten, die die immer weniger werdenden Aktiven zu tragen haben.

-        Selbst bei einem Pensionsantritt mit 67 dauert die Rente bei Frauen immer noch im Schnitt 18 und bei Männern 14 Jahre.

Das Nulldefizit wird auf Kosten der Rentner erreicht

Der Umstand, dass die öffentlichen Renten nur etwa 50 Prozent der Aktivbezüge betragen, hat Konsequenzen. Schließlich liegen in sehr vielen Ländern die Ersatzraten bei 70 Prozent und mehr. Für Pensionen werden in Deutschland nur 10 Prozent der Wertschöpfung aufgewendet, in anderen Ländern wie etwa Österreich sind es 14 Prozent. Somit „sparen“ die Sozialversicherung, der Staat und die Beitragszahler mit dem Effekt, dass die Renten zu klein sind.

Und das bereits jetzt. Die Rentenbestandsstatistik 2015 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales weist den Auszahlungsbetrag der durchschnittlichen, gesetzlichen Rente mit 822,69 Euro aus. Somit haben Ältere generell Probleme. Es handelt sich um einen Durchschnittswert, sodass viele unter diesem Wert liegen. Und die Perspektive lautet: Es wird weniger.

Wenn die Bundesregierung den Umstand feiert, dass das Haushaltsbudget ausgeglichen ist, so erfolgt dies nicht zuletzt zulasten der Rentner. Damit nicht genug: Mit zunehmender Altersarmut wird sich der Staat nicht der Verpflichtung entziehen können, den Betroffenen zu helfen, womit die Kosten der Grundsicherung und folglich auch das Defizit explodieren müssen.

Die Kritik an der Riester-Rente richtet sich an die falsche Adresse

Angesichts dieser Perspektive ist es verständlich, wenn die Bundesregierung zur Eigenvorsorge aufruft. Diesen Weg hat Deutschland bereits mit dem Altersvermögensgesetz (AVmG) 2002 beschritten: Die nach dem damaligen, sozialdemokratischen Arbeitsminister Walter Riester benannte Riester-Rente soll für die Ergänzung der ungenügenden Renten aus dem staatlichen System sorgen.

Während die gesetzliche Rente aus den Beiträgen der jeweils aktiven Beitragszahler finanziert wird und somit auf dem Umlagen-System beruht, sind die verschiedenen Varianten der Riester-Rente kapitalgedeckt, stellen also eine Sparform dar, die im Alter für eine zusätzliche Rente sorgt. In der Sparphase wird die Rente über Zulagen und die Anerkennung als Sonderausgaben in der Einkommensteuer gefördert, die ausgezahlten Renten müssen regulär versteuert werden.

Durch die niedrigen und mittlerweile negativen Zinsen ist die Riester-Rente wie alle kapitalgedeckten Vorsorge-Formen in Schwierigkeiten geraten. Nun wird diese Einrichtung in Frage gestellt und insbesondere von linken Politikern der Ausbau des gesetzlichen Umlage-Verfahrens und die Zahlung von Staatszuschüssen verlangt.

Diese Reaktion ist zwar nachvollziehbar, weist aber in die falsche Richtung: Das Umlageverfahren kann nicht funktionieren, wenn die Zahl der Aktiven sinkt, die Zahl der Rentner steigt und diese zudem zwanzig und mehr Jahre die Pension genießen wollen. Somit bedarf es einer ergänzenden Altersvorsorge, die auf einem angesparten Vermögen beruht.

Dringender und hilfreicher als die Kritik an der Riester-Rente wäre eine Korrektur der Zinspolitik.

Die Staaten sind die Profiteure der Zinspolitik

Diese Forderung ist aber an die Adresse der Europäischen Zentralbank zu richten, die unbeirrt an der Niedrig- und Minuszinsenpolitik festhält. Als Begründung wird das Bemühen um die Belebung der Konjunktur angegeben, die aber nicht zustande kommt, weil durch die Regularien für das Bankwesen die Vergabe von Krediten gebremst wird und daher das billige Geld kaum in der Realwirtschaft ankommt. Tatsächlich nützt die Zinspolitik vor allem den Staaten, die mit den günstigen Finanzierungen die Budgets entlasten und die Defizite künstlich verringern.

Die Finanzminister sollten im Interesse der Sparer Zinsen einfordern, die den Aufbau einer Altersvorsorge ermöglichen. Nachdem aber die Finanzminister unter dem Druck der EU-Regeln stehen, die Budgetdefizite niedrig zu halten, bedeutet die Politik der EZB eine willkommene Entlastung.

Nicht zu übersehen ist, dass trotz der in Europa generell hohen Steuern und Abgaben und trotz der niedrigen oder negativen Zinsen die meisten Staaten – Deutschland ist da eine Ausnahme – hohe Defizite verzeichnen. Im Endeffekt stellen die niedrigen oder negativen Zinsen ein Art zusätzlicher Steuer dar: Die Vermögen der Sparer werden durch die Teuerung verringert, weil die niedrigen Zinsen nicht für eine Abgeltung sorgen, bei Minus-Zinsen kommt eine weitere Kürzung zustande.

Die klassische Lebens- und Rentenversicherung ist in Gefahr

Das Schicksal der Riester-Rente teilen alle kapitalgedeckten Vorsorge-Varianten. Besonders unter Druck ist allerdings die klassische Lebens- und Rentenversicherung:  Bei diesem entscheidenden Instrument der Altersvorsorge wirken zwei von der Politik zu verantwortende Phänomene als katastrophaler Doppelschlag – die Zinspolitik und das neue, Anfang 2016 in Kraft getretene Regelwerk Solvency II.

Die Wirkung der Zinspolitik:

  • Durch die niedrigen Zinsen sind die Lebensversicherungen nicht oder nur mehr beschränkt in der Lage, die traditionell im Publikum bevorzugte Garantien anzubieten: Man kann naturgemäß keine Verzinsung und somit kein gesichertes Kapital am Ende der Laufzeit des Vertrages oder eine bestimmte lebenslange Rente garantieren, wenn das angelegte Kapital gering oder gar nicht verzinst wird oder sogar durch Minus-Zinsen schrumpft.
  • Anleihen sind für die Lebensversicherungen besonders bedeutsam, weil sie eine kontinuierliche, vorweg definierte Verzinsung aufweisen.

Die Wirkung von Solvency II:

  • Lebensversicherungen können auch in Wertpapiere und in Immobilien investieren. Diese Alternativen werden aber durch Solvency II extrem erschwert, weil das Regelwerk hohe Kapitalunterlegungen vorschreibt: Bei Immobilien sind es 25 Prozent, bei Aktien sind unterschiedliche Sätze vorgesehen, man kann aber zur Orientierung eine Unterlegung im Ausmaß von 49 Prozent ansetzen. Das Kapital ist vorzuhalten, um eventuelle Wertverluste abzufangen.
  • Allerdings: Staatsanleihen sind in der Regel, vor allem wenn es sich um Euro-Anleihen von EU-Mitgliedern handelt, als risikolos eingestuft und müssen daher nicht mit Kapital unterlegt werden.

Die Finanzierung der Realwirtschaft wird mehrfach behindert

Die Lebensversicherungen sind große Kapitalsammelstellen und können daher eine entscheidende Rolle als Financiers spielen und so attraktive Erträge für die Altersvorsorge lukrieren. Könnten.

-        So würde ein verstärkter Einsatz im Wohnbau naheliegen, der aber durch die Kapitalvorschriften bei Immobilien behindert wird.

-        Ebenso sollten die Lebensversicherungen verstärkt die Realwirtschaft finanzieren. Dieser Weg wird wiederum durch die Kapitalregel bei Aktien behindert.

-        Die Versicherungen haben traditionell über Obligationen zur Refinanzierung der Kreditinstitute beigetragen und auf diese Weise die Mittel der Versicherten in die Realwirtschaft gelenkt. Durch Basel III und andere Regularien ist aber die Kreditvergabe durch die Banken gebremst.

-        Lebensversicherungen finanzieren traditionell keine Klein- und Mittelbetriebe, weil sie für die Betreuung dieser Gruppe keine personellen Ressourcen haben. Sie könnten allerdings Zertifikate oder Anleihen von Fonds kaufen, die eine Vielzahl mittelständischer Unternehmen finanzieren und durch die Bündelung eine attraktive Größe aufweisen. Diese Alternative ist durch zwei Faktoren behindert:

-        Erstens: Solvency II bremst durch Kapitalauflagen auch diesen Bereich.

-        Zweitens: Trotz umfangreicher Bemühungen und auch einiger Erfolge haben die entsprechenden Einrichtungen noch keine Dimension erreicht, die sie zu interessanten Adressen machen. Dieser Umstand ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die steuerlichen, gesellschaftsrechtlichen und börsentechnischen Voraussetzungen für einen Aufschwung der Mittelstandsfinanzierung außerhalb der unter Druck geratenen Kreditfinanzierung fehlen.

Somit ist für die Lebensversicherung nicht nur die Veranlagung in Anleihen unattraktiv, auch der Weg zur Realwirtschaft – zu den Immobilien, zu den Aktiengesellschaften und zur mittelständischen Wirtschaft – wird durch die Wirtschaftspolitik extrem behindert.

Für die Bürger sind also jene Altersvorsorge-Instrumente, die über Jahrzehnte als Fundamente gegolten haben – die gesetzliche Rente und die klassische Lebensversicherung – durch die Maßnahmen der jüngsten Vergangenheit in Frage gestellt worden. Alternativen sind oft nicht empfehlenswert, da nur wenige die erforderlichen Kenntnisse und Zeitreserven haben, um das zumeist gegebene Risiko zu managen.

30 Prozent der Arbeitnehmer haben keine Betriebsrente

Die Problematik scheint für eine große Gruppe der Bevölkerung entschärft zu sein: Etwa 60 Prozent der deutschen Arbeitnehmer – genaue Daten sind nicht verfügbar – haben Anspruch auf eine Betriebspension, mit den Riester-Renten sind es 70 Prozent.

Die Betriebsrenten bestehen überwiegend in Großunternehmen. Nun zeigt aber die aktuelle Entwicklung, dass diese keineswegs gegen Krisen gefeit sind. Hier sei nur auf die Banken verwiesen, die derzeit tausende Mitarbeiter abbauen und rigorose Sparmaßnahmen umsetzen. Da sind auch die im Bankwesen verbreiteten Betriebsrenten betroffen.

Die Forderungen der Mitarbeiter bestehen primär gegenüber den Unternehmen, die auch in der Lage sein müssen, diese Forderungen zu erfüllen. Durch die Auslagerung zu Pensionsfonds und Pensionskassen wird dieses Risiko verringert: Die Betriebe zahlen in diese Institutionen ein, die in der Folge die Renten abwickeln.

Allerdings sind die Pensionsfonds und Pensionskassen mit den gleichen Problemen konfrontiert, unter denen alle kapitalgedeckten Systeme derzeit leiden. Hilfreich ist, dass diese Einrichtungen nicht Solvency II unterliegen, daher weniger stark reguliert sind und sich daher auf dem Kapitalmarkt freier bewegen können.

Vor allem haben jedenfalls mindestens 30 Prozent der Beschäftigten keinen Anspruch auf eine Betriebsrente und sind daher uneingeschränkt von den geschilderten Problemen und von der Altersarmut bedroht.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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