Bei Amazon werden Versand- und Lagermitarbeiter durch Algorithmen entlassen. Laut eines Berichts des amerikanischen Technikportals „The Verge“ lässt der Online-Versandhändler die Leistungen seiner Beschäftigten minutiös elektronisch überwachen. Wer die Produktivitätsquote des genau durchgetakteten Arbeitsplans nicht erfüllt, beispielsweise nicht genügend Pakete aufs Band wuchtet, wird vom System erfasst und erhält anschließend automatisch entweder eine Abmahnung oder sogar die Kündigung. Das Eingreifen eines Vorgesetzten ist nicht notwendig, das System entscheidet autonom.
In einem Zeitraum von zwölf Monaten zwischen 2017 und 2018 sollen im Amazon-Logistik-Center in Baltimore (US-Bundesstaat Maryland) circa 300 Arbeiter aufgrund nicht erreichter Produktivitäts-Vorgaben entlassen worden sein. In dem Logistik-Center arbeiten rund 2.500 Menschen, das heißt, mehr als zehn Prozent der Belegschaft wird pro Jahr ausgetauscht. Insgesamt unterhält der Versandhandels-Riese (Jahresumsatz 2018: 232,9 Milliarden Euro/ derzeitiger Börsenwert: rund 800 Milliarden Euro/ Anzahl der Beschäftigten: knapp 650.000) in den USA 75 Logistik-Center, in denen circa 125.000 Menschen arbeiten. Amazon-Sprecher Stephan Eichenseher sagte den Deutschen Wirtschaftsnachrichten mit Blick auf die Vorwürfe, dass es sich nur um „ein Logistikzentrum in den USA“ handele, nicht um alle Logistik-Zentren in den USA. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass das System ausschließlich in Baltimore zum Einsatz kommt. Umgerechnet würde das bedeuten, dass jedes Jahr deutlich mehr als 12.000 Amazon-Mitarbeiter von Algorithmen entlassen werden.
Ans Licht gekommen sind die Vorgänge durch einen Rechtsstreit vorm „National Labor Relations Board“ (NLRB). Ein entlassener Arbeiter hatte die für arbeitsrechtliche Streitigkeiten zuständige US-Behörde angerufen und Amazon beschuldigt, ihn wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten gekündigt zu haben. Amazon wies den Vorwurf zurück mit der Behauptung, der Arbeiter habe seine Produktivitätsquote nicht erreicht. Als Beweis präsentierte das Unternehmen Details der elektronischen Überwachung.
Die Anforderungen, die Amazon an seine Beschäftigten stellt, gelten als äußerst hoch. So deckte ein britischer Undercover-Journalist auf, dass die Arbeiter eines Logistik-Centers in Rugeley (bei Birmingham) in Flaschen urinierten, weil ihnen der Arbeitstakt nicht erlaubte, zur Toilette zu gehen. Die amerikanische Amazon-Kritikerin Stacy Mitchell sagt: „Man hört immer wieder von den Arbeitern, dass sie genauso beaufsichtigt und überwacht werden wie Roboter. Und zwar von Robotern.“
Amazon-Sprecher Stephan Eichenseher sagte den Deutschen Wirtschaftsnachrichten: „Wie alle Unternehmen haben auch wir Erwartungen hinsichtlich der Leistung unserer Mitarbeiter - dies allerdings ausschließlich mit Blick auf die operative Planbarkeit der Einhaltung der Kundenversprechen. Bei uns werden Produktivitätsrichtwerte nach objektiven und realistischen Gesichtspunkten festgelegt und über längere Zeiträume evaluiert. Hierbei wird insbesondere auch die durchschnittliche Leistung der Belegschaft selbst berücksichtigt. Unsere Führungskräfte arbeiten eng mit ihren Mitarbeitern zusammen, um diese zu fördern und zu coachen. Wir arbeiten gemeinsam mit unseren Mitarbeitern ständig daran, unsere Prozesse zu verbessern und die Arbeitsabläufe zu optimieren, um als Team gemeinsam jeden Tag besser und effizienter zu werden.“
Deutschland ist der größte Markt für Amazon außerhalb der USA. 2018 betrug der Umsatz hier 17,4 Milliarden Euro (8,5 Prozent des gesamten Konzern-Umsatzes). In 13 Logistik-Zentren und der Landes-Zentrale in München arbeiten circa 18.000 Mitarbeiter. Auf die Frage der DWN, ob ein Algorithmus-System wie das oben beschriebene hierzulande genutzt wird, antwortete Amazon-Sprecher Stephan Eichenseher: „Ein solches oder ein ähnliches System ist in Europa oder in Deutschland nicht im Einsatz.“