Die Mittelklasse bzw. Mittelschicht war immer das lebende und kreative Herz jeder Gesellschaft. Gebildet, streb- und sparsam trieb sie den gesellschaftlichen Fortschritt an. Doch das war gestern. Seit einigen Jahren schrumpft sie in allen entwickelten Volkswirtschaften. Dieser Schrumpfprozess kommt von ihren Rändern, wo sie einerseits in erheblichem Umfang an die Unterklasse verliert, und andererseits von einem sehr viel kleineren Aufstieg in die Oberklasse. Er ist das Ergebnis einer immer ungleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen.
Außerdem führen steigende Unsicherheiten in der Arbeitswelt, von der auch die Mittelklasse betroffen ist, zu immer mehr Frustrationen und dämpfen so die Leistungsbereitschaft und damit den traditionellen Beitrag gerade dieser Gesellschaftsschicht zur weiteren Entwicklung. Nach einer neuen Umfrage unter mehr als 1300 Beschäftigten, die das Beratungsunternehmen Gallup vorgestellt hat, sind mit gerade einmal 16 % nur noch sehr wenige aller Arbeitnehmer bereit, sich freiwillig für die Ziele ihrer Firma einzusetzen. 67 % der Deutschen machen nur noch „Dienst nach Vorschrift“. Der Anteil der Arbeitnehmer, die sogar „innerlich gekündigt“ haben, liegt bereits bei 17 %. Die Mittelklasse dürfte an dieser Situation erheblichen Anteil haben.
Für Deutschland sind das DIW Berlin und die Universität Bremen dem Schrumpfen der Mittelklasse in einer Ende 2012 veröffentlichten Studie in Auswertung der jährlichen Befragung von etwa 20.000 Erwachsenen im Rahmen des sozioökonomischen Panels nachgegangen. Die Studie definiert die Mittelschichten innerhalb von insgesamt acht Einkommensgruppen als jene, die über 70 bis 150 % des sogenannten Medianeinkommens verfügen. Das Medianeinkommen teilt die Bevölkerung in zwei gleich große Hälften - in die Menschen mit einem höheren und die mit einem niedrigeren Einkommen. Zu den Mittelschichten gehörten damit Alleinstehende mit einem Monatseinkommen von 1.130 bis 2.420 Euro oder Familien mit zwei Kindern unter 18 und einem Budget von 2.370 bis 5.080 Euro.
Der Anteil der so definierten Mittelschichten an der Gesamtbevölkerung hat sich zwischen 1997 und 2010 also in nur 13 Jahren von 65,0 % auf 58,5 % oder um 5,5 Millionen auf 47,3 Millionen verringert. Besonders ausgeprägt ist dieser Rückgang in der unteren Hälfte der Einkommensmittelschichten, deren Anteil sogar um 15 % geringer ist. Andererseits haben die untersten Einkommensschichten unterhalb der Mittelschichten um knapp 4 Millionen Menschen zugenommen. Gleichzeitig ist die Top-Einkommensgruppe, die über mehr als 200 % des Medianeinkommens bezieht, um mehr als 500.000 Menschen angewachsen (Abb. 10044). Der Trend bei Unter- und Oberschicht zeigt damit nach oben, bei der Mittelschicht seit der Jahrtausendwende nach unten (Abb. 17368). Nur durch die (temporäre) Krisensituation ist der Anteils-Zuwachs der Oberschicht in den letzten Jahren vorübergehend zum Stillstand gekommen.
Nach dem Abstieg einer Person aus der Mittelschicht fällt es heute schwerer, wieder in höhere Einkommensschichten aufzusteigen. 70 % der unteren Einkommen finden sich nach drei Jahren immer noch in der gleichen Schicht wieder (2000: 67 %). Dazu die Studie:
„Der Polarisierung der Einkommensverteilung entspricht eine zunehmende Segmentierung der Gesellschaft in oben, Mitte und unten. Gemessen an den Reallöhnen, dem realen Haushaltsnettoeinkommen und dem Vermögen hat die Einkommensmittelschicht in Deutschland in den vergangenen Jahren zum Teil deutliche Einbußen erlitten“.
Die Schlussfolgerungen dieser beachtenswerten Studie, die immerhin von der Bertelsmann Stiftung finanziert wurde: Für Einkommensschwache werde es im Ergebnis schwieriger, gesellschaftlich aufzusteigen. Eine soziale Durchmischung der gesamten Gesellschaft finde immer weniger statt. Dort, wo noch sozialer Aufstieg gelinge, handele es sich um eine Absetzbewegung von wenigen aus der Mitte nach oben. Andererseits wachse die Mitte nicht mehr durch einen Zustrom aus unteren Einkommensschichten und nähmen Verharrungstendenzen zu. Obwohl die Einkommensmobilität insgesamt eher gering sei, seien die unteren Einkommen der Mittelschicht gefährdet, in einkommensschwache Bereiche abzurutschen. Generell überwiege die Abstiegs- gegenüber der Aufstiegsmobilität. Große materielle Sorgen machten sich heute in der Mittelschicht etwa 25 % (2000: noch 15 %). Zugleich sei der Anteil derer, die angeben, sich keine Sorgen zu machen, gesunken (2000: 37 %, 2010: 25 %). Dazu trage bei, dass mittlere Bildungsabschlüsse wie Ausbildung und Realschule ihre subjektiv wahrgenommene Schutzfunktion vor ökonomischen Risiken eingebüßt hätten.
In den letzten Jahren kommt mit der Eurokrise und den real niedrigen Zinsraten der EZB gerade in der Mittelschicht eine erhebliche Sorge hinzu, die für diese besonders wichtigen Ersparnisse zu verlieren.
Robert Reich, der von 1993 bis 1997 unter Bill Clinton Arbeitsminister der USA war und heute in Berkeley Professor für öffentliche Politik ist, hat sich im Januar dieses Jahres mit der Frage beschäftigt, warum es zu keinem Aufschrei der Mittelklasse in den USA kommt, obwohl dort der Schrumpfprozess besonders rasant fortschreitet. Er nennt drei wichtige Gründe, die weitgehend auch für Deutschland zutreffen. Erstens sei diese Klasse in Angst erstarrt, die Jobs und Einkommen zu verlieren, die sie noch hat. Etwas mehr als drei Viertel der amerikanischen Arbeitnehmer lebten von einer Gehaltszahlung zur nächsten. Keiner hätte mehr Jobsicherheit. Das Letzte, was sie mit Opposition gegen die Entwicklung riskieren wollten, wäre der Verlust dessen, was sie noch haben. Auch hätte der Schutz durch die Gewerkschaften nachgelassen. (Auch in Deutschland breiten sich die tarif- und damit gewerkschaftsfreien Räume immer weiter aus - Abb. 17018 - und wuchert ein gewerkschaftsferner Niedriglohnsektor.)
Zweitens würden auch Studenten keine Unruhe mehr verbreiten, die noch in früheren Jahrzehnten eine Hauptkraft für soziale Veränderungen waren. Die heutigen seien mit Schulden beladen und die Anfangsgehälter seien gegenüber früher stark gefallen. Auch die Arbeitsmärkte für Akademiker seien schwieriger geworden. Deshalb lebten immer mehr Studenten bei ihren Eltern (eine auch in Deutschland zu beobachtende Entwicklung). Reformer und Revolutionäre würden aber nicht bei Mama und Papa leben und sich Sorgen um ihre Beschäftigung machen.
Drittens nehme die amerikanische Bevölkerung eine so zynische Haltung gegenüber der Regierung ein, dass sie nicht mehr an die Möglichkeit von Reformen glaubte. Weniger als 20 % glaubten, dass die Regierung meist das Richtige täte. Vor 50 Jahren waren das noch drei Viertel. Unter solchen Umständen sei es schwierig, Menschen für gesellschaftliche Veränderungen zu gewinnen. (In Deutschland ist die Situation nicht viel besser, wie sich am Rückgang der Wahlbeteiligung von 91,1 % 1972 auf nur noch 71,5 % 2013 zeigt, Abb. 16009).
Reich kommt für die USA zu dem Ergebnis: Eines Tages wäre für die Menschen das Maß des Erduldens voll. Reform sei weniger riskant als Revolution. Doch je länger man mit der Reform warte, umso wahrscheinlicher werde die Revolution.
Die Medien spielen eine verhängnisvolle Rolle, indem sie den Absturz der Mittelklasse neoliberal verkleistern. Vielen Menschen fehlt daher noch das Bewusstsein ihres Abstiegs, zumal er sich in längeren Zeiträumen vollzieht und meist als persönliches Schicksal eingestuft wird und nicht als gesellschaftliche Entwicklung. Für Deutschland zeichnet Prof. Bernd Hamm in seinem Essay von 2007 „Medienmacht - wie und zu wessen Nutzen unser Bewusstsein gemacht wird“ die Entwicklung der Medien seit den 70er-Jahren nach. Sechs große Medienkonzerne beherrschen heute den Weltmarkt: AOL Time Warner, Disney, Vivendi, Viacom, Bertelsmann und die News Corporation. In Deutschland machen Springer, Bertelsmann, Holtzbrinck, Bauer und die WAZ-Gruppe den Großteil des Geschäfts. Die Zeit ist durch Helmut Schmidt, der Spiegel durch Stefan Aust auf neoliberal getrimmt worden. Zuletzt musste mit der Frankfurter Rundschau eine der letzten sozialkritisch eingestellten Zeitungen Insolvenz anmelden. Dazu passt auch der Wechsel von Aust in den Vorsitz von Springers Welt-Gruppe.
Hamm kommt zu dem Schluss, dass mit der zunehmenden Privatisierung und Kommerzialisierung der Medien die Selbstaufklärungsmechanismen der Gesellschaft in steigenden Maßen versagen: „Die Herrschaft des Kapitals über die Medien, weltweit ebenso wie bei uns, wird sich weiter perfektionieren. Da es kaum mehr Alternativen gibt, wird es auch zunehmend schwierig, sich die Informationen zu beschaffen, die für eine eigene kritische Meinungsbildung unerlässlich sind. Die Bewusstseins-Industrie hat ihr Ziel erreicht: Unsere Wahrnehmung der Dinge, unsere Meinungsbildung folgt einem industriell organisierten Prozess.“
Der einzige Lichtblick ist hier der Zuwachs kritischer Medien und Blogs im Internet.
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.