Politik

Unabhängige Studie: TTIP vernichtet Arbeitsplätze, erhöht Lohndruck

Eine unabhängige Studie hat ergeben, dass das TTIP anders als von der Bundesregierung behauptet, massiv Arbeitsplätze in Europa vernichten wird. Viele Jobs werden in das Billig-Segment abrutschen. Profitieren könnten dagegen die Kapitalvermögen.
10.10.2015 14:52
Lesezeit: 5 min

Die Arbeitnehmer in der EU werden die Verlierer des TTIP sein. Eine vom Global Delevopment and Environment Institute an der amerikanischen Tufts-Universität aktuell veröffentlichte Studie kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. In einem Working Paper beschreibt Jeronim Capaldo, dass das TTIP auf die EU-Staaten eine geradezu verheerende Wirkung haben dürfte. 600.000 Arbeitsplätze würden demnach bis 2025 verlorengehen. Das wären so viele wie in den Krisenjahren 2010 und 2011. Selbst wenn der Arbeitsplatz-Abbau über mehrere Jahre gestreckt ist, würde er zu gravierendenen sozialen Veränderungen in den heute noch vergleichsweise reichen EU-Staaten führen. Zum Vergleich: Die von Capaldo analysierte Studie der Bertelsmann-Stiftung kommt auf einen sagenhaften Zuwachs von 1,3 Millionen neuer Jobs allein in der EU, die das TTIP angeblich bringen soll.

Aufgeschlüsselt verliert Deutschland 134.000 Jobs, Frankreich 130.000 und Nordeuropa gar 223.000 Jobs.

Auch die Exporte würden Schaden nehmen, eine besonders für Deutschland gefährliche Entwicklung: Capaldo hat für Deutschland einen Rückgang der Exporte um 1,14 Prozent errechnet. Das ohnehin schon krisengeplagte Frankreich müsste einen Rückgang von 1,9 Prozent verkraften. Die Nordeuropäer verlieren gar 2,07 Prozent.

Dies hätte zur Folge, dass das Bruttoinlandprodukt (BIP) schrumpft: In Deutschland um 0,29 Prozent, in Frankreich um 0,48 Prozent, in Nordeuropa um 0,50 Prozent.

Dadurch würden auch die Steuereinnahmen sinken: In Deutschland minus 0,28 Prozent, Frankreich minus 0,64 Prozent, Nordeuropa 0,34 Prozent.

Außerdem würden die Netto-Haushaltseinkommen kleiner werden: In Deutschland um 3.402 Euro pro Jahr, in Frankreich um 5.518 Euro, in Nordeuropa würde die Arbeitnehmer 4.848 Euro pro Jahr verlieren.

Weniger schmerzhaft wären die Folgen für Südeuropa. Doch auch hier gibt es in allen Bereichen nur Verluste. Etwa 90.000 Jobs würden wegfallen, das Haushaltseinkommen würde um 165 Euro pro Jahr und Arbeitnehmer sinken. Der Grund dafür: Den Südeuropäern geht es heute bereits schlechter, die Exporte sind schwächer. Daher würde das TTIP eine Umverteilung in einem besondern Sinn bedeuten: Nordeuropa würde auf einen Kurs geschickt, den heute schon Südeuropa erlebt. Weil die Steuereinnahmen zurückgehen, würde auch die öffentliche Hand geschwächt: Austerität pur würde mit dem TTIP auch in Deutschland, den Niederlanden, Schweden, Finnland, Österreich und allen noch verschonten Ländern Einzug halten.

Die Umverteilung der Schwäche könnte ein Grund sein, warum Angela Merkel und die EU-Kommission so euphorisch über das TTIP sind: Sie würden auf diesem Weg einen weiteren Schritt in Richtung einer europäischen Integration vorankommen – nur eben ganz anders, als dies den EU-Bürgern bisher vorgeschwebt ist.

Ganz eindeutig profitieren die Amerikaner von dem TTIP: Alle Kennzahlen sind positiv: Anstieg der Exporte um 1,02 Prozent, BIP-Wachstum um 0,36 Prozent, 784.000 neue Jobs, 699 Euro mehr Haushaltseinkommen, etwa gleich viel Steuereinnahmen.

Doch auch in Europa gibt es eine Gruppe, die vom TTIP profitiert: Es sind die Kapitalvermögen – also die Börsen. Frankreich, Deutschland und auch der Rest Europas würden gewinnen. Je größer die Börsen, umso höher die Gewinne. Am meisten würden die Anleger in London profitieren. Dies ist besonders interessant, weil die normalen Arbeitnehmer Großbritanniens genauso viel verlieren würden wie im Rest Europas. Es wäre allerdings zu einfach zu sagen, dass diese Entwicklung nur den Spekulanten und Super-Reichen zugute käme, wiewohl diese überdurchschnittlich profitieren werden. Tatsächlich aber sehen die TTIP-Partner in einem neuerlichen Aufblasen der Börsen die einzige Chance, die Rentner in den westlichen Staaten über Wasser zu halten. Die meisten Pensionsfonds sind an den Börsen investiert und von einem Anstieg der Kurse abhängig – nicht zuletzt wegen der umfassenden Gelddruck-Politik der Zentralbanken, die alle Anleger mit der Null-Zins-Politik in die Kapitalmärkte getrieben haben.

In dieser Hinsicht wirkt das TTIP wie ein verzweifelter Versuch, die größte Gruppe der Wähler, nämlich die Rentner, bei Laune zu halten. Die Rechnung bezahlen die Jungen und die Arbeiter.

Der Grund für diese Entwicklung liegt laut Studie in der durch das TTIP beschleunigten Globalisierung: Die Nordeuropäer würden unter gewaltigen Lohndruck geraten – vor allem bei nicht qualifizierten Jobs. Die begonnenen Währungskriege haben dazu geführt, dass alle Staaten der Welt versuchen, ihren Anteil am Welthandel durch Abwertungen zu erhöhen. Dadurch aber würde gerade in Europa die Binnennachfrage geschwächt – mit den bekannten Wirkungen auf die Kaufkraft der Bürger.

Der Grund, warum Capaldo zu so ganz anderen Ergebnissen kommt als die bisher bekannten Jubel-Studien, ist verblüffend einfach: Die offiziellen Studien beziehen ihr Datenmaterial auf die Zeit bis zum Jahr 2010 – also bevor die Krise in Europa richtig ausgebrochen war. Außerdem verwenden sie eine sehr einseitige, mechanistische Methode der Weltbank (Computable General Equilibrium, CGE), während Capaldo eine an den UN-Berechnungen orientierte Methode einsetzt (United Nations Global Policy Model, GPM). Das Wesen dieser Methode bezieht ein Phänomen ein, welches die Euro-Staaten im Zuge der Euro-Krise schmerzhaft erfahren mussten: Das reine Herunterfahren von Kosten in der Form, dass die Arbeitnehmer weniger verdienen, führt zur Umverteilung zugunsten der Super-Reichen. Vor allem aber berücksichtigt diese Methode die regionalen Unterschiede beim Handel und tut nicht so, also würde sich jeder Verlust anderswo automatisch als Zuwachs auswirken.

Die Studie von Jeronim Capaldo ist in dieser Hinsicht die erste wirklich aussagekräftige Prognose über die zu erwartenden Auswirkungen des TTIP. Das Problem für mittelständische Unternehmen und Arbeitnehmer in der EU liegt nun darin, dass seit 2009 Freihandelsabkommen von der EU-Kommission verhandelt werden. Die nationalen Parlamente haben keinerlei Mitwirkungsmöglichkeiten. Das EU-Parlament muss dem Abkommen zwar zustimmen. In der Regel sind die meisten Abgeordneten jedoch mit aus ihrer Sicht wichtigeren Dingen beschäftigt und haben weder Zeit noch Sachverstand, um zu beurteilen, was sie gerade beschließen.

In dieser Hinsicht ist die Diskussion um den sogenannten „Investorenschutz“ eine höchst gefährliche Ablenkung: Denn der gehört gar nicht in ein Freihandelsabkommen, sondern ist schon längst Standard im internationalen Recht. So verlegt etwa die staatliche deutsche Lobbygruppe Germany Trade and Invest (GTAI) seit Jahren eine Broschüre, in der den ausländischen Investoren erklärt wird, wie die Schiedsgerichtsbarkeit funktioniert. Das Papier, mit dem Alternativen zur ordentlichen Gerichtsbarkeit aufgezeigt werden, trägt den Titel: „Hilfe, ich werde enteignet! Abkommen schützen Auslandsinvestitionen“. In der Broschüre heißt es:

„Investitionsschutzabkommen sowie Investitionsverträge mit Schiedsklauseln zugunsten internationaler Schiedsgerichte eröffnen Rechtsschutzmöglichkeiten, die unabhängig von den Rahmenbedingungen in dem jeweiligen Gaststaat bestehen und seiner Einflussnahme entzogen sind.“

Zwar ist das Papier ein Ratgeber für deutsche Unternehmen gedacht, die im Ausland investieren wollen. Es beschreibt jedoch im Detail, wie der Investorenschutz im internationalen Recht geregelt ist - also auch in Deutschland. Er ist übliche Praxis, und das mit gutem Grund, wenn man an die Willkür der Staaten und deren Neigung zum Rechtsbruch denkt. Doch mit dem Freihandel haben die Schiedsgerichte nicht das Mindeste zu tun, weil sie heute schon weit verbreitet im Einsatz sind. Ein TTIP ohne ein Kapitel Investitionsschutz verliert nichts von seiner Schärfe. Die wirklichen Gefahren liegen, wie die Studie zeigt, ganz woanders.

Man kann angesichts der ernüchternden Fakten, die das TTIP für die Arbeitnehmer und die kleinen und mittleren Unternehmen bringen dürfte – ein Verlust von 583.000 Arbeitsplätzen in der EU – den Verdacht nicht von der Hand weisen, dass die öffentliche Debatte um die Schiedsgerichte ein veritables Ablenkungsmanöver ist: Der Investorenschutz kann leicht aus dem TTIP herausgenommen werden. Dies kann den Bürgern als großer Erfolg der heldenhaften Kämpfer Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Jean-Claude Juncker verkauft werden.

Zudem kann, wie bereits geschehen, den Bürgern versichert werden, dass sie keine Chlorhühner und keinen Genmais essen müssen.

Dass am Ende die EU-Arbeitnehmer in vielen Segmenten zu Billig-Löhnern werden und sich sogar noch glücklich schätzen werden, weil sie überhaupt einen Job haben, ist die eigentliche Konsequenz des TTIP.

Es ist nicht verwunderlich, dass bis zum heutigen Tage keine Regierung zu diesem Thema Farbe bekannt hat, sondern alles daransetzt, das TTIP mit Parolen wie „wir müssen in der Welt bestehen“ oder „endlich können wir mit den USA konkurrieren“ als Rettung des Abendlandes zu verkaufen suchen.

Die neue Studie der Tufts-Universität belegt: Das Gegenteil ist wahr. Europa wird einen gewaltigen Preis bezahlen, wenn das TTIP zustandekommt. Die verantwortlichen Politiker wissen das ganz genau und versuchen deshalb, Petitionen gegen das TTIP zu unterdrücken und die Verhandlungen unter strengster Geheimhaltung durchzuziehen. EU-Kommissar Günther Oettinger hat die TTIP-Gegner sogar ganz offen verspottet. 

Die bisher von der EU herausgegebenen Studien lassen das geplante Freihandelsabkommen TTIP als reinen Segen für Europa erscheinen. Entsprechend trommeln die Verfechter für das TTIP für seine rasche Verhandlung: Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo, sagte am Mittwoch bei der Transatlantischen Wirtschaftskonferenz in Frankfurt: „TTIP ist ein kostenloses Konjunkturprogramm.“ John B. Emerson, US-Botschafter in Deutschland, sagte, TTIP könne sogar für den gemeinsamen Wohlstand im 21. Jahrhundert so wichtig sein wie es die NATO in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die gemeinsame Sicherheit war.

Die EU-Kommission behauptet:

„Einem unabhängigen Bericht zufolge könnte ein ambitioniertes Abkommen Unternehmen Ersparnisse in Millionenhöhe bescheren und hunderttausende neue Arbeitsplätze kreieren. Nach vollständiger Umsetzung dieses Abkommens wird ein jährliches Wirtschaftswachstum von 0,5% BIP (oder €120 Milliarden auf Jahresbasis) und damit ein jährliches Zusatzeinkommen von €545 für den durchschnittlichen EU-Haushalt erwartet.“

Auf der zweiten Seite der Studie legt die EU-Kommission allerdings unfreiwillig offen, dass die Untersuchung mitnichten ein „unabhängiger Bericht“ ist, sondern dass die EU-Kommission der „Kunde“ ist und somit die Studie bezahlt hat.

Ein Interview mit dem Autor der Studie hier.

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