Politik

Ein Volksfeind in Zürich: Die Diktatur der Opportunisten

Das Schauspielhaus Zürich hat Ibsens „Volksfeind“ in die Gegenwart versetzt. Die Modernisierung beruhigt: Der Opportunismus als Gesellschaftsform ist keine Erfindung des Internet-Zeitalters, sondern so alt wie die Menschheit selbst. Der Einzelkämpfer ist der Held in dieser Gesellschaft, auch wenn er nach außen wie ein Wahnsinniger erscheint.
26.05.2016 08:11
Lesezeit: 2 min
Ein Volksfeind in Zürich: Die Diktatur der Opportunisten
Der Einzelne gegen die Masse: Markus Scheumann und Isabelle Menke in Ibsens „Ein Volksfeind“, Schauspielhaus Zürich. (Foto: Schauspielhaus Zürich)

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Das Schauspielhaus Zürich hat den deutschen Science-Fiction-Autor Dietmar Dath mit dem Regisseur Stefan Pucher zusammengespannt, um Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“ in die Gegenwart zu übertragen. Beim Berliner Theatertreffen wurde die Aufführung stürmisch gefeiert – und das zu Recht. Es ist Dath und Pucher gelungen, den Kern von Ibsen völlig unverfälscht zu belassen, die Handlung jedoch in die Gegenwart so zu versetzen. Der Zuseher wird nicht mit antiquiertem Sprechtheater gelangweilt wird und doch auch nicht mit einer modischen Verzerrung verärgert. Besonders bemerkenswert: Es gelingt den Künstlern, die Wirtschaft nicht als etwas Fremdes darzustellen, sondern als treibende Kraft hinter allen gesellschaftlichen Prozessen. Dies geschieht bei Dath/Pucher auf angenehme Art nicht als Zerrbild eines plumpen Klassenkampfes. Ibsen hatte erkannt, dass das System moralisch zerfällt, wenn möglichst viele vom Profit profitieren. Die Inszenierung in Zürich zeigt, dass die Wirtschaft die Welt im Innersten zusammenhält. Oder aber, wenn sie keine Skrupel mehr kennt, die ganze Gesellschaft zersetzten kann.

Dath/Pucher ersetzen die Gerberei von Ibsen mit einem Fracking-Konzern und die Zeitung, die Alarm schlagen soll, dann jedoch wie alle Beteiligten aus wirtschaftlichen Interessen korrumpiert wird, durch einen Blog. Viele Dialoge finden über das Handy statt und nicht am gedeckten Tisch. Keine dieser Modernisierungen verdrängt jedoch den Grundgedanken Ibsens: Dass nämlich der Einzelne recht haben kann und die Masse leicht zu manipulieren ist – und sich daher auch gerne irrt.

Bei Dath und Pucher erscheint der Held, Doktor Tomas Stockmann, wie bei Ibsen als verrückt, weil er mit seiner für die Gesellschaft äußerst unangenehmen Erkenntnis nicht durchdringt. Stockmann hat mit wissenschaftlicher Forschung aufgedeckt, dass das Fracking der kleinen Gemeinde den Boden unter den Füßen wegzieht, weil es die Umwelt zerstört. Doch der religiöse Glaube an den Profit ist stärker als die Vernunft: Vor die Wahl gesellt, eine „unbequeme Wahrheit“ zu akzeptieren und radikal zu handeln oder weiter vom unmoralischen Angebot zu saugen, kippt die Demokratie zur Diktatur der Opportunisten.

Jeder ist sich selbst der nächste, und in diesem asozialen Öko-System rennen alle gemeinsam in den Untergang. Stockmann wird vom umjubelten Volksfreund zum Volksfeind, der alles verliert. Er ist trotzdem der Sieger, das spüren alle, auch die Zuschauer in Berlin und Zürich, die vom brillanten Markus Scheumann mit hoher Improvisationskunst in seinen Bann gezogen werden. Robert Hunger-Bühler als dämonisch-pragmatischer Antipode ist spricht dem Zuseher trotzdem aus der Seele, weil bei dieser meisterhaften Aufführung jedem klar wird, dass es eben zwei Seelen sind, die in unserer Brust gegeneinander kämpfen.

Dem Schauspielhaus Zürich gelingt es auf ziemlich einmalige Weise, die Überlegenheit des Theaters als moralischer Anstalt zu zeigen. Die modernen Technologien werden lakonisch eingesetzt. Das Medium wird nicht zu Botschaft. Die vielen Medien, die auch poetisch und ästhetisch eingesetzt werden, dienen dazu, Ibsen zu einem Zeitgenossen zu machen.

Darin liegt etwas durchaus Tröstliches: Wir sehen, dass die Probleme der Moderne im Kern dieselben sind wie jene, mit denen sich schon Generationen vor uns herumgeschlagen haben. Also sind auch Lösungen nicht ausgeschlossen. Wir sehen auch, dass die Unmittelbarkeit des Theaters den diffusen Bildschirmrealitäten überlegen ist. So werden die Zuschauer Teil der Handlung, und das nicht nur äußerlich. Erreicht wird die Verschmelzung der Epochen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – durch höchste Kunstfertigkeit. Die zeitlosen Zeitgenossen sind die Protagonisten von Wirtschaft und Gesellschaft – sie ändern sich nicht. Radikaler kann man die Realität nicht verklären. Nur so jedoch kann man sie verstehen – und verändern.

Es gibt noch eine letzte Aufführung am Freitag, den 27. Mai, im Rahmen des Schweizer Theatertreffens in Genf. Der Besuch ist dringend empfohlen.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Panorama
Panorama Mutterschutz, Veteranen, Strom - was sich im Juni ändert
15.05.2025

Während mit dem Sommer auch die Urlaubszeit beginnt, gilt für Besitzer von Wohnwagen und Wohnmobilen bald eine neue Pflicht – und...

DWN
Politik
Politik Rüstungsskandal bei der Nato: Verdacht auf Bestechung und Geldwäsche – Behörden ermitteln gegen Nato-Mitarbeiter
15.05.2025

Über die Nato-Beschaffungsagentur NSPA werden Waffensysteme und Munition im Milliardenwert eingekauft. Nun gibt es den Verdacht, auf...

DWN
Politik
Politik Ukraine-Gespräche in Istanbul: Nach neuem Sanktionspaket der EU - Putin kommt nicht
15.05.2025

Russlands Präsident Putin bleibt selbst den Friedensgesprächen in Istanbul fern. Was steckt hinter Putins demonstrativem Fernbleiben? Ein...

DWN
Finanzen
Finanzen Bargeldlos um jeden Preis: Ist Schweden Vorbild oder Extremfall?
15.05.2025

Schweden hat sich in den vergangenen Jahren zu einem nahezu bargeldlosen Land entwickelt. Seit 2007 hat sich der Bargeldbezug im Land...

DWN
Finanzen
Finanzen Unser neues Magazin ist da: Alternative Investments – unverzichtbar, chancenreich und doch kein Allheilmittel
15.05.2025

Die Weltwirtschaft befindet sich im Umbruch: Globale Krisen, politische Polarisierung, Inflationsdruck und regulatorische Verwerfungen...

DWN
Politik
Politik Europa will Verteidigungspakt – aber Frankreich kämpft um Fische
15.05.2025

Am 19. Mai treffen sich erstmals seit dem Brexit die Spitzen der EU und Großbritanniens zu einem hochrangigen Gipfel in London. Ziel ist...

DWN
Finanzen
Finanzen Daimler Truck-Aktie trotz Prognosesenkung an DAX-Spitze: Lkw-Bauer wehrt sich erfolgreich gegen US-Zölle
14.05.2025

Die Daimler Truck-Aktie trotzt schlechten Nachrichten, überrascht Anleger – doch bleibt der Aufwärtstrend stabil? Zwischen US-Zöllen,...

DWN
Politik
Politik Trumps Arznei-Schock: USA wollen Europas Medikamentenpreise diktieren
14.05.2025

US-Präsident Donald Trump kündigt einen Preissturz bei Arzneimitteln um bis zu 90 Prozent an – doch der Widerstand wächst, auch aus...