Am 5. Dezember wird sich der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des EU-Parlaments (LIBE) abschließend mit einer EU-Richtlinie beschäftigen, die geeignet ist, die bürgerlichen Freiheiten in der EU in bisher nicht bekannter Weise zu beschränken. Die Richtlinie ist nicht weit von den von der EU heftig kritisierten Anti-Terror-Gesetzen der Türkei entfernt.
Die Richtlinie enthält Regeln, die dazu genutzt werden könnten, die freie Meinungsäußerung drastisch zu beschneiden, analysiert der EUObserver. Die Richtlinie zur Bekämpfung des Terrorismus, die am 30. November von den EU-Staaten auf der politischen Ebene gebilligt wurde, wird von Menschenrechtsaktivisten wegen ihrer vagen Definition des Terrorismus scharf kritisiert. Der Gesetzentwurf lehnt sich stark an die jüngsten Gesetze in Frankreich an, die es den Behörden ermöglichen, von Internetfirmen ohne gerichtlichen Beschluss die Blockade von Webseiten, die den Terrorismus „verherrlichen“, zu verlangen. Doch diese Maßnahmen haben bereits zu einer Reihe von Peinlichkeiten und Fehlern geführt. Der französische Telekom-Konzern Orange schaltete im Oktober Google und Wikipedia für einen ganzen Vormittag ab. Beide Internetanbieter wurden auf die Terror-Überwachungsliste von Orange aufgenommen. Die Internet-Nutzer, die auf den verdächtigen Webseiten waren, wurden auf eine Webseite des französischen Innenministeriums umgeleitet, wo ihre IP-Adressen gespeichert wurden. Eine strafrechtliche Verfolgung ist in derartigen Fällen nicht ausgeschlossen.
Nach Angaben von Human Rights Watch gewährt die EU-Richtlinie den Regierungen viel zu viel Spielraum, um die Richtlinie missbrauchen zu können. Eine weitere Sorge ist, dass eine Ansammlung von vorbereitenden Handlungen, die entweder eine minimale oder keine Verbindung zum Terrorismus haben, kriminalisiert wird. Das Gesetz kann sehr weit ausgelegt werden und zu einer Verletzung von Bürgerrechten führen, so Human Rights Watch.
Tatsächlich geht die Richtlinie (finale Fassung) von einer extrem weiten Definition aus. Sie lautet:
"Diese Richtlinie enthält eine Reihe schwerer Verbrechen wie Angriffe auf das Leben einer Person als vorsätzliche Handlungen, die als terroristische Straftaten qualifiziert werden können, wenn und soweit ein bestimmtes terroristisches Ziel verfolgt wird, zum Beispiel eine Bevölkerung ernsthaft einzuschüchtern oder unrechtmäßig eine Regierung oder internationale Organisation zu zwingen, eine Handlung durchzuführen oder zu unterlassen oder die grundlegenden politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören. Die Bedrohung, solche vorsätzlichen Handlungen zu begehen, sollte auch als terroristische Straftat angesehen werden, wenn sie auf der Grundlage objektiver Umstände festgestellt wird, die mit einem solchen terroristischen Ziel begangen wurden. Im Gegensatz dazu gelten Handlungen, die zum Beispiel eine Regierung unter Druck setzen, ohne jedoch die Tatbestände der umfassenden Liste der schweren Verbrechen zu erfüllen, nicht als terroristische Straftaten im Sinne dieser Richtlinie."
Damit ist im Grunde gesagt, dass jeder, der "einschüchtern" will oder massive Kritik an den wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen äußert, als Terrorist qualifiziert werden kann. Je nachdem, ob eine Regierung rechts oder links orientiert ist, kann sie den Begriff des Terrorismus im Grunde nach Belieben anwenden. Vor allem kann mit der Richtlinie das Demonstrationsrecht beliebig eingeschränkt werden. Dies kann vor dem Hintergrund des globalen Lohndumpings als eine vorbeugende Maßnahme gesehen werden, um den Arbeitnehmern massiven öffentlichen Protest gegen die Beschneidung ihrer Rechte zu verwehren.
Der letzte Absatz bezieht sich offenkundig auf Oppositionsparteien, die nicht ganz so einfach als Terroristen eingestuft werden können. Das NGO-Bündnis EDRi merkt zwar positiv an, dass anerkannte Hilfsorganisationen zwar von der Terror-Definition ausgenommen sind, nicht jedoch Einzelpersonen. Außerdem kritisiert das Bündnis, dass die weitreichende Richtlinie faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert wurde:
Die NGOs warnen, "dass die übermäßig breite Definition in der neuen EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Terrorismus zur Kriminalisierung öffentlicher Proteste und anderer friedlicher Handlungen, zur Unterdrückung der durch das Völkerrecht geschützten Ausübung der Meinungsfreiheit einschließlich des Ausdrucks abweichender politischer Ansichten und anderer ungerechtfertigte Beschränkungen der Menschenrechte führen könnte".
Die Gruppen kritisieren, dass das Gesetzgebungsverfahren für die Annahme dieser Richtlinie Transparenz und Chance für kritische Debatten fehlte. Es gab keine Folgenabschätzung des Vorschlags, die Verhandlungen seien ohne parlamentarische Überprüfung des Textes erfolgt und der Vorschlag sei hinter verschlossenen Türen und ohne sinnvolle Konsultation der Zivilgesellschaft verhandelt worden.
Die erste unmittelbare Konsequenz dürfte sich im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit zeigen. So ist mit der neuen Richtlinie die Blockade von Websites über einen einfachen Verwaltungsakt möglich, wenn eine Regierung feststellt, dass eine Website die politischen und wirtschaftlichen Realitäten in einem Land "destabilisiert". Des "Terrorismus" machen sich dann nicht nur die Betreiber der Website schuldig, sondern auch die Besucher einer solchen Seite. Der Zweck dieser Maßnahme dürfte weniger in der Tatsache bestehen, dass die Regierung Website-Besucher wirklich einzeln verfolgt. Allerdings sollen die Konsumenten präventiv eingeschüchtert werden, um sie vom Besuch kritischer Websites abzuhalten.
In den vergangenen Tagen hatten sich sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel und Justizminister Heiko Maas dafür eingesetzt, Inhalte im Internet zu regulieren. Damit sollen "Falschmeldungen" unterbunden werden. Noch fehlen die Kriterien der Bundesregierung, wann sie eine Meldung als Falschmeldung klassifiziert. Die neue EU-Richtlinie bietet Anhaltspunkte, nach welchen Kriterien eine Regierung vorgehen könnte. Die Richtlinie hat für nationale Regierungen außerdem den Vorteil, dass die Schuld auf die EU geschoben werden kann, sollte es zu Protesten aus der Bevölkerung kommen.
Adrienne Charmet, Sprecherin von La Quadrature du Net, einer in Paris ansässigen NGO für digitale Rechte, kritisiert, dass es kein Rechtsmittel gegen die Blockade von Websiten gibt. „Sobald wir anfangen, diese Art der Blockade zu akzeptieren, ist es schwierig zu verhindern, dass sie auch auf andere Bereiche erweitert wird“, sagte Charmet dem EUObserver. So wurde das Facebook-Konto von David Thomson, eines Journalisten, der sich mit dem Thema Dschihadismus befasst, mehrmals geblockt. Frankreich hatte im Juni ein Gesetz verabschiedet, das alleine schon den Besuch von „terroristischen Webseiten“ als Verbrechen einstuft. In Frankreich wurden deshalb bereits 20 Menschen inhaftiert. „Das Gesetz wird dazu verwendet, Einzelpersonen festzunehmen oder einzusperren, ohne dass ein Beweis dafür vorliegt, dass sie radikalisiert wurden oder gefährlich sind (…) Ist man denn schon ein Terrorist, wenn man eine Webseite besucht?", fragt Charmet laut EUObserver.
Die neueste EU-Richtlinie zur Bekämpfung des Terrorismus enthält ähnliche Bestimmungen wie in Frankreich. Internetfirmen werden beauftragt, auf freiwilliger Basis Inhalte auf Anfrage der Polizei zu löschen. Doch Kritiker sind der Ansicht, dass die Betonung der „Freiwilligkeit“ lediglich dazu dient, die geltenden Menschenrechtsgesetze zu umgehen. „Es legitimiert Konzepte, die auf Blockade begründet sind, als akzeptable Strategie – obwohl es keine verbindliche Vereinbarung darüber gibt, die festlegt, was das ,Blocken‘ ist. Es legitimiert die Vorstellung, dass dies außerhalb des gesetzlichen Rahmens auf freiwilliger Basis von den Internet-Unternehmen getan werden kann“, sagte Joe McNamee, Geschäftsführer der Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi) dem EUObserver.
Der vollständige Text des Gesetzentwurfs muss noch veröffentlicht werden, da er noch im Dezember vom EU-Parlament verabschiedet werden muss. Allerdings wurde mittlerweile eine Erwägungsgrund in den Gesetzestext eingefügt, um die Belastung für die Internetfirmen zu lindern. Demnach dürfen Internetfirmen für terroristische Inhalte, die ihnen nicht bekannt sind, nicht verantwortlich gemacht werden. Ferner sollen die Internetfirmen nicht dazu aufgefordert werden, proaktiv etwas zu blockieren, das nur wie Terrorismus aussehen könnte.
Im vergangenen Jahr hat Google 92 Millionen Videos im Zusammenhang mit Terrorismus und Hass-Propaganda gelöscht. Allerdings entspricht dies lediglich nur einem Prozent von allen Inhalten, die im vergangenen Jahr von Google gelöscht wurden. Der Terrorismus wird derzeit im Kontext mit der Bekämpfung dem IS genannt. Doch in den kommenden zehn Jahren dürfte die Definition des Terrorismus verändert und weiterentwickelt werden.
Marloes van Noorloos, stellvertretender Professor für Strafrecht an der Universität Tilburg in den Niederlanden, sagte dem EUObserver, dass im Rahmen der EU-Richtlinie „jede verherrlichende Bemerkung über Nelson Mandela oder Che Guevara grundsätzlich ein Teil der Definition sein kann“.