Politik

Großbritannien wird dem langen Arm des EuGH nicht entkommen

Die Briten müssen sich darauf einstellen, in wichtigen Bereichen weiter unter der Jurisdiktion des EuGH zu stehen. Dies dürfte eine herbe Enttäuschung sein, weil die Brexit-Leute den Briten genau das Gegenteil versprochen hatten.
30.03.2017 01:30
Lesezeit: 4 min

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Der Economist kommt in einer interessanten Analyse zu dem Ergebnis, dass Großbritannien trotz des EU-Austritts in einigen Bereiche weiter unter der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird agieren müssen:

Der europäische Gerichtshof in Luxemburg ist ein stattlicher Ort, welcher von Richtern in Amtsroben und fleißigen Assistenten frequentiert wird. An den Wänden hängen Kunstwerke, auf denen juristische Sprüche dargestellt sind. Es ist ein unwahrscheinlicher Ort für einen Staatsstreich. Aber laut Eric Stein, einem amerikanischen Akademiker, ist genau das hier passiert. Laut Stein hat der europäische Gerichtshof, versteckt in dem Märchenland Großherzogtum Luxemburg, eine Art europäische verfassungsrechtliche Struktur geschaffen. Diese Aussage ist insbesondere bei den vielen Kritikern des Gerichtshofes auf offene Ohren gestoßen. Insbesondere die britischen Euroskeptiker kritisieren den europäischen Gerichtshof als einen politisches Projekt, welches sich hinter juristischen Obskurantismus versteckt und dabei eine große Gefahr für die historische Souveränität ihrer Gerichte und Parlamentarier darstellt.

Nachdem Großbritannien für einen Austritt aus der EU gestimmt hat, rangiert die Befreiung von den Ketten von Luxemburg nur knapp an zweiter Stelle hinter strengeren Einwanderungskontrollen auf der Liste der Befürworter des Austritts. Das erklärt wiederum warum Theresa May, die Premierministerin welche mit den Verhandlungen für den Austritt von Großbritannien betraut wurde, versprochen hat, dass sie ihr Land aus der Jurisdiktion des europäischen Gerichtshofes herausholen wird. So sagte sie kürzlich: „Wir werden die EU nicht wirklich verlassen haben, wenn wir nicht unsere eigene Gesetze kontrollieren“.

Das klingt eigentlich ganz einfach. Der europäische Gerichtshof ist das Gericht der EU. Aus dem Club auszutreten, bedeutet also automatisch auch, nicht länger im Zuständigkeitsbereich des europäischen Gerichtshofes zu sein. Wenn man sich allerdings eine andere wichtige Priorität von Frau May ansieht, nämlich, den größtmöglichen Zugang zum Binnenmarkt der EU zu behalten, dann erscheint die britische Situation auf einmal eher wie ein Dilemma.

Um die Problematik zu verstehen, muss man sich ansehen, welche Arbeit das Gericht tatsächlich verrichtet. Kritiker des Gerichtshofes berufen sich oft auf einige Urteile in den neunziger Jahren, welche das Recht von Europäern, auswärts zu leben und zu arbeiten, ausweiteten. Im Gegensatz dazu beschränkte das Gericht erst kürzlich das Recht von bestimmten EU Migranten, Sozialhilfe zu erhalten. Kritiker des Gerichtshofes haben auch besorgt zugesehen, wie die EU-Verträge nach und nach die Verantwortung des Gerichtshofes ausgeweitet haben. So wurde die Charter der Grundrechte seit 2009 in einigen Datenschutzfällen angewandt, um es Einzelpersonen zu erlauben, Suchmaschinen dazu zu bringen, Links zu peinlichen oder diffamierenden Webseiten zu löschen. In den kommenden Wochen werden weitere signifikante Entscheidungen erwartet, wie zum Beispiel bezüglich humanitären Arbeitserlaubnissen, religiöse Kopfbedeckungen am Arbeitsplatz sowie EU-Sanktionen auf russische Ölkonzerne.

Weniger bekannt sind regelmäßige Urteile des europäischen Gerichtshofes welche den Binnenmarkt der EU am Leben erhalten, insbesondere auch das Recht, freien Handel innerhalb der EU zu betreiben. Zum Beispiel geht es bei einem dieser Fälle, dem bei Studenten des EU-Rechts beliebten Van Gend en Loos-Fall, um ein holländisches Transportunternehmen, von welchem entgegen EU-Recht verlangt wurde, auf Importe aus Westdeutschland Zölle zu zahlen. Bei einem späteren Fall wurde Westdeutschland dazu ermahnt, französischen Schwarzbeerlikör als solchen vermarkten zu lassen. Auch wenn diese Fälle nicht unbedingt jedem Ottonormalverbraucher zu jeder Zeit auf der Zunge liegen, haben sie letztendlich dazu beigetragen den Binnenmarkt zu erschaffen. Mindestens genauso wie die dazugehörigen Gesetze oder Staatsverträge.

Der Binnenmarkt ist von solch einer Wichtigkeit, dass die Entscheidungen des europäischen Gerichtshofes sogar weit über die EU Grenzen hinaus von Bedeutung sind. So unterliegen Norwegen, Island und Liechtenstein, die drei Nicht-EU-Mitglieder der europäischen Wirtschaftszone (EEA), den Entscheidungen das EFTA Gerichtes, welches wiederum den Entscheidungen des europäischen Gerichtshofs folgt. Obwohl das Schweizer Recht nominell unabhängig ist, folgen die Schweizer Gerichte in der Praxis dem europäischen Gerichtshof, weil die Schweiz tief in den EU-Märkten verankert ist. Die Schweizer Wähler murren regelmäßig über den Einfluss von „ausländischen Richtern“. Aber keine Schweizer Regierung hat bislang etwas gegen diesen Einfluss getan.

Was bedeutet all dies für den Austritt Großbritanniens? Alles hängt davon ab, welche Art von Handelsabkommen Frau May mit der EU abschließt, aber im Prinzip bedeutet alles außer Autarkie, dass das Land nie wirklich frei von der Jurisdiktion des europäischen Gerichtshofs sein wird. Mindestens bedeutet es, dass jedes englische Unternehmen welches mit der EU Handel betreibt, die relevanten Urteile des europäischen Gerichtshofs verstehen muss. Firmen wiederum, welche Handel mit dem EU-Binnenmarkt betreiben, müssen sich an die EU Kartellrechtsregeln halten, wie es die Beispiele Microsoft und Google zeigen. Höchstwahrscheinlich wird der europäische Gerichtshof außerdem jegliche Übergangsvereinbarungen, welche zwischen der EU und Großbritannien abgeschlossen werden, überwachen. Der Gerichtshof könnte sich außerdem mit der Frage befassen, ob ein von der EU abgeschlossenes Handelsabkommen mit Großbritannien dem gängigen EU-Recht entspricht.

Auf der anderen Seite steht der Wunsch von Frau May, den größtmöglichen Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten. Dies bedeutet wiederum, dass je enger die Handelsbeziehungen sind, desto mehr brauchen die Beteiligten harmonisierte Verordnungen sowie eine Körperschaft, welche die Implementierung dieser Verordnungen überwacht. So überwacht zum Beispiel der europäische Gerichtshof die sogenannte Common Aviation Area, welche den Luftraum über der EU reguliert. Dies betrifft sowohl Flüge innerhalb als auch außerhalb der EU. So muss auch eine Körperschaft das Prinzip der Äquivalenz überwachen, welches es Finanzdienstleistungsunternehmen aus Großbritannien erlauben würde, innerhalb des Binnenmarkts Handel zu betreiben.

Die Regierung von Frau May hat offen zugegeben, dass es einen Streitschlichtungsmechanismus geben muss. Aber den relevanten Kapiteln in ihrem „Weisspapier“ fehlt es merklich an Inhalt. Keine der Optionen sieht momentan ideal aus. Dem EFTA-Gericht beizutreten, würde bedeuten, dass Frau May ihr Versprechen, sich von den Fesseln des europäischen Gerichtshofs zu befreien, nicht nachkommen könnte. Gleichzeitig ist die EU die Komplexität der Rechtsbeziehung mit der Schweiz leid und wird sich wahrscheinlich davor hüten, eine ähnliche Beziehung mit einem anderen Nicht-EU Mitgliedstaat (wie Großbritannien) einzugehen. Ein Versuch, ein neues Gericht ins Leben zu rufen, würde höchstwahrscheinlich von dem europäischen Gerichtshof selbst boykottiert werden. So hat der Gerichtshof in der Vergangenheit schon mehrfach Versuche von EU-Regierungen, neue Rechtsorgane zu schaffen, im Keim erstickt.

Großbritannien mag denken, es hätte sein Interesse an dem europäischen Gerichtshof verloren. Aber es ist unwahrscheinlich, dass der europäische Gerichtshof auch sein Interesse an Großbritannien verloren hat.

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