Politik

Israelischer Historiker Tom Segev: „Günter Grass ist kein Antisemit“

Lesezeit: 2 min
08.04.2012 17:27
Der prominente israelische Historiker Tom Segev hat den Dichter Günter Grass verteidigt: Grass sein kein Feind Israels und erst recht kein Antisemit. Die Kritik sei zwar unfair, weil Israel anders als der Iran kein anderes Volk auslöschen wolle. Doch die Kritik an Israels Atomwaffen-Politik sei nicht neu – und schon von vielen Israelis selbst thematisiert worden.
Israelischer Historiker Tom Segev: „Günter Grass ist kein Antisemit“

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Die mediale Erregung in Deutschland über das Gedicht (Original hier) von Günter Grass über die nicht-transparente israelische Nuklear-Politik findet eine angenehm ruhige Einordnung in einem Kommentar des renommierten israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev. In Deutschland hat sich praktisch die gesamte Medienbranche auf Grass gestürzt und ihn des Antisemitismus geziehen. Israel hat gegen den Dichter offiziell ein Einreiseverbot verhängt.

Im wissenschaftlichen Sinn kann das Gedicht von Grass keinesfalls als antisemitisch bezeichnet werden. Denn Grass behauptet nicht, Israels Fehler seien damit zu begründen, dass die politisch Verantwortlichen Juden sind. Grass arbeitet in dem Gedicht auch nicht mit klar erkennbaren, antisemitischen Metaphern oder Bildern. Er bedient solche Bilder auch nicht „zwischen den Zeilen“.

Tom Segev, dessen Familie deutsche Wurzeln hat und der vor allem durch seine wissenschaftlichen Arbeiten über den politisch instrumentalisierten Kampf Israels gegen die Palästinenser zur unbestrittenen Autorität geworden ist, schreibt in der Zeitung Ha’aretz: Er, Grass, „hat zu Recht erwartet, dass er nach seiner Anti-Israel-Kommentare des Antisemitismus beschuldigt wird. Grass, so scheint es, zeigt zwanghaft ungerechte Anschuldigungen auf sich. Wie auch immer: Sie können sich entspannen, Herr Grass. Sie haben ein ziemlich pathetisches Gedicht geschrieben, aber Sie sind nicht antisemitisch. Sie sind nicht einmal anti-israelisch.”

Grass sei nicht weiter gegangen als der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad, Meir Dagan, der die „Auffassung von Grass teilt, dass der Iran nicht bombardiert werden soll“. Segev empfiehlt, man „soll Dagan gut zuhören, denn es gibt nur wenige Leute, die mehr über den Iran wissen als er“.

Segev schreibt, dass es die Argumente von Grass bei vielen Diskussionen über das Für und Wider eines Erstschlags in Israel zu hören gäbe. Diese Debatte finde „auf strategischer, operativer und moralischer Ebene“ statt. Grass habe nichts Neues gesagt.

Auch an der Kritik von Grass an der geplanten U-Boot-Lieferung an Israel kann Segev nichts Bedenkliches erkennen. Sie in Frage zu stellen sei „eine legitime Ansicht zu einer Thema, über das das deutsche Volk demokratisch entscheiden sollte“.

Segev kritisiert zwei Aspekte an dem Gedicht von Grass: Das Pathos, mit dem Grass beklagt, dass er nicht schon früher gegen die israelischen Atomprogramme zu Felde gezogen sei, sei unangebracht. Denn „der Preis für die Enthüllung des israelischen Atomwaffen-Programms gebührt dem Nukleartechniker Mordechai Vanunu, der das Programm bereits im Jahr 1986 an die Öffentlichkeit gebracht hat“. Seither gäbe es tausende Webseiten, die sich mit der Atommacht Israel kritisch auseinandersetzen.

Der wichtigste Einwand von Segev betrifft jedoch den Vergleich Israels mit dem Iran: Anders als der Iran habe Israel noch nie gedroht, ein anderes Volk ausradieren zu wollen. Und anders als von Grass unterstellt, würde selbst ein israelischer Angriff auf den Iran niemals „das ganze iranische Volk auslöschen“, weil die militärischen Operationen Israels stets nur auf ausgewählte Ziele ausgerichtet seien. Daher sei der Vorwurf von Grass an Israel „unfair“. Israel und Lübeck („die Stadt des Marzipans“) würden in einer besseren Welt leben, wenn der Iran keine Atombombe besitze.

Segev vermutet, dass Grass mit dem Schock spekuliert habe, den das Gedicht werde auslösen können. Er hofft, dass Grass sich nach seinem Ausflug bald wieder der Literatur zuwenden werde: „Sie schreiben, dass Sie das Gedicht mit Ihrer letzten Tinte geschrieben haben. Wir wollen hoffen, dass Sie noch genug haben, um einen weiteren wunderbaren Roman zu schreiben.“

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Der wahre Grund für den Abschwung in der Baubranche

Die Baubranche wird von einem kräftigen Abschwung erfasst. Eine der wichtigsten Ursachen – vielleicht die wichtigste – für die Krise...

DWN
Finanzen
Finanzen Kredit-Krise: Drama um Credit Suisse wird zum „Alptraum“ für Europas Banken

Die nicht ohne Kollateralschäden abgelaufene Abwicklung der stark angeschlagenen Schweizer Großbank hat die Finanzmärkte aufgewühlt. Es...

DWN
Politik
Politik Greta Thunberg wird Ehrendoktorin der Theologie

Die schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg wird dieses Jahr die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der renommierten...

DWN
Politik
Politik UN-Generalsekretär Guterres warnt Europäer vor Ausgrenzung Chinas

UN-Generalsekretär António Guterres hat die Europäer vor einer Teilnahme an der amerikanischen Kampagne gegen China gewarnt.

DWN
Politik
Politik Das Ringen der Großmächte um Moldau hat begonnen

Um das kleine Moldau tobt ein Ringen um Macht und Einfluss zwischen dem Westen und Russland, berichten Medien.

DWN
Politik
Politik Drohnenangriff auf US-Stützpunkt in Syrien

Als Vergeltung für einen Angriff haben US-Streitkräfte Luftangriffe auf Ziele in Syrien geflogen. Auch Israel bombardiert weiter.

DWN
Politik
Politik Saudi-Arabien leitet spektakuläre Kehrtwende in der Außenpolitik ein

Im Nahen Osten findet eine tektonische Verschiebung des geopolitischen Settings statt – mit möglicherweise weitreichenden Folgen.

DWN
Deutschland
Deutschland Massiver Streik wird Verkehr am Montag deutschlandweit lahmlegen

Millionen Berufspendler und Reisende müssen am Montag mit einem weitgehenden Zusammenbruch des Verkehrs in Deutschland rechnen.