Politik

Oberstes Gericht in London kippt erzwungene Auflösung des Parlaments

Die vom britischen Premierminister Boris Johnson angeordnete erzwungene Parlamentspause ist nach Ansicht eines Gerichts unrechtmäßig.
24.09.2019 11:53
Aktualisiert: 24.09.2019 11:56
Lesezeit: 3 min

Das oberste britische Gericht hat die von Premierminister Boris Johnson verhängte längere Parlamentspause für unrechtmäßig erklärt. Die Regierung habe keine schlüssige Rechtfertigung für solch eine extreme Maßnahme vorgelegt, urteilte der Supreme Court in London am Dienstag. Die Aussetzung habe das Parlament daran gehindert, seine Aufgaben wahrzunehmen. Die Unterbrechung sei deshalb "nichtig" und habe keine Auswirkungen. Es liege nun am Parlamentspräsidenten, über die nächsten Schritte zu entscheiden.

Parlamentspräsident John Bercow erklärte unmittelbar nach Verkündung des Urteils, das Unterhaus müsse umgehend zusammenkommen. Er werde diesbezüglich unmittelbar mit den Parteichefs beraten. Der Chef der schottischen Nationalisten im Unterhaus forderte den sofortigen Rücktritt Johnsons. Labour-Chef Jeremy Corbyn forderte den Premierminister auf, sein Amt zu überdenken, und sprach sich für Neuwahlen aus. Johnsons Anwalt erklärte, der Premier werde das Urteil des Obersten Gerichts respektieren.

Johnson hat die Abgeordneten für fünf statt der üblichen zwei Wochen in eine Zwangspause geschickt. Der Fall wurde vorige Woche von den elf höchsten Richtern drei Tage lange verhandelt. Die Anwälte der Kläger argumentierten, die Aussetzung des Unterhauses sei erfolgt, um die Abgeordneten davon abzuhalten, Johnsons Brexit-Kurs zu durchkreuzen. Die Regierungsanwälte erwiderten, es sei allein Sache von Johnson und nicht von Gerichten, über die Dauer der Unterbrechung zu entscheiden.

Johnson will Großbritannien unbedingt am 31. Oktober aus der EU führen, notfalls auch ohne Ausstiegsabkommen mit Brüssel. Das Unterhaus hat dagegen ein Gesetz verabschiedet, das einen ungeregelten Austritt des Vereinigten Königreichs verbietet.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs in London gegen die von Premierminister Boris Johnson verhängte Parlaments-Zwangspause ist ein Paukenschlag für die britische Innenpolitik. Doch es schafft für die EU keinerlei Klarheit, wohin das Land in Sachen Brexit steuert. Es sind weiter alle Optionen offen. Ein Überblick:

JOHNSON TRITT ZURÜCK

Die Richter haben einstimmig festgestellt, dass die verhängte fünfwöchige Zwangspause für das britische Unterhaus kurz vor dem geplanten EU-Austritt am 31. Oktober unrechtmäßig ist. Oppositionsführer Jeremy Corbyn rief den konservativen Johnson daraufhin sofort zum Rücktritt auf. Ob der Premier dies tatsächlich tut, ist jetzt die große innenpolitische Frage in Großbritannien - die natürlich auch massive Auswirkungen auf die Brexit-Verhandlungen hätte.

NEUWAHLEN

Johnson hat selbst bereits Neuwahlen noch vor Ende Oktober gefordert, nachdem er im Unterhaus seine hauchdünne Mehrheit nach dem Ausschluss von 21 Rebellen seiner konservativen Partei verloren hatte. Die oppositionelle Labour-Partei will dem aber nur zustimmen, wenn ein chaotischer Brexit ohne Abkommen klar ausgeschlossen wird. Dies lehnt Johnson ab. Selbst durch einen Rücktritt könnte Johnson Neuwahlen nicht direkt selbst erzwingen - er braucht dafür die Unterstützung von zwei Dritteln des Unterhauses.

NOCHMALIGE BREXIT-VERSCHIEBUNG

Angesichts der unklaren innenpolitischen Lage könnte London eine erneute Verschiebung des derzeit für den 31. Oktober geplanten Brexit beantragen. Auf EU-Seite müssten die Staats- und Regierungschefs der anderen 27 Mitgliedstaaten einstimmig zustimmen. Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel hat diese Möglichkeit jüngst als "Albtraum" bezeichnet. Die Bürger wollten endlich Klarheit, sagte er.

Länder wie Frankreich haben ihrerseits erklärt, sie seien nur zu einer weiteren Verschiebung bereit, wenn es einen guten Grund dafür gebe - etwa Neuwahlen oder ein zweites Brexit-Referendum. Auch wenn viele EU-Regierungen wegen des britischen Hin- und Hers beim Brexit genervt sind, würden die meisten eine weitere Verschiebung einem chaotischen Austritt wohl vorziehen.

EINIGUNG AUF ABKOMMEN

Johnson könnte versuchen, bis zum 31. Oktober doch noch eine Einigung mit der EU zu erzielen. Das britische Parlament hat den bisher ausgehandelten Austrittsvertrag aber schon drei Mal abgelehnt. Knackpunkt ist die Auffanglösung für Nordirland, die nach dem Brexit Grenzkontrollen zwischen der britischen Provinz und dem EU-Mitglied Irland verhindern soll. Das Vereinigte Königreich würde dabei vorerst als Ganzes in einer Zollunion mit der EU bleiben. Dies lehnen die Brexit-Hardliner in Großbritannien strikt ab.

Johnson will deshalb "alternative Vereinbarungen", die sichtbare Grenzkontrollen unnötig machen. Dabei geht es um technische Lösungen zur Erfassung des Warenexports, etwa vorab ausgefüllte Online-Zollerklärungen und das Scannen von Barcodes auf Lastwagen und Containern. Bisher hat der Premier Brüssel aber nicht überzeugt, dass dies funktionieren könnte.

CHAOTISCHER BREXIT

Bei einem No-Deal-Brexit würde die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens im Binnenmarkt und der Zollunion Ende Oktober schlagartig enden. Die Wiedereinführung von Zoll- und Personenkontrollen hätte weitreichende Folgen für Wirtschaft und Bürger. Das Unterhaus hat vor der Zwangspause bereits ein Gesetz verabschiedet, das einen Chaos-Brexit ausschließen soll. Ohne Einigung mit Brüssel soll der Austritt demnach um nochmals drei Monate auf Ende Januar verschoben werden.

Johnson hat seinerseits erklärt, er würde lieber "tot im Graben liegen", als den Brexit zum dritten Mal zu verschieben. Kabinettsminister haben angedeutet, die Regierung suche nach Lücken in dem Verschiebungsgesetz des Parlaments, um einen No-Deal-Brexit Ende Oktober weiter möglich zu machen.

RÜCKNAHME DES AUSTRITTSANTRAGS

Für London besteht bis zum Austrittsdatum jederzeit die Möglichkeit, den Brexit-Antrag ohne Zustimmung der EU einseitig zurückzunehmen. Denkbar wäre dies nach einem Sieg von Labour bei eventuellen Neuwahlen. Die Partei hat für diesen Fall ein zweites Referendum mit einer Option zum Verbleib in der EU versprochen.

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