Bundesinnenminister Horst Seehofer hat die EU-Kommission unter Führung von Präsidentin Ursula von der Leyen scharf kritisiert. "Ich hatte große Hoffnungen auf die neue EU-Kommission«, sagte der CSU-Politiker dem "Spiegel" in einem am Freitag veröffentlichten Interview. "Heute bin ich, gelinde gesagt, enttäuscht." Vor allem in der Migrationspolitik fühle er sich im Stich gelassen. "Ich darf mich um die Seenotrettung kümmern und um die Kinder in den Flüchtlingslagern in Griechenland. Ich darf mich um eine gemeinsame Asylpolitik bemühen (...) Das sind aber alles Aufgaben der EU." Auch beim jüngsten Vorstoß eines europäischen Investitionsprogramms sei nicht Brüssel der Motor gewesen, sondern Berlin und Paris, bemängelte Seehofer.
Deutschland und Frankreich gelten traditionell als Motor der Gemeinschaft. Eine Einigung der beiden Länder bildet häufig die Grundlage für eine weitergehende Verständigung innerhalb der EU, wenn die Fronten bei einem Streitthema verhärtet sind. Dies ist bislang auch im Tauziehen um europäische Finanzhilfen zur Bewältigung der Corona-Krise der Fall.
Wenig Verständnis zeigte Seehofer auch für die Ankündigung der EU-Kommission, wegen der jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland zu prüfen. "Mir ist aufgefallen, dass die EU ungewöhnlich häufig gegen ihre Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren und Klagen erhebt", sagte der Minister. "Gegen Österreich wegen einer Kindergeldregelung, gegen Polen und Ungarn sowieso, jetzt gegen Deutschland wegen des Verfassungsgerichtsurteils. Ich frage mich: Wie soll so ein Zusammenwachsen in Europa befördert werden?"
Von der Leyen hat Ungarn wegen der umstrittenen Corona-Notstandsgesetze mit einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hatte sich vom Parlament umfassende Vollmachten geben lassen und kann nun per Dekret regieren und den Notstand ohne Zustimmung des Parlamentes verlängern. Gegen die nationalkonservative Regierung in Polen hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der dortigen Justizreform eingeleitet. Die Kommission wirft der Regierung in Warschau vor, damit die Unabhängigkeit polnischer Richter zu untergraben.
Zugleich kündigte Seehofer seinen vollständigen Ausstieg aus der Politik nach Ablauf der Legislaturperiode an. Nach der Bundestagswahl beginne für ihn ein "totales Kontrastprogramm zu dem, was ich seit 50 Jahren mache", sagte er. "Ich bin dann ein unpolitischer Mensch. Sie werden mich in keinem Aufsichtsrat finden. Sie werden mich mit der aktuellen Politik nicht locken können, auch wenn sie mich vielleicht noch so ärgert."