Finanzen

London in der Klemme: Der Traum vom schnellen Handelsdeal mit den USA platzt

Großbritannien befindet sich in einer zunehmend prekären Wirtschaftslage. Die Hoffnungen auf ein schnelles Handelsabkommen mit dem Verbündeten USA sind geplatzt.
26.07.2020 10:51
Lesezeit: 4 min
London in der Klemme: Der Traum vom schnellen Handelsdeal mit den USA platzt
Ein Wandbild zeigt US-Präsident Trump und Großbritanniens Premier Johnson. (Foto: dpa)

Die Hoffnungen auf einen zügigen Abschluss eines Handelsabkommens zwischen Großbritannien und den USA sind verflogen. Noch Anfang des Jahres hatten Optimisten in London von einem Deal im Sommer gesprochen, nun sieht es so aus, als ob es im laufenden Jahr überhaupt keine Übereinkunft mehr geben würde.

Die Financial Times zitiert namentlich nicht genannte hochrangige Beamte mit der Einschätzung, dass eine Einigung vor den US-Präsidentschaftswahlen im November ausgeschlossen sei. „Wird es dieses Jahr klappen? Praktisch nicht“, sagte eine der Quellen vor der am Montag anstehenden dritten Verhandlungsrunde per Videoschalte mit der amerikanischen Seite. Ein anderer Insider wird mit den Worten zitiert: „Wir wollen nicht in einem überhastet ausgehandelten Abkommen überrumpelt werden.“

Im Juni sagte auch die britische Handelsbeauftragte Liz Truss – die noch im Januar ein Abkommen im Sommer in Aussicht gestellt hatte – dass sich die Regierung nicht „in ein Abkommen stürzen“ werde und dass es keine Deadline für die Gespräche mit Washington gebe.

Das Haupthindernis in den Gesprächen sollen der FT zufolge weitreichende Forderungen der Amerikaner sein, die Zugang zu den britischen Nahrungsmittelmärkten und öffentlichen Institutionen wie dem Gesundheitssystem haben möchten. Zusätzlich verkompliziert wird eine Einigung durch die parallel laufenden Brexit-Verhandlungen mit der EU und durch die Corona-Krise. Es mehren sich die Hinweise, dass es in den Gesprächen mit der EU keine substanziellen Fortschritte gibt. Damit droht das UK Ende 2020 auf den Status der WTO-Bedingungen im Außenhandel mit der Europäischen Union als dem bisher wichtigsten Handelspartner zurückzufallen.

Zudem hat sich die Regierung Johnson durch den von der amerikanischen Regierung erzwungenen Rauswurf von Huawei aus dem Aufbau des 5G-Netzes in eine doppelt prekäre Situation manövriert. Der Aufbau dieses Netzes wird sich nun zeitlich verzögern, was die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit einschränkt. Und China als Handelspartner hat der britischen Regierung mit scharfen Sanktionen und Gegenmaßnahmen gedroht, was den Außenhandel mit der dritten wichtigen globalen Wirtschaftsmacht zurückwerfen und mögliche Direktinvestitionen chinesischer Unternehmen in Großbritannien verhindern dürfte.

Einem Analysten des Centre for European Reform zufolge habe ein Handelsabkommen mit den USA angesichts dieser Umstände an Wichtigkeit für London verloren. Es sei von Anfang an ein „Wunschtraum“ gewesen zu erwarten, dass es eine schnelle Einigung geben würde – außer wenn Großbritannien der US-Regierung auf allen Ebenen nachgegeben hätte.

London hat sich in eine Sackgasse manövriert

Tatsächlich hat sich Großbritannien infolge des Austritts aus der Europäischen Union und befeuert durch die Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Wirtschaftsabschwung in eine prekäre Situation manövriert.

Die staatliche, aber unabhängige, Haushaltsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR) warnt, dass sich die Wirtschaft von der Corona-Krise bis zum Jahr 2024 nicht erholen könnte. Die Wirtschaftsleistung war im ersten Quartal mit 2,2 Prozent so stark geschrumpft wie seit 1979 nicht mehr. Die Bank of England hatte unlängst erklärt, dass die Wirtschaftsleistung im ersten Halbjahr um bis zu 20 Prozent zurückgehen könne. Mit Blick auf das ganze Jahr rechnet der Internationale Währungsfonds mit einem Rückgang beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von mehr als 10 Prozent.

Die Regierung versucht, den schweren Einbruch mit Milliarden an Investitionen und neuer Schulden abzufedern. Zu den bereits bestehenden Nothilfen, Krediten und Steuererleichterungen im Gegenwert von schätzungsweise 133 Milliarden Pfund (etwa 147 Milliarden Euro) sollen weitere Mittel zufließen. Die britische Schuldenagentur teilte mit, zwischen April und August Staatsanleihen im Rekordvolumen von 275 Milliarden Pfund zu begeben. Das ist mehr als doppelt so viel wie im gesamten vergangenen Fiskaljahr.

Das gesundheitlich-gesellschaftliche Problem: Großbritannien gehört zu den Ländern, die mit etwa 50.000 Toten weltweit am stärksten von der Corona-Krise betroffen sind. Zudem ist das staatliche Gesundheitssystem National Health Service (NHS) nach Jahrzehnten der Unterinvestition und ständigen Budgetkürzungen zur Gegenfinanzierung von Steuersenkungen für Unternehmen und Wohlhabende chronisch unterfinanziert und überlastet – ein Umstand, der zunehmend zu Unverständnis in der Bevölkerung führt.

Großbritannien steigt in die oberste Schuldenliga auf

Die Briten sind im internationalen Vergleich darüber hinaus auch vergleichsweise hoch verschuldet, und zwar sowohl die privaten Haushalte wie der Unternehmenssektor und die öffentliche Hand. Letzteres stellt keine gute Ausgangslage hinsichtlich der nun beginnenden Neuschulden-Orgie dar.

Im Mai stieg die Verschuldung nach Angaben des Statistikamts ONS im Jahresvergleich um 173,2 Milliarden Pfund oder 20,5 Prozent auf 1,95 Billionen Pfund (rund 2,2 Billionen Euro). Das ist der stärkste prozentuale Zuwachs gegenüber einem Vorjahresmonat seit Beginn der monatlichen Aufzeichnungen im Jahr 1993. Die öffentliche Gesamtverschuldung stieg infolgedessen erstmals seit 1963 über die Schwelle von 100 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung (BIP). Sie betrug den Angaben zufolge Ende Mai 100,9 Prozent des BIP. Die Neuverschuldung der öffentlichen Hand betrug im Mai 55,2 Milliarden Pfund, was etwa neunmal so viel war wie die Schuldenaufnahme im Vorjahresmonat. Auch dies ist ein Rekordwert.

Dem Guardian zufolge mehren sich angesichts der Überschreitung der 100-Prozent-Marke im Verhältnis von Schulden und Wirtschaftskraft erstmals mahnende Stimmen, die vor den ausufernden Verbindlichkeiten warnen. „Das Vereinigte Königreich gesellt sich damit zu Italien, den USA und Japan in den Club jener Nationen, deren Schulden höher als das Nationaleinkommen sind. (…) Während die meisten Ökonomen die Regierung angesichts der steigenden Schuldenstände mit Verweis auf die höchstwahrscheinlich noch lange Zeit niedrig bleibenden Leitzinsen beruhigen, ist bekannt, dass das Finanzministerium nervös ist, weil Großbritannien dem ‚100-Prozent-Club‘ beigetreten ist. Erwartet wird, dass die Verbindlichkeiten auch den Rest des laufenden Jahres steigen werden und die Quote von Schulden und Wirtschaftsleistung eher Richtung 105 Prozent und wahrscheinlich sogar 110 Prozent treiben wird.“

Im neuesten Fiscal Stability Report des OBR wird zudem auf das Problem steigender Schulden in Kombination mit sinkenden Steuereinnahmen als Folge des Wirtschaftseinbruchs verwiesen. Dies könne zu einem Teufelskreis aus höheren Steuern aber dann sinkendem Konsum oder aber massiven Einsparungen aber dann auch sinkender Wirtschaftsleistung führen. In dem Bericht heißt es: „In jeder Hinsicht wird es zu irgendeinem Zeitpunkt den Zwang geben, die Steuern zu erhöhen und/oder die Ausgaben zu kürzen, um die öffentlichen Finanzen wieder auf einen nachhaltigen Pfad zu führen. Dem scheidenden Chef des OBR zufolge drohend die Staatsfinanzen beispielsweise zwischen den von vielen Bürgern geforderten Investitionen ins marode Gesundheitssystem und den Ausgaben zur Abfederung der längerfristig deutlich erhöhten Arbeitslosigkeit zerrieben werden.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Technologie
Technologie KI als Mobbing-Waffe: Wenn Algorithmen Karrieren zerstören
13.07.2025

Künstliche Intelligenz soll den Arbeitsplatz smarter machen – doch in der Praxis wird sie zum Spion, Zensor und Karriere-Killer. Wer...

DWN
Finanzen
Finanzen Geldanlage: Keine reine Männersache – Geschlechterunterschiede beim Investieren
13.07.2025

Obwohl Frauen in sozialen Medien Finanzwissen teilen und Banken gezielt werben, bleibt das Investieren weiterhin stark männlich geprägt....

DWN
Unternehmen
Unternehmen Renault: Globales KI-System soll helfen, jährlich eine Viertelmilliarde Euro einzusparen
13.07.2025

Produktionsstopps, Transportrisiken, geopolitische Schocks: Renault setzt nun auf ein KI-System, das weltweite Logistik in Echtzeit...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Kaffeepause statt Burn-out: Warum Müßiggang die beste Investition ist
12.07.2025

Wer glaubt, dass mehr Tempo automatisch mehr Erfolg bringt, steuert sein Unternehmen direkt in den Abgrund. Überdrehte Chefs,...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europas Kapitalmarktunion im Rückstand: Banker fordern radikale Integration
12.07.2025

Europas Finanzelite schlägt Alarm: Ohne eine gemeinsame Kapitalmarktunion drohen Investitionen und Innovationen dauerhaft in die USA...

DWN
Immobilien
Immobilien Bauzinsen aktuell weiterhin hoch: Worauf Häuslebauer und Immobilienkäufer jetzt achten sollten
12.07.2025

Die Zinsen auf unser Erspartes sinken – die Bauzinsen für Kredite bleiben allerdings hoch. Was für Bauherren und Immobilienkäufer...

DWN
Finanzen
Finanzen Checkliste: So vermeiden Sie unnötige Kreditkarten-Gebühren auf Reisen
12.07.2025

Ob am Strand, in der Stadt oder im Hotel – im Ausland lauern versteckte Kreditkarten-Gebühren. Mit diesen Tricks umgehen Sie...

DWN
Technologie
Technologie Elektrische Kleinwagen: Kompakte Elektroautos für die Innenstadt
12.07.2025

Elektrische Kleinwagen erobern die Straßen – effizient, kompakt und emissionsfrei. Immer mehr Modelle treten an, um Verbrenner zu...