Politik

Lagebericht Afghanistan: Taliban erobern zehnten Bezirk seit Beginn des Nato-Abzugs

Die islamistische Taliban-Miliz ist seit dem am 1. Mai begonnenen Abzug von US- und anderen Nato-Truppen auf dem Vormarsch. Den afghanischen Angestellten der Nato-Truppen machen sie ein bedrohliches Angebot.
08.06.2021 10:00
Lesezeit: 3 min

Die militant-islamistischen Taliban haben in Afghanistan nach Beginn des Abzugs internationaler Truppen erneut einen Bezirk erobert. Daulatabad in der Provinz Fariab im Norden des Landes sei in der Nacht zu Dienstag an die Taliban gefallen, bestätigten mehrere Provinzräte der Deutschen Presse-Agentur. Damit sind seit Beginn des Abzugs der US- und anderer Nato-Truppen am 1. Mai insgesamt zehn Bezirke an die Islamisten gefallen. Afghanistan ist in rund 400 Bezirke in 34 Provinzen gegliedert.

Der Bezirk Daulatabad sei bereits länger von den Taliban belagert worden. Vergangene Woche allerdings hätten die Islamisten den Belagerungsring enger gezogen. Die Sicherheitskräfte im Bezirkszentrum hätten nicht mehr versorgt werden können, da die Taliban die Überlandstraße in den Bezirk kontrollierten, sagten die Provinzräte weiter. Polizei- und Armeekräfte seien in der Nacht schließlich in den Nachbarbezirk Andchoi geflohen.

Die Sicherheitskräfte hätten die Flucht einen «taktischen Rückzug» genannt, sagte der Provinzrat Fasel Hak Mohammadi. Die Situation sei mittlerweile sehr komplex. Die Soldaten würden die Befehle ihrer Kommandeure nicht mehr befolgen, sie hätten ihre Moral verloren. Wie im Bezirk Kaisar, der am Montag an die Taliban gefallen war, hätten die Kräfte keine der angeforderten Unterstützungen bekommen.

Einem UN-Bericht zufolge konnten die Taliban im gesamten Vorjahr fünf Bezirkszentren erobern, vier davon wurden binnen weniger Tage von der Regierung zurückerobert. Experten befürchteten eine Zunahme an Taliban-Angriffen mit Beginn des Abzugs der US- und anderer Nato-Truppen. Es ist unklar, wie sehr die internationalen Truppen aktuell die Sicherheitskräfte der Regierung noch unterstützen. Der Abzug soll bis spätestens 11. September abgeschlossen sein. Die Taliban werden maßgeblich vom Nachbarland Pakistan unterstützt.

Taliban: Ortskräfte sollen "Reue zeigen" und bleiben

Die Taliban haben die mehreren Zehntausend Ortskräfte von internationalen Truppen inzwischen dazu aufgerufen, im Land zu bleiben. Wer als Übersetzer, Wachmann oder anderweitig für ausländische Streitkräfte tätig gewesen sei, solle für seine Handlungen Reue zeigen und sich in Zukunft nicht mehr an solchen Aktivitäten beteiligen, die einem Verrat am Islam gleichkämen, hieß es in einer am Montag veröffentlichten Mitteilung. «Aber keiner soll das Land derzeit verlassen.» Bislang hatten die Taliban Ortskräfte immer wieder beschimpft und bedroht.

Seit etwas mehr als einem Monat läuft der offizielle Abzug der internationalen Truppen, die teils bereits seit 2001 in Afghanistan sind. Die Taliban haben in dem Land mit geschätzt etwa 37 Millionen Einwohnern seither wieder mehrere Bezirke für sich eingenommen. Zehntausende Afghanen waren für die Streitkräfte der Nato-Länder tätig, auch für die Bundeswehr. Aus Angst vor Racheakten der Taliban wollen viele von ihnen nun samt Familien das Land verlassen. Der Abzug soll bis spätestens Mitte September abgeschlossen sein.

Allein die US-Botschaft bearbeitet nach eigenen Angaben aktuell rund 18 000 Anträge für spezielle Ausreisevisa. Auch die Mehrheit der Ortskräfte der Bundeswehr will nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur über das sogenannte Ortskräfteverfahren Schutz in Deutschland suchen. Mitte Mai waren dies rund 450 Ortskräfte.

Die Taliban versprachen in der Mitteilung, die Ortskräfte nicht zu «stören». Sie sollten zum normalen Leben zurückkehren und, wenn sie über Fachwissen verfügten, ihrem Land dienen. Wenn sie den Feind verließen und als gewöhnliche Afghanen im Land lebten, werde es keine Probleme geben. Fraglich ist, wie zuverlässig solche Aussagen sind. Bislang wurden Ortskräfte von den Taliban als «Sklaven der Invasoren» oder «Söldner» bezeichnet. Auf Twitter schrieben Nutzer, die Positionen der Taliban unterstützen, man könne Ortskräften niemals vergeben.

Ein Sprecher der deutschen «Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte» äußerte Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Taliban-Aussagen. Angesichts jahrelanger systematischer Bedrohung bis hin zu Morden überzeuge ihn die Erklärung nicht, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Man könne nicht von einem wirklichen Sinneswandel der Taliban ausgehen. In den Medien würden immer wieder einzelne Kommandeure zitiert, die von «Rache» nach einem «Sieg» sprächen. Die Erklärung habe zudem einen bedrohlichen Unterton: Reue werde als eine Art Bewährungsklausel genannt.

Zuletzt hatten mehrere Nato-Länder angekündigt, bedrohte Ortskräfte rascher und einfacher aufzunehmen und auch Personal aufgestockt, um die Anträge zu bearbeiten.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Wie schützt man seine Krypto-Wallet? CLS Mining ermöglicht Nutzern eine stabile tägliche Rendite von 6.300 €.

Der Kryptowährungsmarkt erholte sich heute umfassend, die Stimmung verbesserte sich deutlich. Meme-Coins führten den Markt erneut an....

DWN
Unternehmen
Unternehmen MAN Truck & Bus: LKW-Hersteller baut 2.300 Stellen in Deutschland ab
20.11.2025

Der Lastwagen- und Bushersteller MAN will in Deutschland rund 2.300 Stellen abbauen. Belastend seien hohe Strom- und Arbeitskosten und der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Anpassung an die Klimakrise: EU erhöht Druck beim Ausstieg aus Öl und Gas
20.11.2025

Deutschland hatte sich schon im Vorfeld zusammen mit anderen Staaten in Belém für einen Fahrplan zur Abkehr von Öl, Gas und Kohle stark...

DWN
Politik
Politik Sie gehört zu den mächtigsten Frauen der EU: Jetzt geht sie auf Konfrontationskurs mit Trump
20.11.2025

Die Spannungen zwischen der EU und den USA erreichen einen neuen Höhepunkt. Donald Trump attackiert europäische Digitalgesetze, droht mit...

DWN
Technologie
Technologie Unser neues Magazin ist da: Deutschland digital – warum die Zukunft nicht warten kann
20.11.2025

Deutschland steht an der Schwelle zu einer digitalen Zeitenwende – doch wir zögern. Zwischen überbordender Bürokratie,...

DWN
Unternehmen
Unternehmen EU untersucht Google wegen möglicher „Herabstufung von Nachrichteninhalten“
20.11.2025

Brüssel nimmt Googles Anti-Spam-System ins Visier. Die EU vermutet, dass das Google-Ranking Nachrichtenwebseiten systematisch herabstuft...

DWN
Finanzen
Finanzen Ukraine-Hilfen: EU-Kommission rechnet mit möglichen Kriegsende bis Ende 2026
20.11.2025

Die EU plant weitere 135,7 Milliarden Euro Ukraine-Hilfe. Dabei basieren die Vorschläge der EU-Kommission zur finanziellen Unterstützung...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Stellenabbau auf Negativrekord: Beschäftigung in der Autobranche fällt auf Tief seit 2011
20.11.2025

Die Industrie steckt in einer schweren Krise: Besonders betroffen ist die Autobranche, aber auch im Maschinenbau gehen Tausende Jobs...

DWN
Politik
Politik Kampf gegen Klimawandel: Deutschland gibt eine Milliarde für Tropenfonds
20.11.2025

Deutschland hat bei der UNO-Klimakonferenz in Brasilien eine Milliarde Euro für den globalen Waldschutzfonds TFFF zugesagt. Wie...