Politik

ESM-Abstimmung: Merkel verfehlt Kanzlermehrheit

Der ESM erreichte im Bundestag dank SPD und Grünen zwar die Zwei-Drittel-Mehrheit. Angela Merkel schaffte es jedoch nicht, die Mehrheit der Abgeordneten von Union und FDP zu überzeugen. Normalerweise spricht man in solch einem Fall von einer Regierungskrise.
30.06.2012 01:50
Lesezeit: 2 min

Mit nur 300 Ja-Stimmen aus den eigenen Reihen verfehlte Bundeskanzlerin Angela Merkel die sogenannte Kanzlermehrheit in der ESM-Abstimmung um 11 Stimmen. Beim Vorgängermodell EFSF hatte Merkel die Kanzlermehrheit noch geschafft. Das Ergebnis vom Freitag kann man mit Fug und Recht als schwelende Regierungskrise bezeichnen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, streute denn auch gleich Salz in die Wunden der Koalition und sagte, diese sei „europapolitisch nicht mehr eigenständig handlungsfähig“.

Der Verlust der Kanzlermehrheit ging im allgemeinen Trubel über die Abstimmung etwas unter (Ergebnis hier). Er dürfte jedoch weitreichende Konsequenzen haben – sowohl für innenpolitische Arbeit in Berlin als auch für die Verhandlungen innerhalb der EU, wenn es um die konkrete Ausgestaltung des ESM und der Schulden-Union geht.

Innenpolitisch droht der bürgerlichen Koalition ein Zerfallsprozess. Schon bisher lagen vor allem die CDU und die CSU im Dauerclinch. In Bayern schlägt der das Herz der deutschen Wirtschaft. Das bisherige Grummeln über den innerdeutschen Finanzausgleich war vermutlich nur ein Vorgeschmack. Die Tatsache, dass es in Bayern mit den Freien Wählern eine vergleichsweise ernstzunehmende Partei von Euroskeptikern gibt, wird den Druck auf die CSU erhöhen. Die Seehofer-Partei wird es sich nicht leisten können, den Freien Wählern die Gegnerschaft zur Schuldenunion exklusiv zu überlassen. Es ist zu erwarten, dass aus München verstärkte Kommentare und, falls nötig, konkreter Widerspruch gegen die Vergemeinschaftung der Schulden in Europa kommt.

Ähnlich wird es der CDU gehen. Schon heute ist die kleine Gruppe der ESM-Gegner in der Union hochgradig frustriert. Die Herablassung, mit der etwa Wolfgang Bosbach von Kanzleramtsminister Profalla wegen seiner ESM-Kritik behandelt wurde, hat tiefe Spuren in der CDU hinterlassen. Noch ballen die Rebellen die Faust in der Tasche und wagen den offenen Bruch noch nicht. Das kann sich aber bei Fortdauern der Euro-Krise fundamental ändern. Möglicherweise ist eine Abspaltung noch keine Option für die Rebellen. Auf Dauer gängeln werden sie sich auch nicht lassen, wenn sie nicht komplett ihr Gesicht verlieren wollen.

Die FDP ist ohnehin schon tief gespalten. So klein die Partei bei Umfragen auch ist, für Flügelkämpfe reicht es allemal. Die Politiker der FDP wird in den kommenden Monaten noch mehr in Richtung Klientel-Politik gehen: Jeder Flügel wird versuchen, es seinen Anhängern recht zu machen.

Damit könnte Merkel in eine schwierige Lage geraten. Die Franzosen haben nach dem Gipfel bereits betont, dass es beim ESM kein Einstimmigkeits-Prinzip mehr geben werde. Damit können die deutschen Steuergelder auch ohne Mitwirkung der deutschen Vertreter in Europa verteilt werden. Merkel hat am Freitag fälschlicherweise gesagt, dass Deutschland stets ein Veto haben werde. Das stimmt so nicht, weil der ESM für den Fall einer Krise mit einer Mehrheit von 85% der Stimmen im Direktorium Gelder zuteilen kann. Ob eine Krise auch dann vorliegt, wenn ein spanischer, französischer oder italienischer Regierungschef wiedergewählt werden will, ist im ESM-Vertrag nicht festgelegt (als erster hat der französische Präsident Hollande dieses Thema aufgeworfen - möglicherweise im Hinblick auf die französischen Banken - hier).

Damit ist Merkels Verhandlungsposition deutlich geschwächt. Die Kanzlerin dürfte das wissen. Und möglicherweise dämmert ihr, wenn sie sich den Verlust ihrer Kanzlermehrheit noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lässt, dass sie mehr verloren hat als nur 11 Stimmen: Es kann gut sein, dass sie den Überblick verloren hat und damit die Kontrolle über ihre eigene Regierung. Angesichts der vielen Details, die für die am Freitag formal beschlossene Schuldenunion noch auszuhandeln sind, ist das keine gute Ausgangslage. Fast ist man versucht, das bekannte Bild von der „lahmen Ente“ (lame duck) zu bemühen, nach diesem bemerkenswerten Votum an einem Freitag, an dem über Berlin nicht nur meteorologisch heftige Gewitter zu registrieren waren.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Unternehmen
Unternehmen So gelingt der Einstieg: KI im Personalwesen mit System etablieren
28.06.2025

Künstliche Intelligenz erobert Schritt für Schritt das Personalwesen. Deutschland liegt im europäischen Vergleich weit vorne – doch...

DWN
Politik
Politik Familienkonzern Trump: Wie der Präsidenten-Clan Milliarden scheffelt
28.06.2025

Die Trump-Familie vermischt Politik und Profit wie nie: Während Donald Trump das Weiße Haus beherrscht, expandieren seine Söhne mit...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Börsenausblick 2025: Drohen jetzt heftige Kursbeben?
28.06.2025

Die Sommermonate bringen traditionell Unruhe an den Finanzmärkten. Mit Trump im Weißen Haus steigen die Risiken zusätzlich. Erfahren Sie...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Milliarden für heiße Luft: Ex-OpenAI-Chefin kassiert ohne Produkt
28.06.2025

Ein Start-up ohne Produkt, eine Gründerin mit OpenAI-Vergangenheit – und Investoren, die Milliarden hinterherwerfen. Der KI-Hype kennt...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Social Travel: Hostelworld will Facebook des Reisens werden – mit Milliardenpotenzial
28.06.2025

Hostelworld will nicht länger nur Betten vermitteln, sondern das führende soziale Netzwerk für Alleinreisende werden. Warum der...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Nvidia-Aktie mit Rekordhoch: Geht die Aufwärtsrally weiter?
27.06.2025

Trotz Handelskrieg und wachsender Konkurrenz feiert die Nvidia-Aktie ein Rekordhoch nach dem anderen. Experten sprechen von einer...

DWN
Politik
Politik Bas überzeugt, Klingbeil verliert Ansehen: SPD-Parteitag bestimmt neues Führungsduo
27.06.2025

Auf dem SPD-Parteitag wurde nicht nur gewählt, sondern auch abgerechnet. Während Bärbel Bas glänzt, kämpft Lars Klingbeil mit einem...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Neobroker Trade Republic: Wie ein Berliner Fintech den Kapitalmarkt für alle geöffnet hat
27.06.2025

Büroräume in Berlin-Kreuzberg, drei Gründer mit einer Vision und eine App, die Europas Sparer an die Börse gebracht hat: Trade Republic...