Der Brüsseler Flüchtlingsgipfel wird von der deutschen Bundesregierung als Flop interpretiert: Entwicklungshilfeminister Gerd Müller warnte am Montag im Südwestrundfunk, die entlang der Balkanroute geplanten 100.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge dürften nicht nur auf dem Papier stehen. Die Koordinierung müsse jetzt am besten EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker selbst in die Hand nehmen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete die Beratungen der Regierungschefs als wichtigen Zwischenschritt zur Lösung der Flüchtlingskrise. Kanzleramtsminister Peter Altmaier wertete die nächtlichen Beschlüsse des Sondergipfels lediglich als ersten Schritt, um die mit der hohen Zuwanderungszahl verbundenen Probleme zu lösen.
Dennoch bleibt Merkel bei ihrer generellen Linie, die Grenzen trotz der ungelösten Probleme offenzuhalten: Altmaier lehnt eine Obergrenze zur Verminderung des Flüchtlingszustroms in Deutschland weiter ab. „Das haben wir immer gesagt, das ist richtig“, sagte er dem ZDF am Montag. Dennoch müsse man die praktischen Probleme lösen, die mit der hohen Zuwandererzahl nach Europa verbunden seien.
Doch angesichts der chaotischen Lage in den meisten europäischen Ländern hat diese Aussage nur deklaratorischen Charakter. Sie wird allerdings dazu führen, dass alle andere europäischen Staaten weiter ihre Flüchtlinge nach Deutschland schicken.
An dem Treffen nahmen die Regierungschefs von zehn EU-Staaten und drei Nicht-EU-Ländern des Westbalkans, die EU-Kommission sowie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR teil. Von den 100.000 Plätzen für ankommende Flüchtlinge sollen 50.000 in Griechenland entstehen. Müller warnte davor, dass dem Vorhaben das gleiche Schicksal drohen könnte wie dem Beschluss zur Verteilung von 120.000 Flüchtlingen auf die EU-Staaten. Realität ist, dass davon bis heute erst 900 verteilt seien.
Slowenien soll binnen einer Woche 400 Grenzschutzbeamte aus anderen EU-Staaten erhalten. Das Land sieht sich mit einem Ansturm von Flüchtlingen konfrontiert, seit Ungarn seine eigenen Grenzen für Migranten abgeriegelt hat. Sloweniens Ministerpräsident Miro Cerar hat vor einem Auseinanderbrechen der EU gewarnt.
Die Teilnehmer des Spitzentreffens verpflichteten sich zudem darauf, die Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen zu beenden: Das ist allerdings eine rein theoretische Verpflichtung, weil sie von niemandem kontrolliert werden kann. In Salzburg hat die Polizei am Samstag 1.000 Flüchtlinge nach Deutschland geleitet, angeblich, um eine Panik zu verhindern. Am nächsten Tag erklärte Salzburg, dass das bisherige Transit-Quartier am Hauptbahnhof nicht winterfest sei und daher nicht mehr wie gewohnt genutzt werden könne. Zuvor hatten Land und Bund über die Räumung gestritten. Es ist unklar, wer sie veranlasst hat.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras sicherte zu, bis Jahresende fünf Erstaufnahmezentren (Hotspots) fertigzustellen. Wenn man an die bisherigen Zusage Griechenlands in der Euro-Krise denkt, ist es nicht auszuschließen, dass es hier zu Verzögerungen kommen könnte. Zudem will die EU die Abschiebung von Menschen aus Afghanistan, Pakistan und anderen asiatischen Ländern forcieren.
Nach Ansicht des CDU-Innenpolitikers Wolfgang Bosbach war die Sitzung auf europäischer Ebene nur bedingt erfolgreich. Es müsse eine grundsätzliche Entscheidung getroffen werden: „Wenden wir unser geltendes Asylrecht konsequent an, ja oder nein.“ Indirekt warf er CDU-Chefin Merkel vor, vom geltenden Recht abgewichen zu sein. Kritik kam auch von Unions-Fraktionsvize Hans-Peter Friedrich. Es müsse jetzt in die Herkunftsländer das Signal gesendet werden, „dass diejenigen, die kein Recht haben, hierherzukommen, sichtbar und rasch abgeschoben werden“. Dies sei schon längst fällig, sagte der CSU-Politiker im Deutschlandfunk. „Die Kanzlerin muss jetzt handeln. Dafür ist sie Regierungschefin.“ Der Zustrom müsse „gebremst oder am besten gestoppt werden“. Dies fordern auch die deutschen Sicherheitsdienste mit einiger Vehemenz.
In der Union wird Merkel wegen ihrer Haltung mittlerweile offen kritisiert: CSU-Mann Hans-Peter Friedrich stellte sich zugleich hinter Äußerungen von CSU-Chef Horst Seehofer, wonach ohne Handeln die Existenz der CDU und so auch der CSU gefährdet sei. „Ich sehe die dringende Notwendigkeit, dass in der CDU Meinungsbildungsprozesse, die in der Basis stattfinden, auch ankommen in der Spitze“, sagte der frühere Innenminister.