Der Flüchtlingsgipfel von Brüssel war eine Farce: Es gab kein einziges Ergebnis. Trotzdem nahmen danach die EU-Präsidenten Tusk und Juncker sowie Bundeskanzlerin Merkel das Wort „Durchbruch“ in den Mund. Es geht um die Landtagswahlen am Sonntag – die EU-Präsidenten wollen Merkel helfen, diese zu gewinnen.
Die PR-Strategie war schon gegen 23 Uhr zu erkennen: Von allen Delegationen konnte man hören, dass der Gipfel nichts entscheiden wird, da twitterte der Büroleiter von Jean-Claude Juncker, dass der Deal nahe sei und man an der Feinabstimmung arbeite. Originell: Die meisten Medien hatten zu dem Zeitpunkt bereits ihre Live-Ticker abgeschaltet oder re-tweeteten etwas gelangweilt Politiker-Statements. Sie hatten das Interesse verloren – ein Novum bei EU-Gipfel, noch dazu bei einem, der als wichtig angekündigt worden war.
Doch für die, die wach geblieben sind, war die Lage schnell erkennbar: Die EU-Staats- und Regierungschefs waren aufgebracht und nur mit Mühe zurückzuhalten, als durchsickerte: Der über das Wochenende mühsam erarbeitete Entwurf für das Abschlussdokument war einfach in den Papierkorb gewandert. Stattdessen präsentierten die niederländische Ratspräsidentschaft, Angela Merkel und der türkische Premier Ahmet Davutoglu einen neuen, völlig anders gestrickten Entwurf. Vor allem die Tatsache, dass Merkel, die eigentlich auf der Seite der EU verhandeln sollte, plötzlich auf der Seite der Türkei auftauchte, sorgte für offene Münder bei den anderen Staaten.
Damit war aber klar: Dieser Gipfel konnte nur noch im Desaster oder mit einer wolkigen „Vertagung“ enden. Angesichts des Ärgers über das Vorgehen Merkels ist die dann tatsächlich bekanntgegebene „Vertagung“ sogar noch erstaunlich.
Schon zuvor war klar geworden, was allen außer der Bundeskanzlerin seit Monaten klar ist: Die Positionen in den EU-Staaten sind zu unterschiedlich, um zu der von ihr propagierten „europäischen Lösung“ zu kommen. Frankreich ist gegen die Visafreiheit mit der Türkei. Die Visegrad-Staaten werden nach Köln keine Quoten akzeptieren. Österreich und die Skandinavier lassen die Grenzen geschlossen. Großbritannien wird alles blockieren, was das Referendum zum noch größeren Risiko macht.
Um Merkel einen kleinen Erfolg für die Landtagswahlen mit auf den Weg zu geben, haben sich die EU-Staaten schließlich mit der Schlusserklärung abgefunden. Doch tatsächlich denkt keiner daran, sich an irgendetwas zu halten.
Das unwürdige Schauspiel hat einen ganz einfachen Grund: Die Vertriebenen aus Syrien sind Kriegsflüchtlinge. Den Krieg in Syrien heizt an vorderster Front die Türkei an. Die Flüchtlingskrise im Hinblick auf Syrien kann nur beendet werden, wenn die Türkei ihre Waffen niederlegt: Der erbitterte Kampf gegen die Kurden in der Türkei und in Syrien wird zu ethnischen Säuberungen führen. Die Visa-Freiheit wird zu einer Fluchtwelle führen, weil sich tausende Kurden vor dem Krieg Erdogans gegen sein Volk in Sicherheit bringen wollen.
Die inhumane Verlagerung der Flüchtlinge in die Türkei und nach Griechenland dient vor allem den Kriegsinteressen der CIA, Saudi-Arabiens und der Türkei: Denn damit werden dem syrischen Staat weiterhin junge Männer für den Kampf gegen den Terror in Syrien sowie für die Verteidigung und den Wiederaufbau des Landes entzogen. Es ist ein Skandal erster Güte, dass dieser Krieg als zentrale Ursache beim Gipfel nicht einmal erwähnt wurde. Damit werden hunderttausende Syrer ihrer Zukunft beraubt, weil die Söldner vom Golf und ihre Hintermänner in den Geheimdiensten freie Bahn bekommen, Syrien wirklich in einen „failed state“ zu verwandeln, über den dann die Plünderer herfallen können wie die Hyänen über die tote Gazelle. Die Oligarchen aus den USA und der EU warten schon. Die Oligarchen aus Saudi-Arabien haben sich ebenfalls eingegraben. Die Oligarchen aus Russland versuchen, ihre Verteidigungslinien zu halten.
Stattdessen diskutiert man allen Ernstes eine Aushebelung des Asylrechts: Für jeden Syrer, den die Türken zurücknehmen, solle die EU einen anderen nehmen. Die, die die gefährliche Überfahrt über das Meer geschafft haben und in die Hände der Nato fallen, werden zurückgeschickt und müssen sich, so heißt es in dem Vorschlag, „hinten anstellen“. Sie werden ihres Individualrechts auf Asyl beraubt. Wir erleben die Einführung der Obergrenze auf EU-Ebene. Pro Asyl spricht, völlig zu Recht, von einem „teuflischen Plan“. Weil die EU genau weiß, dass das mit internationalem Recht nicht zu vereinbaren ist, sagte Juncker nach dem Gipfel, es seien noch „gewisse rechtliche Anpassungen“ erforderlich, um die türkischen und griechischen Vorschriften vollständig in Einklang mit den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention zu bringen. Mit anderen Worten: Das Recht wird passend gemacht, weil die alte Idee der Menschenrechte am Bazar nicht mehrheitsfähig war.
Angela Merkel und die EU-Politiker haben bei dem ganzen Theater den wichtigsten Aspekt außer Acht gelassen – den ihnen jedoch die eigene Agentur Eurojust vor dem Gipfel vorgelegt hatte: In einem Bericht kommt Eurojust zu dem Ergebnis, dass sich die Türkei aus politischen und praktischen Gründen an keine Vereinbarung halten wird. Spätestens mit dem Vorliegen dieses Berichts hätte der Gipfel abgesagt werden müssen.
So aber wurde der Öffentlichkeit ein Trauerspiel geboten, von dem Erdogan seine „Verhandlungspartner“ noch in derselben Nach wissen ließ, was er von ihnen hält: Die türkische politische Justiz verhängte die Zwangsverwaltung über die unabhängige Nachrichtenagentur Cihan. Am Wochenende hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière – vermutlich mit Kenntnis von Angela Merkel – noch verlauten lassen, dass sich Deutschland künftig nicht als Schiedsrichter in Menschenrechtsfragen aufspielen wolle.
Erdogan scheint dies als Aufforderung zum Weitermachen vernommen zu haben. Die EU aber wird, wenn sie so fortfährt, eine Konvergenz der ganz anderen Art erleben: Nicht die Türkei wird sich den Werten der EU als neues Mitglied unterwerfen.
Die EU wird künftig nach den Regeln der Türkei tanzen. Die Aushebelung der Grundrechte und die verdeckte Kriegsführung wird auch andere Staaten dazu verführen, es der Türkei gleichzutun. Der Krieg kehrt mit der Türkei unter dem Polizeistaat-Regime von Erdogan zurück. Die Abschaffung der Menschenrechte und die Aufgabe des friedensstiftenden Anspruchs der EU leiten ihre Selbstdemontage ein. Angela Merkel hat Hand an Europa gelegt.