Politik

Krieg gegen Kurden: Bis zu 500.000 Flüchtlinge könnten aus Türkei kommen

Mit dem EU-Pakt mit der Türkei will sich die EU gegen Flüchtlinge und Migranten abschotten. Der Pakt könnte aber dazu auch führen, dass neue Flüchtlinge kommen. Erstmals machen sich Kurden auf den Weg. Sie können, wenn es nach dem Pakt geht, bald visumfrei in der EU einreisen. Ein Ticket aus den Kurden-Gebieten nach Berlin kostet nur rund 60 Euro.
29.03.2016 01:10
Lesezeit: 3 min

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Can Merey von der dpa befasst sich in einer interessanten Analyse aus Diyarbakir mit den Folgen des EU-Deals mit der Türkei:

Für die türkische Küstenwache war es ein Novum: Im vergangenen Monat stoppte sie in der Ägäis nach eigenen Angaben erstmals Kurden aus der Südosttürkei, die der Gewalt dort entkommen und in der EU Zuflucht suchen wollten. Künftig können sich Kurden mit türkischem Pass den teuren und gefährlichen Seeweg sparen - wenn die Visapflicht für Türken bei Reisen in den Schengen-Raum wie geplant Ende Juni fallen sollte.

Dann könnten Kurden direkt nach Deutschland reisen. Zum Beispiel mit dem Flug von der Kurdenmetropole Diyarbakir um 07.10 Uhr via Istanbul, Ankunft Tegel 14.15 Uhr. Die Kosten liegen derzeit bei 200 Lira, umgerechnet 62 Euro - One Way, versteht sich. Das ist ein Betrag, den auch in der Türkei so gut wie jeder aufbringen kann.

Im Flüchtlingspakt mit Ankara hat die EU Visumfreiheit für Türken bis spätestens Ende Juni versprochen, wenn Ankara 72 Bedingungen erfüllt. Mehr als die Hälfte der Punkte - bei denen es etwa um Passvorschriften geht - sind abgearbeitet, die restlichen sollen bis Mai erledigt sein. Paradoxe Folge des Abkommens könnte sein, dass die EU sich zwar gegen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan abschottet - dass dafür aber massenhaft Kurden vor allem nach Deutschland kommen.

Das gilt besonders dann, wenn der Konflikt zwischen der Regierung und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Südosttürkei weiter eskalieren sollte, worauf alles hindeutet. «In Strömen werden Menschen in sicherere Regionen gehen wollen», sagt der Vorsitzende der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas. «Nicht nur Kurden, auch Türken könnten nach Europa fliehen.»

Bislang müssen Antragsteller für ein Visum für den Schengen-Raum glaubhaft versichern können, dass sie in die Türkei zurückkehren wollen. Wer kein Visum hat, kommt derzeit nicht einmal bis zum Flugzeug. Wenn die Visapflicht entfällt, sind zwar nur Aufenthalte von bis zu 90 Tagen erlaubt - und ein Recht darauf, sich in der EU niederzulassen und dort zu arbeiten, besteht nicht.

Dennoch könnten zahlreiche Türken versucht sein, mit Schwarzarbeit ihr Glück zu versuchen und nach der 90-Tage-Frist unterzutauchen. Wer als Türke Familie vor Ort hat, muss nicht fürchten, obdachlos zu werden - und Verwandte in Europa haben viele. Oppositionelle könnten erwägen, dem wachsenden politischen Druck in der Türkei zu entkommen. Nach Angaben des Justizministeriums laufen mehr als 1800 Verfahren alleine wegen Beleidigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Die mit Abstand größte Gruppe könnten aber Kurden werden, die vor den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Südosttürkei nach Europa und dort besonders nach Deutschland fliehen. Jeder, der es nach Deutschland schafft, darf dort Asyl beantragen - erst recht, wenn er vorher keinen anderen EU-Staat durchquert hat.

In Diyarbakir wissen überraschend viele Kurden über die geplante Visumfreiheit Bescheid. «Alle werden nach Deutschland gehen», meint die 43-jährige Yüksel. Einer ihrer Brüder kämpft nach ihren Worten für die PKK, zwei sind im Gefängnis, zwei wurden im Kampf getötet. Der 51-jährige Mustafa Cukus, der bei den Gefechten in Diyarbakir seine 16 Jahre alte Tochter Rozerin verloren hat, sagt: «Wenn ich die Möglichkeit hätte, nach Europa zu gehen, dann würde ich gehen. Ich glaube, jeder in meiner Lage würde gehen.»

Die zunehmende Gewalt in den Kurdengebieten hat nach Angaben der Regierung bereits mehr als 350 000 Menschen vertrieben. Bislang suchen sie im eigenen Land Schutz. Visumfreiheit würde das ändern, meint der Türkei-Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP). «Potenziell könnten 400.000 bis 500.000 türkische Flüchtlinge - vor allem Kurden - Asyl beantragen.»

Weniger Chancen auf Anerkennung hätten solche Asylbewerber, würde die EU die Türkei als «sicheres Herkunftsland» einstufen - womit Erdogan bescheinigt würde, dass in seinem Land die Menschenrechte geachtet werden und keine politische Verfolgung stattfindet. Weil daran in Europa Zweifel herrschen, gibt es starke Widerstände gegen eine solche Einstufung, für die sich etwa EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) aussprechen.

Türkei-Experte Jenkins glaubt nicht daran, dass die Visumfreiheit überhaupt kommt. «Ich denke, dass eher Schengen auseinanderbricht», sagt er. «Ich bin sicher, dass sich einige Staaten aus Schengen zurückziehen würden, bevor sie Türken visumfreie Einreise erlauben.» Für die Türkei ist Visumfreiheit aber der wichtigste Punkt im Pakt mit der EU. Sollte sich Ankara darum geprellt sehen, dürfte das Abkommen hinfällig werden. Erdogan könnte dann seine frühere Drohung wahr machen - und die Grenzen zur EU für Flüchtlinge öffnen.

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