Im Buch „Hans-Dietrich Genschers Außenpolitik“ von Kerstin Brauckhoff und Irmgard Schwaetzer heißt es:
„Obwohl die OSZE Anfang der 1990er Jahre als der gesamteuropäische Sicherheitsrahmen betrachtet wurde, der die Staaten von Vancouver bis Wladiwostok umfasst, schob sich die Nato in den Vordergrund, was Genscher als ,Rückfall in machtpolitisches Denken‘ kritisierte (…) So sei die Nato-Osterweiterung vom falschen Glauben ausgegangen, ,Sicherheit und Stabilität in Europa seien ohne oder gar gegen Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu gewährleisten (…) Der Ukraine-Konflikt scheint ihm Recht zu geben.“
Im August 2015 hatte er im Interview mit der SZ er den aktuellen Konfrontationskurs der Nato gegen Russland kritisiert: „Wir leben heute in einer globalisierten Welt und sind viel mehr als früher auf Kooperation zwischen den Staaten angewiesen. Die alte Politik der Konfrontation – Wer ist der Stärkere? Wer hat das Sagen? – ist unzeitgemäß. Wir brauchen die gemeinsame Kraft aller, um die Krisen um uns herum zu lösen. Dass wir dort, wo wir kooperieren, auch erfolgreich sind, hat vor Kurzem das Iran-Abkommen gezeigt. Die Russen hätten das locker blockieren können, wenn sie gewollt hätten. Haben sie aber nicht. Das heißt: Wenn beide Seiten es wollen, kann man.“
Als Forum für die Verständigung zwischen der Nato und Russland biete sich der „NATO-Russland-Rat“ an, der in den Medien nicht erwähnt wird. „Dass davon so wenig Gebrauch gemacht wird, verstehe ich nicht. Dieser Rat wurde ja gerade für diese Zeiten gemacht – nicht wenn die Sonne scheint, sondern wenn es regnet. Ich höre immer wieder, wie schwer es ist, alle gemeinsam an den Tisch zu bekommen. Natürlich ist das eine beschwerliche Prozedur“, so Genscher.
Die westlichen Sanktionen gegen Russland hielt er für falsch, da sie „nicht die Wirkung haben werden, die man sich“ erhoffe. Außerdem leide die deutsche Wirtschaft unter den Sanktionen. Das Ziel des Endes des Kalten Kriegs sei es gewesen, die Teilung Europas zu beenden. Stattdessen sei die Teilungsgrenze Europas nach Osten verschoben worden, kritisierte Genscher die Nato-Osterweiterung.
Ein Jahr zuvor sagte er zur Sanktionspolitik in der Phoenix-Sendung „Im Dialog“: „Ich habe meine Zweifel, ob wir am Ende sagen werden, das war eine besonders erfolgreiche Unternehmung (…) Sanktionen sind wie eine Leiter, immer eine Stufe höher, und auf einmal ist sie zu Ende. Dann stehen sie vor der Frage, ob sie wieder runterklettern oder runterspringen. Das möchte ich uns lieber ersparen.“
Die Empörung von Putin über Stationierungen von Truppen und Waffensystemen an der russischen Westgrenze hielt Genscher für berechtigt. Genscher wörtlich: „Russland hat natürlich auch akzeptiert, dass die unabhängig gewordenen Staaten Mitglied der Europäischen Union wurden. Wenn aber dann, zusätzlich zur Nato-Mitgliedschaft, etwas nicht mehr eingehalten wird, was man zugesagt hatte, wie in der Nato-Erklärung von 1997, die besagt, dass man nicht ständige Stationierungen in den neuen Mitgliedsländern vornehmen will, und dann dort Raketenabwehrstellungen gebaut werden sollen, dann bedeutet das eine Veränderung.“
Um Putin verstehen zu können, sei es wichtig, sich mit seinen Motivationen auseinander zu setzen: „Putin ist ein Mann, der eine klare Zielsetzung hat, eine Position zu schaffen, die nichts mehr zu tun hat mit der Schwächeposition eines Jelzins. Es lohnt sich, wenn man Politik mit diesem grossen Land macht. Es gibt in Europa keine Stabilität ohne Russland, und erst recht nicht gegen Russland.“