Deutsche Wirtschafts Nachrichten: US-Präsident Obama sagte bei seinem letzten Deutschland-Besuch, dass die EU bei den eigenen Rüstungsausgaben etwas selbstgefällig gewesen sei. Er fordert eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets der EU-Staaten. Wie würde sich das auf die Nato auswirken, wenn seinem Wunsch Folge geleistet wird?
George Friedman: Die Nato teilt die Krankheit der EU. Der NATO fehlt es an einem Konsens darüber, was nötig ist. Zudem fehlt es der NATO in der EU und in den USA an der notwendigen Unterstützung oder einer Führungsrolle. Kürzlich hat sie Montenegro erlaubt, dem Bündnis beizutreten. Ich denke nicht, dass sich die Europäer – auch in Bezug auf ihre Mitgliedschaft – über ihre Verpflichtungen im Klaren sind. Die USA hingegen kennen ihre Verpflichtungen. Das ist das fundamentale Problem. Die NATO ist ein Militärbündnis. Viele europäische Länder haben keine wirklichen Armeen. Europa hat 200 Millionen Menschen mehr als die USA und ein größeres BIP. Es sollte eine militärische Kraft haben, die mindestens dem der Amerikaner ebenbürtig ist. Doch das werden die Europäer nicht machen. Deshalb glaube ich, dass die USA überdenken werden, ob die NATO im nationalen Interesse der USA ist. Ich denke, dass die Europäer amerikanische Einmischung in Fragen der europäischen Sicherheit für selbstverständlich halten. Dies ist meiner Meinung nach ein großer Fehler. Die Bereitschaft der USA, die Sicherheit Montenegros ohne gleichwertige Anstrengungen der Europäer zu garantieren, untergräbt die Unterstützung für die Nato in einer dramatischen Art und Weise.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Auf der einen Seite stehen wir vor einer Zersplitterung der EU, aber auf der anderen Seite appellieren Obama und auch einige europäische Politiker an die Einheit in Europa.
George Friedman: Was Politiker wollen und was passiert, sind zwei verschiedene Dinge. Die EU ist nicht mehr angepasst an die Bedürfnisse und Interessen vieler seiner Mitglieder. Südeuropa befindet sich in einer Phase der Depression. Der Osten hat Angst vor Russland. Großbritannien denkt an den Brexit, weil es wenig Vertrauen in die europäischen Institutionen und nicht daran glaubt, dass diese die britischen Bedürfnisse berücksichtigen. Grundlegende Veränderungen in der Funktionsweise der EU werden benötigt. Aber die meisten Nationen, insbesondere Deutschland, sind nicht bereit sind, zu erkennen, dass die Art und Weise wie die EU organisiert wurde, der eigentliche Defekt ist. Das liegt daran, weil es den Nationen in der EU relativ gut ging. Einige wiederum sahen ihre Bedürfnisse nicht erfüllt. Es spielt wirklich keine Rolle, was die Politiker sagen. Es zählt nur, was sie wirklich tun. Und die Europäer sind durch ihre Vielfalt gelähmt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was wird mit der EU geschehen, wenn die EU-Mitgliedsstaaten ihre Rüstungsausgaben tatsächlich erhöhen?
George Friedman: Dann würde Europa eine starke Armee haben. Und deshalb werden sie – davon gehe ich aus – damit beginnen, die Verantwortung für die Bedrohungen um sich herum zu übernehmen. Das aktuelle Muster läuft so, dass die Europäer mehr Aktionen fordern, die USA dieser Aufforderung folgen und Verantwortung übernehmen und die Europäer sich dann über die „amerikanische Härte“ kritisieren. Wenn die Europäer eine dynamische militärische Kraft entwickeln, wird sich die Dynamik ändern. Die Europäer werden keine großen Verpflichtungen für eine signifikante militärische Größe eingehen. Aber viel wichtiger ist, dass es keine integrierte EU-Armee geben wird. Die Idee von einer EU-Armee gehört in die Fantasiewelt. Einige Länder, wie Polen, werden Geld ausgeben, aber Portugal nicht. Es gibt keinen Zustand, in dem Europa gemeinschaftlich auf die Verteidigung setzt. Einzelne Länder werden dies tun, aber nicht die EU als Ganzes.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die USA fordern von der EU, dass sie die finanzielle Belastung im Rahmen der Nato teilt. Doch diese militärische Aufrüstung muss einen Gegner haben. Wer soll der Gegner sein?
George Friedman: Jedes Mitglied der NATO ist verpflichtet, ausreichend Militär zu betreiben und zu führen, um den strategischen Interessen der Nato zu dienen. Natürlich hat die Nato an dieser Stelle keine sinnvolle Strategie für Russland oder den Nahen Osten. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die EU nur eine wirtschaftliche Vereinbarung ist. Die militärische Kooperation steht hier nicht im Vordergrund. Die USA erwarten weder ein EU- noch ein Nato-Engagement. Stattdessen setzen die USA auf bilaterale Abkommen, wie mit Polen oder Rumänien.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie würden die Beziehungen zwischen der Nato und einer EU-Armee sein?
George Friedman: Nochmal, ich denke nicht, dass es eine EU-Armee geben wird. Die EU kämpft um ihr Überleben. Sie wird keine integrierte militärische Kraft haben. Für die Nato hingegen sind die Regeln eindeutig. Die einzelnen Länder sind Mitglieder und jeder muss einen bestimmten Teil seines Budgets für die NATO bereitstellen. Das hat wirklich nichts mit der EU zu tun. Die Zusammenarbeit läuft über Deutschlands oder Italiens Vertragsverpflichtungen gegenüber der NATO.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist es aber prinzipiell möglich, eine EU-Armee zu gründen, die völlig unabhängig von der NATO agiert?
George Friedman: Natürlich ist es möglich. Das hat etwas damit zu tun, verbindliche EU-Regeln aufzustellen, denen die Mitglieder auch wirklich Folge leisten. Es ist möglich, aber es wird nicht passieren. Nachdem wir ja gesehen haben, wie die EU mit den wirtschaftlichen Fragen umgegangen ist, wird kein Land seine Sicherheit der EU übertragen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie wird Russland auf die Erhöhung der Rüstungsausgaben der EU-Staaten reagieren?
George Friedman: Russland wird harte Aussagen treffen. Russland steht vor ernsten wirtschaftlichen Problem und gelangt an seine Grenzen bei den Verteidigungsausgaben. Das bedeutet aber auch, dass Russland keine militärische Antwort hat. Die Russen werden wütend sein und Drohungen aussprechen. Doch Russland kann militärisch nicht viel machen. Länder wie Deutschland hingegen wollen einen Konflikt vermeiden, falls dies möglich ist.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Bundesregierung unterstützt die Idee der Gründung einer EU-Armee. Deutschland will eine führende Rolle bei dieser Angelegenheit spielen. Was bedeutet das für Kontinentaleuropa, wenn man bedenkt, dass Deutschland das europäische Gravitationszentrum ist?
George Friedman: Wenn dies tatsächlich stattfinden sollte, wird es eine Armee unter deutscher Kontrolle sein. Und genau das ist der Grund, warum es nicht dazu kommen wird. Können sie sich vorstellen, dass Frankreich oder Polen eine derartige Entwicklung begrüßen würde? Die Polen, Franzosen und andere EU-Staaten würden wollen, dass Deutschland eine untergeordnete Rolle im Rahmen einer EU-Armee spielt. Das wiederum würden die Deutschen nicht akzeptieren.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Nun befinden sich mehrere Staaten in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Ist es finanziell überhaupt möglich, dass diese Nationen ihre Verteidigungsbudgets erhöhen können?
George Friedman: Ja, es ist möglich. Das ist keine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Denken sie an Anfang 2000. Damals gab es keine Krise und die EU-Staaten wollten trotzdem ihre Rüstungsausgaben nicht erhöhen. Es gibt Annahmen, die die europäische Verteidigung betreffen. Eine davon ist die Überzeugung, dass Europa keine Sicherheitsbedrohungen hat. Die andere ist die Überzeugung, dass die USA allein die Verantwortung für Sicherheitsfragen übernehmen werden. Weder die eine noch die andere Annahme ist gültig.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sind die osteuropäischen und baltischen überhaupt fähig, ihre Rüstungsausgaben über zwei Prozent des BIPs zu erhöhen?
George Friedman: Ich habe die Polen gefragt, ob sie ihre Rüstungsausgaben im Jahr 1935 auf 20 Prozent des BIPs erhöht hätten, wenn sie gewusst hätten, welcher Horror auf sie zwischen 1939 bis 1989 wartete? Die Antwort war natürlich, dass sie es gemacht hätten, wenn sie es gewusst hätten. Damals glaubten sie, dass Frankreich und Großbritannien sie retten würde, oder dass Deutschland und die Sowjets keine so große Bedrohung seien. Israel und Saudi-Arabien haben beide massiven Verteidigungsbudgets, weil sie verstehen, was passieren könnte. Das Hemmnis die Rüstungsausgaben in Europa zu erhöhen, besteht darin, dass die Europäer der Fantasie folgen, dass seit dem Ende des Kalten Kriegs keine Bedrohung mehr vorhanden sei und die jahrhundertelangen Konflikte vorbei seien. Das ist absurd, aber das ist die Ansicht der Europäer. Es gibt keine wirtschaftliche Hürde, damit die Europäer ihre Rüstungsausgaben erhöhen. Es liegt ein Fehler in der Wahrnehmung der Europäer vor.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Welche Rolle wird die Türkei spielen, die auch Mitglied der Nato und ein EU-Beitrittskandidat ist?
George Friedman: Es ist das Glück der Türkei, dass sie aus der EU ausgeschlossen wurde. Sonst würde das Land das Schicksal der südeuropäischen Staaten teilen. Es wird zwar über den EU-Beitritt diskutiert werden. Doch es wird keinen EU-Beitritt geben. Tatsache ist, dass die Türkei eines der stärksten Armeen in Europa hat. Sie verfügt über eine erhebliche Armee. Es ist ein Nato-Mitglied und wie alle anderen Nato-Staaten richtet sie ihre Rüstungsausgaben für die kollektive Verteidigung nach ihren eignen Interessen. Die Türkei bekommt relativ wenig militärische Unterstützung von den europäischen Staaten. Daran wird sich auch nichts ändern.
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George Friedman ist Vorsitzender und Gründer der Firma Global Futures, die auf geopolitische Prognosen spezialisiert ist. Davor war Friedman Vorsitzender der globalen nachrichtendienstlichen Firma Stratfor, die er im Jahr 1996 gegründet hatte. Er ist der Autor von sechs Büchern, zu denen auch die New York Times Bestseller „The Next Decade and The Next 100 Years“ und „Flashpoints: The Emerging Crisis in Europe“ gehören.