Seit meinem vor neun Jahren erschienenen Buch „Deutschland global?“ habe ich mich mit „Falsch globalisiert“ (2006), „Globalisierung: Legende und Wahrheit“ (2008), „Ich sage nur China“ (2013) bis zu meinem letzten Buch „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“ (2014) und mit vielen Einzelbeiträgen immer wieder kritisch mit den Folgen einer ungebremst neoliberalen Globalisierung für die entwickelten Industrieländer beschäftigt. Die Bedeutung des Themas ist über die Jahre noch erheblich gewachsen, vor allem weil China immer mehr zur Werkbank der Welt wurde und mit billigster Arbeitskraft die Konkurrenz von den Märkten vertreiben konnte. Auch baut sich nun endlich im Zeichen der Eurokrise, vor allem in Frankreich, immer mehr Widerstand gegen diese Entwicklung auf.
Branko Milanovic, Professor an der John Hopkins University und einer der Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank hat in einer neuen, viel beachteten Veröffentlichung vom April dieses Jahres unter dem Titel „Winners of Globalization: The Rich and The Chinese Middle Class. Losers: The American Middle Class“ die Folgen dieser Form von Globalisierung sehr pointiert dargestellt. Dabei steht die verlierende amerikanische Mittelklasse für alle Mittelklassen in den entwickelten Industrieländern. So hat er die Einkommensentwicklung des 8. Einkommenszehntels in China mit der des 2. Einkommenszehntels in USA verglichen, weil diese beiden Gruppen im globalen Wettbewerb vergleichbar sind. Während die amerikanische Gruppe, die dort zu der ärmeren Bevölkerung zählt, in 23 Jahren seit 1988 pro Kopf etwa 20 Prozent an Realeinkommen dazugewonnen hat oder etwa magere 0,8 Prozent pro Jahr, hat die chinesische ihr Einkommen um das 6,5-Fache erhöht oder etwa 8,5 Prozent pro Jahr und ist nun fast auf demselben Niveau.
Zwischen 1988 und 2008 gewann die chinesische Mittelklasse also enorm dazu, während in den USA die untere Mittelklasse einkommensmäßig stagnierte und im globalen Maßstab das oberste reichste Hundertstel aller Haushalte der Welt fast 70 Prozent an realem Einkommenszuwachs verzeichnete.
Die Verlierer waren im globalen Rahmen hauptsächlich Menschen, die in ihren Ländern zur unteren Hälfte der nationalen Einkommensverteilung gehören. Die um den Median der Einkommensverteilung (die Mitte zwischen den unteren und den oberen Einkommen) haben über den gesamten Zeitraum in Deutschland real nur 7 Prozent dazugewonnen, in den USA 26 Prozent und in Japan sogar verloren. Auch nach Eurostat hat das deutsche Medianeinkommen real in den 17 Jahren zwischen 1996 und 2013 gerade einmal um 4,7 Prozent zugelegt, weniger als 0,3 Prozent pro Jahr oder so schlecht wie gar nicht.
Die Bewegung auf der chinesischen Seite durch die globale Einkommensverteilung gleicht nach Milanovic einer riesigen Welle, der eine tiefe Senke in den unteren Mittelklassen der entwickelten Industrieländer entspricht. Es sei wahrscheinlich, dass diese Welle von mindestens einigen zusätzlichen Wellen gefolgt wird, entweder vom restlichen China (die landesinneren, noch sehr armen und bevölkerungsreichen Landesteile) oder später aus Indonesien, Nigeria, Indien, etc. Eine solche Entwicklung könnte sich für die entwickelten Industrieländer destabilisierend auswirken, warnt Milanovic.
Eigentlich sollte diese Situation niemanden überraschen. Insgesamt hat die seit etwa dem Jahr 2000 verstärkt einsetzende weltwirtschaftliche Integration Osteuropas und der großen Schwellenländer China und Indien mit einer Bevölkerung von ca. 2,7 Milliarden Menschen das Verhältnis von Kapital und Arbeit in der Welt grundsätzlich und für sehr lange Zeiten geändert. So hat sich nach Schätzungen von Harvard-Professor Richard Freeman in nur wenigen Jahren die Zahl der Arbeitskräfte im globalen Wirtschaftssystem von 1,46 Milliarden auf 2,93 Milliarden verdoppelt, ohne dass das über Investitionen nach Arbeit suchende Kapital (im Unterschied zum Spekulationskapital) entsprechend zunahm.
Mehr als die Hälfte der Zunahme an Arbeitskräften und wahrscheinlich 80 Prozent der exportrelevanten Arbeitskraft entfällt dabei allein auf China. China hat extrem niedrige Arbeitskosten und kann mit der Ausbeutung seiner etwa 250 Millionen Wanderarbeitnehmer immer mehr Industrieproduktion aus der Welt an sich ziehen und zugleich in den alten Industrieländern die Löhne unter Druck setzen. In China gibt es nur die Staatsgewerkschaften, die sich mehr für die Unternehmensleitungen einsetzen als die Rechte der Arbeitnehmer. Das Streikrecht ist nicht anerkannt, so dass nur wilde Streiks stattfinden können. Die Sozialversicherung ist bisher trotz aller Pläne nur rudimentär, so dass die Arbeitnehmer für alle Schicksalslagen sparen müssen. Eine Studie der Boston Consulting Group zeigte, dass im Jahr 2000 der Lohn einer chinesischen Arbeitskraft noch etwa 3 Prozent von dem eines amerikanischen Arbeitnehmers betragen hat. Dieser Anteil ist auf 4 Prozent in 2005 und 9 Prozent in 2010 gestiegen. In der chinesischen Stadt Guangzhou, wo sehr viel Exportindustrie angesiedelt ist und die Löhne besonders hoch sind, soll der durchschnittliche Monatslohn nach neuester Statistik 873 Euro betragen, was allerdings die schlechter bezahlten Wanderarbeitnehmer nicht einschließen dürfte. Der monatliche Mindestlohn lag 2012 für Shenzhen, eines der Hauptexportzentren, bei 240 US-Dollar/180 Euro.
Besonders die Bundesregierung hat unter dem Druck der deutschen Exportkonzerne auf eine rasche Aufnahme Chinas in die für Marktwirtschaftsländer konzipierte Welthandelsorganisation gedrängt und so entscheidend mitgeholfen, China die Märkte der alten Industrieländer für seine sehr oft unfair dumpenden Exportoffensiven brutal aufzureißen. Ebenso wurde beispielsweise die Ausbeutung der Niedrigstlöhne in Ländern wie Kambodscha ermöglicht. Dort verdiente 2013 ein für europäische Modehäuser beschäftigter Textilarbeiter im Monat gerade einmal 80 US-Dollar/58 Euro. Aus ähnlichen Motiven waren deutsche Industrie und Bundesregierung an einer schnellen Erweiterung der EU auch noch um die rückständigen Niedrigstlohnländer Rumänien und Bulgarien interessiert.
Die Arbeitskosten in diesen Ländern betrugen 2012 nur knapp 17 Prozent bzw. knapp 14 Prozent derer in Deutschland. Noch bevor mit dem Auslaufen der viel zu kurz bemessenen EU-Übergangsregelung ab 2014 alle Schranken fielen und auch Arbeit frei aufgenommen werden konnte, war der Zuzug aus beiden Ländern nach Deutschland stark angestiegen. Nachdem 2007 die visafreie Einreise eingerichtet wurde, sprang die Zahl der jährlich aus beiden Länder Einreisenden von 45.000 auf 523.000 in 2011 hoch. Auch Großbritannien, das neben Deutschland besonders für die rasche Aufnahme beider Länder in die EU eingetreten war, beklagt nun die Einwanderungswelle und wird möglicherweise deswegen im bevorstehenden Referendum gegen den Verbleib in der EU stimmen. Mitte 2013 kam aus diesen Ländern schon fast ein Drittel mehr in Großbritannien an als in der Vorjahresperiode und für die nächsten fünf Jahre wird mit jährlich 50.000 Neuankömmlingen gerechnet. Sowohl die niedrigen Produktionskosten in diesen Ländern wie die Einwanderung haben natürlich lohndrückende Auswirkungen auf Deutschland wie auf andere Länder der Alt-EU.
Die durch die neoliberale Globalisierung ermöglichte und nun glaubwürdige Drohung der Arbeitgeber mit Betriebsverlagerungen oder -schließungen hat die Gewerkschaften in den alten Industrieländern erheblich geschwächt. Die größten deutschen Konzerne sind noch weit internationaler aufgestellt als der Durchschnitt ihrer Konkurrenten im Ausland. So hatten die DAX 30-Unternehmen schon 2011 nur noch 41,6 Prozent ihrer Beschäftigten im Inland. In der gewerblichen Wirtschaft insgesamt ist der Auslandsanteil am Umsatz seit 2005 bis fast auf die Hälfte gestiegen.
Bisher leidet Deutschland noch weniger unter der Konkurrenz aus China, weil es dorthin die Industrieanlagen liefert, auf denen die später auf den Weltmärkten gedumpten Waren produziert werden. Doch mit der Zeit wird China diese Anlagen selbst und billiger bauen können oder Unternehmen in Deutschland aufkaufen, um sich die Technologie zeitsparend anzueignen. Schon jetzt haben aber vor allem die Eurokrisenländer, wie Italien oder auch Frankreich, für viele ihrer traditionellen arbeitsintensiven Produkte die Märkte an China verloren. Diese Krise erreicht damit bereits jetzt Deutschland über die gefährlich wachsenden Ungleichgewichte der Eurozone.
Nun aber dröhnen uns bereits die Trommeln für eine weitere Globalisierungswelle in den Ohren: das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP. Für Bundeswirtschaftsminister Gabriel geht es um Millionen von Menschen, die in der EU auf den Freihandel angewiesen seien; Hunderttausende arbeiteten in mittelständischen Unternehmen, die ohne TTIP keine Chance hätten, auf den amerikanischen Markt zu kommen. Auf der Webseite seines Ministeriums wird uns versprochen:
„Die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft ist ein außergewöhnliches gemeinsames Projekt, das erhebliche Wachstums- und Beschäftigungseffekte erzielen kann. Ein transatlantisches Abkommen wird der EU und den USA neuen Schwung für Wirtschaft und Arbeitsmarkt bringen.“
Allerdings liegt seit vergangenem Monat erstmals ein Gegengutachten vom Global Delevopment and Environment Institute an der amerikanischen Tufts-Universität vor. Darin hat der Autor Jeronim Capaldo errechnet, daß das TTIP auf die EU-Staaten eine geradezu verheerende Wirkung haben dürfte. Fast 600.000 Arbeitsplätze würden demnach bis 2025 verloren gehen. Selbst wenn der Arbeitsplatz-Abbau über mehrere Jahre gestreckt ist, würde er zu gravierenden sozialen Veränderungen in den heute noch vergleichsweise reichen EU-Staaten führen. Deutschland würde 134.000 Jobs verlieren, Frankreich 130.000 und Nordeuropa gar 223.000 Jobs. Das deutsche Jahres-Arbeitnehmereinkommen würde um 3.400 Euro pro Arbeitnehmer fallen. Dabei würden Deutschlands Exporte um 1,1 Prozent zurückgehen. Auch die deutsche Gesamtwirtschaftsleistung würde um 0,3 Prozent sinken (Abb. 18569, 18570).
Die Frage „Wie viel Globalisierung verträgt unsere Welt?“, wobei „unsere“ Welt die in Deutschland und bei unseren Europartnern anspricht, ist also eher provozierend gemeint, da die Antwort für mich auf der Hand liegen sollte.
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.