Technologie

Medizinische Tests an Mikrochips ersetzen Tierversuche

Lesezeit: 2 min
04.02.2015 10:23
Ein neuer Mikrochip-Organismus könnte künftig Tierversuche ersetzen. Das Multi-Organ-System pumpt ähnlich wie das Herz Flüssigkeiten durch Zellproben. Damit lassen sich die komplexen Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper exakt nachahmen.
Medizinische Tests an Mikrochips ersetzen Tierversuche

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Forscher des Fraunhofer-Instituts haben gemeinsam mit der TU Berlin eine neuartige Lösung entwickelt, die Tierversuche in der Medizin oder Kosmetikindustrie überflüssig machen könnte: Einen Multiorgan-Chip, der die komplexen Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper verblüffend genau nachstellt.

„Unser System ist ein Miniorganismus im Maßstab 1:100 000 zum Menschen“, so Sonntag. In dem Chip lassen sich an mehreren Positionen menschliche Zellen aus verschiedenen Organen aufbringen. Die Zellen haben die Forscher aus Blutspenden gewonnen, die für Forschungszwecke zur Verfügung stehen. Diese „Mini-Organe“ sind durch winzige Kanäle miteinander verbunden. „Damit simulieren wir den menschlichen Blutkreislauf“, erklärt Dr. Frank Sonntag vom Fraunhofer-Institut für Werkstoff und Strahltechnik IWS.

Eine Mikropumpe befördert – ähnlich wie das menschliche Herz – kontinuierlich flüssiges Zellkulturmedium durch feine Mikrokanäle. Den genauen Aufbau des Chips, also die Anzahl der Mini-Organe und die Verbindung mit den Mikrokanälen, können die IWS-Forscher spezifisch an unterschiedliche Fragestellungen und Anwendungen anpassen. Mit dem Chip lassen sich sowohl Wirkstoffe von neuen Medikamenten testen als auch Kosmetika auf ihre Hautverträglichkeit untersuchen.

Weltweit arbeiten Forscher an Alternativen zu Tierexperimenten. Doch Ersatz zu finden, ist schwierig. Denn um die Wirkung einer Substanz zu verstehen, genügt es nicht, die Stoffe an einzelnen Gewebeproben oder Zellen zu testen. „Die meisten Medikamente wirken systemisch, also auf den gesamten Organismus. Dabei entstehen oftmals erst durch Stoffwechselvorgänge toxische Substanzen, die wiederum nur bestimmte Organe schädigen“, erklärt Sonntag.

Die Idee, verschiedene Zellproben mit Fluidkanälen zu verbinden, gibt es schon länger. Das neue System hat jedoch gegenüber bisherigen Ansätzen zwei entscheidende Vorteile: Zum einen ist das Mikrofluidiksystem extrem miniaturisiert. Die Pumpe ist in der Lage, winzigste Fördermengen von unter 0,5 Mikroliter pro Sekunde durch die Kanäle zu schleusen. „Dadurch ist das Verhältnis zwischen Zellprobe und flüssigem Medium realitätsgetreu“, erläutert Sonntag. Zweitens sorgt das Mikrofluidiksystem für eine Strömung – wie das menschliche Blut fließt das Medium kontinuierlich durch den gesamten Kreislauf auf dem Chip. Das ist wichtig, da manche Zelltypen sich nur dann »authentisch« verhalten, wenn sie durch eine Strömung angeregt werden.

Um die Wirkung einer Substanz zu testen, bestücken die Wissenschaftler zunächst den Chip mit verschiedenen Zellproben. Der zu testende Wirkstoff wird dann über das Medium der Zellprobe desjenigen Organs zugeführt, an dem der Stoff im menschlichen Körper in den Blutkreislauf eintreten würde. Das sind zum Beispiel Zellen aus der Darmwand. Auf dem Chip laufen dann die gleichen Stoffwechselreaktionen wie im menschlichen Organismus ab.

„Wir verwenden Zellproben unterschiedlicher Geschlechter und Ethnien. Variationen von Körpergröße und -Gewicht können wir im Maßstab von 1:100 000 beliebig nachstellen“, so Sonntag. Die Forscher sehen genau, welche Stoffwechselprodukte sich in bestimmten Zellproben bilden und ob und welche Auswirkungen dies auf andere Zellen hat. Die Ergebnisse sind letztlich sogar aussagekräftiger als Tierexperimente: Denn die Wirkungen auf den Körper einer Maus oder Ratte lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen.

Bei einigen Unternehmen, etwa in der Kosmetikindustrie, ist der künstliche Organismus bereits im Einsatz. Neben der Wirkstoffforschung gibt es aber noch weiteres Anwendungspotenzial: „Man weiß heute, dass bestimmte Nierenzellen, so genannte Endothelzellen, bei fast allen Nierenerkrankungen eine Schlüsselrolle spielen. Bisher gab es bei In-vitro-Tests das Problem, dass Endothelzellen nur unter Strömung funktionieren. Hier könnte unser Multiorgan-Chip eine Testumgebung bieten, in der sich beobachten lässt, wie sich Zellen nach einer Schädigung regenerieren“, so Sonntag.

Als Alternative zu Tierversuchen wurde der künstliche Mini-Organismus kürzlich mit dem Tierschutz-Forschungspreis 2014 ausgezeichnet.

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Ratgeber
Ratgeber Sichere Mobilgeräte für Ihr Business: Das Samsung Security Ecosystem

In vielen Unternehmen sind Smartphones und Tablets längst zum unverzichtbaren Arbeitsmittel geworden. Je nach Einsatzgebiet sind die...

DWN
Politik
Politik Sorge um Privatsphäre: Bayern ändert Gesetz zu Funkwasserzählern
28.09.2023

Der Einbau von Funkwasserzählern im eigenen Wohnbereich ist für viele Einwohner ein Problem. Sie sind besorgt über die bezogenen Daten...

DWN
Politik
Politik Economic Statecraft für die ökologische Wende
28.09.2023

Die Europäische Union steht vor zwei entscheidenden Herausforderungen. Jüngste globale Schocks wie die COVID-19-Pandemie und die...

DWN
Immobilien
Immobilien Baugipfel: Die Immobilienwirtschaft fordert mehr, und das bitte im „Turbo-Tempo“
28.09.2023

Die Maßnahmen der Bundesregierung nach dem Baugipfel im Kanzleramt im Kampf gegen die dramatische Lage am Wohnungsmarkt und in der...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Chinas subventioniertes Überholmanöver mit den Elektrofahrzeugen
28.09.2023

Innerhalb kürzestes Zeit hat sich Chinas Automobilbranche neu erfunden. Vom einstigen hässlichen und kränkelndem Entlein ist ein...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Online-Reisebüros: EU-Kommission untersagt Booking den Kauf von Flugvermittler
28.09.2023

Fusionskontrolle: Erste Ablehnung einer Übernahme in diesem Jahr. Geballte Marktmacht hätte einen fairen Wettbewerb der...

DWN
Politik
Politik Bundeskanzler Scholz gibt Bayern Mitschuld an hohen Energiepreisen
28.09.2023

Die deutsche Industrie leidet unter zu hohen Strompreisen. Bundeskanzler Scholz gibt dem Land Bayern Mitschuld. Er fordert starke...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Slowakei-Wahlen: Unsicherheit bei Deutschen Unternehmen?
28.09.2023

Die Parlamentswahlen in der Slowakei am 30. September könnten ein Comeback des ehemaligen Ministerpräsidenten Robert Fico bedeuten. Unter...

DWN
Politik
Politik Abgang eines Vordenkers - die CDU zerlegt sich in der AfD-Debatte
27.09.2023

Mit dem Rücktritt des Chefs ihrer Grundwertekommission, dem Historiker Andreas Rödder, ist das Debakel in der CDU nicht mehr zu...