] Als am 21. Juli 2023 der „Barbie“-Film Premiere hatte, schnellten die Suchanfragen für das Birkenstock-Modell Arizona um 346 Prozent in die Höhe. Der Grund: In einer der Schlüsselszenen des Films bekommt Barbie die Wahl zwischen pinkem High Heel und einem Paar brauner Birkenstock-Sandalen. Die Szene ging viral ging und machte das Modell Arizona zum Kassenschlager und Birkenstock über Nacht zum globalen Fashion-Hype. Bloomberg titelte: „Barbie put Birkenstock into the luxury spotlight“. Und die US-Ausgabe der Vogue konstatierte: „These $110 Sandals Have Barbie’s Stamp of Approval”.
Wie ein Fernsehmanager das Traditionshaus umkrempelte
Wer verstehen will, wie aus einer orthopädischen Sandale ein globales Luxusprodukt wurde, muss weit zurück in der Zeit. Nicht an die Wallstreet ins Jahr des IPO (2023), sondern in die Provinz nach Hessen ins Jahr 1774. Wetterau, zwischen Taunus und Vogelsberg gelegen, war damals eine bäuerlich geprägtes Dorf. Im Kirchenbuch findet sich zu dieser Zeit ein schlichter Eintrag: „Johannes Birkenstock, Schuhmacher“.
Was vor 250 Jahren mit handgefertigten Schuhen begann, steht heute für eine globale Lifestyle-Marke, geführt von einem CEO, der eigentlich ganz woanders herkommt, und vielleicht gerade deshalb so gut passt: Oliver Reichert, ehemaliger Sportfernsehmanager. „Die beste Marke ist eine, die aus einer Überzeugung geboren wurde“, sagte Reichert im Interview mit dem SPIEGEL im Herbst 2023.
Konrad Birkenstock entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts erste orthopädische Einlagen, sein Sohn Carl perfektionierte das Konzept und brachte es schließlich in die Physiotherapie. In einer Zeit, in der man Schuhe polierte statt hinterfragte, war das unternehmerisch geradezu revolutionär. Das erste Modell „Madrid“ wurde 1963 eingeführt und ist bis heute ein Verkaufsschlager.
Reichert, der nicht aus der Gründerfamilie stammt, erinnert sich im SPIEGEL an seine erste Begegnung mit der Marke: „Ich dachte erst: Was für ein hässlicher Schuh. Aber dann merkt man: Der ist so gebaut, dass man aufrechter geht.“ Diese Aufrichtigkeit im Design, so Reichert, sei heute das eigentliche Luxusversprechen von Birkenstock.+
Wie ein Fernsehmanager das Traditionshaus umkrempelte
Oliver Reichert war kein modisch geprägter Luxus-Visionär, sondern Chefredakteur und schließlich Geschäftsführer beim Deutschen Sportfernsehen DSF, dem späteren Sport1. Der heute 52-Jährige kam 2008 zu Birkenstock, ein Schritt, der in der Branche zunächst als Kuriosität galt. Doch gerade dieser Bruch war sein Vorteil. „Ich war nicht aus der Szene, ich war unbelastet. Ich habe das Produkt gesehen, nicht die Marke“, sagte Reichert dem SPIEGEL.
Er digitalisierte Prozesse, baute ein Führungsteam auf, stellte Vertrieb und Produktion neu auf. Reicherts Logik war simpel: „Gute Produkte sind keine Frage des Geschmacks, sondern des Verständnisses“, so Reichert. Gleichzeitig wurde die Familie befriedet, eine neue Gesellschaftsstruktur etabliert und Birkenstock für das 21. Jahrhundert fit gemacht.
In einem Interview mit Vogue Business im März dieses Jahres betont Oliver Reichert, wie stark der kulturelle Wandel Teil der Strategie war: „Wir stehen über der Mode. Wir jagen keinen Trends hinterher. Trends kommen und gehen, aber wirklich gute Dinge halten ewig“, sagt er. „Wer eine Marke mit einer 250-jährigen Geschichte führt, denkt in ganz anderen Zeiträumen.“
Barbie und der Popkultur-Boost
Die bereits erwähnte Szene aus „Barbie“, in der die Titelheldin vor die Wahl zwischen High Heel und Sandale gestellt wird, war ein Volltreffer. Sie ging viral, das Modell Arizona wurde zum TikTok-Hype. „Das war keine Kooperation. Wir wussten davon nichts. Aber es war eine perfekte Fallhöhe. Ein pinkes Symbol für das echte Leben, das sind wir”, merkt Reichert im SPIEGEL trocken an. „Ich habe keinen einzigen Euro für das Placement gezahlt, aber wahrscheinlich kriegen wir nie wieder so einen Moment.“
Für Birkenstock war dieser cineastische Zufall ein wahrer Brandinghebel, denn er verschob die Wahrnehmung der Marke von Funktion zu Faszination, ohne dabei das Produkt zu verändern. Die Aufmerksamkeit, die andere sich teuer erkaufen müssen, bekam Birkenstock quasi geschenkt. Und das kurz vor dem IPO, also mitten in der strategischen Expansion.
IPO in New York: Hoch gepokert, hoch bewertet
Drei Monate nach der Premiere von „Barbie“ geht Birkenstock im Oktober 2023 an die Börse, nicht in Frankfurt, sondern an der New York Stock Exchange. Warum? „Weil uns die Amerikaner verstehen“, so Reichert im Handelsblatt. In den USA erwirtschaftet Birkenstock mehr als die Hälfte seines Umsatzes. „Dort gelten wir nicht als deutscher Schuhhersteller, sondern als Erfinder des Fußbetts.“
Die Erstbewertung lag bei rund 8,6 Milliarden US-Dollar. Birkenstock platzierte 32 Millionen Aktien zu 46 Dollar pro Stück, das IPO brachte 1,5 Milliarden ein. Reichert: „Das war die zweitbeste Möglichkeit, die beste wäre gewesen, wenn wir als Familie weitergemacht hätten”, so Reichert. “Aber das ging nicht.“ Tatsächlich verzichtete Birkenstock bewusst auf den maximal möglichen Ausgabepreis, wie Reichert dem SPIEGEL veriet „Ich will nicht alles bis zum Anschlag ausreizen. Kontrolle ist mir wichtiger als Gier.“
Das Börsendebüt wurde seinerzeit von Analysten als „unzeitgemäß mutig“ bewertet. Sie betonten, wie ungewöhnlich es sei, in einem von Zinssorgen, hoher Inflation und Konsumzurückhaltung geprägten Umfeld überhaupt einen Börsengang zu wagen. Doch die Strategie ging auf: Birkenstock wurde eine der sichtbarsten Notierungen des Jahres 2023.
Bernard Arnault und das „deutsche Unikat“
Dass ein deutsches Traditionsunternehmen plötzlich unter dem Dach eines französischen Luxuskonzerns operiert, ist nicht selbstverständlich. Doch Birkenstock gehört heute mehrheitlich L Catterton, dem Private-Equity-Arm des Weltkonzerns LVMH (Moët Hennessy – Louis Vuitton SE) sowie der privaten Arnault-Holding Financière Agache. Hinter dem Investment steht Bernard Arnault, Vorstandschef von LVMH.
„Die Märkte in Asien kennt in Europa kaum jemand besser als LVMH”, sagt Oliver Reichert, “und sie lieben wirklich unsere Marke.“ Was das konkret heißt: Mehr Filialen in China, Indien und dem Nahen Osten, dazu E-Commerce-Ausbau und neue Produktlinien, etwa mit geschlossenen Schuhe und Berufsschuhe.
Laut Reichert liegt die EBITDA-Marge bei 30 Prozent, das Umsatzwachstum bei 15 bis 18 Prozent pro Jahr. Die größten institutionellen Investoren sind Ron Baron (Baron Capital), die norwegische Zentralbank Norges Bank und HOOPP (Healthcare of Ontario Pension Plan), allesamt langfristig orientierte Anleger. „Wir haben sie alle vorher nach Deutschland geholt. Jeder Investor musste verstehen, was Birkenstock bedeutet. Erst dann durfte er mitmachen.“ Im SPIEGEL nennt Reichert Birkenstock „die am wenigsten modische Modemarke der Welt“. Gerade das mache ihren Charme aus. „Wir machen keine Sneaker. Wir machen Haltung.“
Von den Anfängen über die NS-Zeit zur Design-Ikone
Zum 250-jährigen Jubiläum im Jahr 2024 lässt Birkenstock ein 688-seitiges Buch im renommierten Göttinger Steidl-Verlag veröffentlichen, “The Book of Birkenstock”, gestaltet von der namhaften Designagentur Bureau Borsche. Gleichzeitig wurde ein digitales Markenarchiv eingeführt, das visuell gestaltet auf mobilen Endgeräten funktioniert und gleichsam als Unternehmensarchiv und Markenerlebnis funktioniert.
Die Frankfurter Historikerin Andrea Schneider-Braunberger, die das Projekt wissenschaftlich begleitete, nennt es ein “Lehrstück für markenbasierte Resilienz”. Birkenstock habe seine NS-Zeit offen und faktenbasiert erforschen lassen, was unter deutschen Traditionsunternehmen nach wie vor ungewöhnlich ist. Im Gespräch mit Bloomberg verweist Reichert genau darauf: “Wir sind eine deutsche Marke. Und dazu gehört auch Verantwortung. Wir haben uns dieser Verantwortung gestellt, im Guten wie im Schwierigen.”
Ist das Kunst oder kann das weg? Weder noch
Alles begann im Jahr 2021, als Birkenstock versuchte, das Design seines Klassikers „Madrid“ als urheberrechtlich geschütztes Kunstwerk eintragen zu lassen, ein strategischer Schritt, um sich über das Wettbewerbsrecht hinaus besser gegen Nachahmer abzusichern. Anlass war ein Rechtsstreit vor dem Landgericht Düsseldorf, in dem das Unternehmen argumentierte, seine Sandale sei mehr als ein Gebrauchsgegenstand, sie sei Ausdruck gestalterischer Originalität.
Der Bundesgerichtshof sah das anders. Im Februar 2025 entschied das oberste deutsche Zivilgericht, dass es sich bei dem Modell nicht um ein „Werk der angewandten Kunst“ im Sinne des Urheberrechts handele. Der gestalterische Eigenwert, so die Richter, sei „nicht ausreichend“, um eine Schutzwürdigkeit wie bei bildender Kunst anzunehmen. Das Fußbett, die Riemenkonstruktion, das reduzierte Design, alles diene dem Gebrauch, nicht dem schöpferischen Ausdruck. Für Birkenstock war das kein Rückschlag, im Gegenteil: Die Entscheidung unterstrich den Status der Marke als kulturelles Grenzphänomen.