Politik

Italien: Arbeitsmarkt von Arbeiter-Aristokraten und Niedriglöhnern

Die Arbeitsrechts-Reform von Mario Monti bringt Italien vor allem neuen Bürokratie. Das wirkliche Problem wird nicht gelöst: Neben einer unantastbaren Arbeiterbürokratie haben Beschäftigte im Niedriglohn-Sektor oder Arbeitslose kaum Chancen auf einen Aufstieg.
05.07.2012 01:06
Lesezeit: 3 min

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Herr Prudentino, Sie sind ein deutscher Rechtsanwalt mit Spezialisierung auf das italienische Arbeitsrecht und werden diesbezüglich häufig auch als Gutachter von deutschen Gerichten angefragt. Nach monatelangen Verhandlungen mit starkem Widerstand vor allem der Gewerkschaften hat nun das Gesetz zur Arbeitsmarktreform von Mario Monti und Arbeitsministerin Fornero das Abgeordnetenhaus passiert. Kern der Reform sollte sein, Eintritt in und Austritt aus einem Arbeitsverhältnis zu erleichtern und mit flexibleren Regelungen Wachstum und Produktivität zu fördern …

Mario Prudentino: Die Reform greift in viele Bereiche ein, aber Hauptstreitpunkt war in der Tat die geplante Änderung des Artikels 18 des Arbeitnehmerstatuts (Kündigungsschutz) und das Thema der Befristung. Artikel 18 gestand einem Arbeitnehmer, dem rechtswidrig gekündigt wurde, ein Schadensersatz von „5 + X“ Monatsgehältern zu. Dann kam der so genannte Lohnverzug dazu, denn der Arbeitnehmer hat ja bis zur Beendigung des Arbeitsgerichtsprozesses nicht gearbeitet. Und sollte der Arbeitnehmer sich gegen eine Wiedereingliederung und für ein Verlassen des Unternehmens entscheiden, kamen nochmals 15 Monatsgehälter hinzu. Die Norm war und ist einzigartig in Europa. Das müssen Sie historisch betrachten: Die soziale Abfederung hat in Italien nie das Niveau, das wir aus Deutschland kennen, erreicht. Die Kosten der Arbeitslosigkeit wurden nicht über ein beitragsfinanziertes Modell wie in Deutschland abgefedert (nämlich: Arbeitslosenversicherung), sondern über das Kündigungsschutzgesetz auf die Arbeitgeber abgewälzt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Also 20 Monatsgehälter plus Verzugslohn, der in der Regel wie hoch ausfällt?

Mario Prudentino: Sie können durchaus bis zu 6 Monate für den Schiedsversuch und weitere 6 bis 12 Monate für die erste Instanz veranschlagen, dann haben sie ca. 3,5 – 4 Jahresgehälter auf der „Prozessuhr“. Das nennt man dann das prozessuale Risiko des Arbeitgebers.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und mit der Reform des Artikels 18 können die Arbeitsgerichte nun nur beschränkt Schadensersatz zusprechen, so liest man?

Mario Prudentino: Ja. Die endgültige Fassung sieht für rechtswidrige Kündigungen einen verschieden hohen Schadensersatzanspruch vor. Das geht – ohne in die Einzelheiten gehen zu wollen – bis zu „max. 5 + 15 Monatsgehältern + Verzugslohn“. Verringert wurde dagegen der Schadensersatz, wenn lediglich ein Formfehler vorliegt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wurden auch Verfallfristen für Klagen eingeführt?

Mario Prudentino: Fristen sind schon mit dem „Collegato Lavoro“ Ende 2010 eingeführt worden. Das ist nicht mehr das Thema. Die ehemals 5-jährige Frist zur Klagerhebung ist da auf insgesamt ein Jahr verkürzt worden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Also die Fristen wurden schon verkürzt, und der Schadensersatz wird jetzt nach oben begrenzt. Klingt für Arbeitgeber gut, für Arbeitnehmer schlecht.

Mario Prudentino: Tja, nur dass das eigentliche Problem für beide Seiten, nämlich die überlange Verfahrensdauer, unberührt bleibt. Das ist aber ein grundsätzliches Problem, das nicht von heute auf morgen beseitigt werden kann – auch nicht von Mario Monti oder Elsa Fornero. Wenn ich 1 Jahr oder mehr auf den ersten Termin vor dem Richter warten muss, dann ist die Beschneidung des Schadensersatzes von „20 + X“ nach der alten Rechtslage auf – in einigen Fällen – „max. 5 + 15 + Verzugslohn“ oder auf „max. 12 + 15“ in anderen Fällen – keine wirkliche Änderung – und zwar in keine Richtung. Zudem ist eine „Vorabinstanz“ eingeführt worden: In einem summarischen Verfahren wird jetzt vorläufig entschieden, die Entscheidung müssen Sie dann gegebenenfalls anfechten, dann erst beenden Sie die erste Instanz. Es ist also faktisch eine 4. Instanz eingeführt worden. Ob das zur Beschleunigung der Verfahren führen wird, sei dahingestellt.

Weiterhin ist bei den betriebsbedingten Kündigungen ein neues Meldeverfahren eingeführt worden, dass man in Deutschland nur bei den Massenentlassungen kennt: Anzeige bei der Arbeitsbehörde, Verhandlungen etc. Das Verfahren ist bei jeder betriebsbedingten Kündigung einzuhalten. Man bedenke, dass bereits jetzt parallel mehrere Schiedsverfahrensarten in Italien existieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie sieht es aus der Sicht der Arbeitnehmer aus?

Mario Prudentino: Soweit der neue Artikel 18 zur Anwendung kommt, haben diese meines Wissens den stärksten monetären Kündigungsschutz in Europa: teilweise Reintegration, mehrere Jahresgehälter, auf Wunsch des Arbeitnehmers, Trennung mit 15 Monatsgehältern. Die Aufspaltung in verschiedene Schadensersatzregimes durch die Reform ändert nur partiell etwas daran.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Man sagt, dass man in Italien praktisch nicht kündigen könne …?

Mario Prudentino: So ist es nun auch wieder nicht. Richtig ist, dass Formfehler im vorgerichtlichen Bereich sehr teuer werden können. Die Zahlen habe ich gerade genannt. Insbesondere deutsche Entscheider machen hier sehr viele Fehler, weil vergleichbar bürokratische Verfahren in Deutschland nicht existieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was ändert die Monti-Fornero-Reform daran?

Mario Prudentino:Es ändert sich durch die Monti-Fornero-Reform meines Erachtens faktisch nichts hinsichtlich der überlangen Verfahrensdauer, die beide Parteien schädigt. Die neue (schnelle) 4. Instanz ist ja als etwas Zusätzliches vorgeschaltet worden, da wird im Ergebnis nichts an Zeit eingespart. Bei der betriebsbedingten Kündigung wird sogar ein neues Verfahren vor der Arbeitsbehörde eingeführt. Dagegen werden durch die Monti-Fornero-Reform in anderen Bereichen durchaus Änderungen eingeführt. So wurde die sachgrundlose Erstbefristung eingeführt, die es in Deutschland ja schon lange gibt.

Das können Sie alles gut oder schlecht finden, aber faktisch haben Sie momentan auf dem italienischen Arbeitsmarkt einerseits die Arbeiteraristokratie, die unter Artikel 18 fällt, und andererseits die so genannten prekären Verhältnisse. Der Begriff precario wurde ja in Italien erfunden, genauso wie die „1-Euro-Jobs“ dort schon seit 1997 existierten. Die hießen LSU, Lavori socialmente utili, also sozial nützliche Arbeiten, und sind im Legislativdekret 468 aus 1997 beschrieben. Sie sehen, die Länder kopieren sich gegenseitig oder „europäisieren“ sich. Jedenfalls haben Sie eine starke inneritalienische Trennung der Schutzniveaus.

Die interessantere Frage dürfte aber die sein, ob die Reform marktstabilisierend wirken wird oder nicht – sprich, ob Jobs geschaffen werden oder nicht.

Mario Prudentino ist deutsch-italienischer Arbeitsrechtler in Hamburg.

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