Politik

Der Kapitalismus steckt in der tiefsten Sinn-Krise seit seiner Erfindung

Lesezeit: 5 min
07.06.2015 01:34
Die Diskussion um das Bargeld ist eine Ersatz-Debatte: Tatsächlich steckt der Kapitalismus in seiner tiefsten Krise, weil die Arbeiter schlecht bezahlt werden, die Einkommen ungerecht verteilt und die Menschen im Westen zu alt geworden sind. Mit der Geld-Politik ist die Sinn-Krise nicht zu lösen.
Der Kapitalismus steckt in der tiefsten Sinn-Krise seit seiner Erfindung

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Es ist schon eine komische Diskussion, die da plötzlich auf beiden Seiten des Atlantiks ausbricht. Einige, vor allem linksgestrickte, Wirtschaftswissenschaftler wollen das Bargeld abschaffen. Dazu dienen Vorwände, wie ohne Bargeld ließe sich Schwarzarbeit und Drogenhandel besser bekämpfen. Doch der eigentliche Grund wird durchaus eingeräumt: Seit die Notenbanken den Zins und die Erträge sicherer Staatsanleihen gegen null und real schon unter null gesenkt haben, greift ihre Geldpolitik nicht mehr (Abb. 16317, 18757). Auch haben sie die Märkte in immer mehr Liquidität ertränkt: Ihre Bilanzaktiva stiegen von 13 % der Weltwirtschaftsleistung in 2000 auf 34 % oder fast das Dreifache (Abb. 18781). Trotzdem will sich in den entwickelten Volkswirtschaften kein richtiges Wachstum wie in den 80er-Jahren und der ersten Hälfte der 90er mehr einstellen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate brach von 6,9 % auf nur noch 1,9 % ein, in Deutschland sogar von 4,9 % auf ganze 0,9 % (Abb. 18782). Wirtschaftswissenschaftler, wie Larry Summers, sprechen bereits von einer „säkularen Stagnation“.

Theoretisch könnten die Notenbanken noch mit immer weiter steigenden Negativzinsen die Menschen vom Bankkonto weg in den konjunkturfördernden Konsum treiben, wäre da nicht das „lachende Bargeld“. Denn statt mit solchen Zinsen bei der Bank oder in Staatsanleihen Geld zu verlieren, würden die Menschen ihre Ersparnisse unter das Kopfkissen oder in ein sicheres Bankschließfach legen. Also müsste man Bargeld abschaffen. Das fordert beispielsweise der Wirtschaftsweise Peter Bofinger in Deutschland und will ein solches Vorhaben sogar von der Bundeskanzlerin beim kommenden G7-Gipfel angesprochen sehen. Eigentlich ist das umso komischer, als gerade in Deutschland das alternative Plastikgeld nicht besonders in Mode ist.

Gemäß dem ehemaligen US-Finanzminister und Harvard-Ökonomen Larry Summers „leidet die Welt unter einem Ersparnisüberhang und drohe deshalb in eine säkulare Stagnation zu fallen“. Auf Jahrzehnte hinaus müssten wir uns demnach auf geringes Wachstum und zunehmende wirtschaftliche und soziale Probleme einstellen. Ursache dafür sei, dass in einigen Ländern wie China oder Deutschland die Menschen zu viel sparten, statt zu konsumieren oder zu investieren. Deshalb exportierten sie ihre Ersparnis ins Ausland und führten damit zu einem Überangebot an Sparkapital, für das es keine ausreichende Nachfrage gäbe. So fordert auch Summers die bargeldfreie Wirtschaft.

Tatsächlich zählen die Deutschen zu den besonderen Sparmeistern und haben ihren Konsum seit dem Jahr 2000 kaum angehoben (Abb. 17882).

Die Diskussion um das Bargeld ist inzwischen so real, dass sich die Bundesbank dazu beruhigend äußern musste. Im Rahmen einer Pressekonferenz erklärte Bundesbankvorstand Carl-Ludwig Thiele: „Die Wahlfreiheit des Verbrauchers wird die Bundesbank nicht einschränken. Das müsste dann schon der Gesetzgeber tun.“

Die Möchtegern-Bargeldvernichter übersehen bewusst die eigentliche schwere Krise des Kapitalismus, denn für den Spartrieb gibt es gute Gründe, die hausgemacht sind, und die auch ohne Bargeld fortbestehen würden. Es sind im Wesentlichen drei Gründe für den gesteigerten Spartrieb.

Erstens sind Arbeit und Arbeitseinkommen über die letzten Jahrzehnte erheblich unsicherer geworden. Befristete Arbeitsverträge, Teilzeitarbeit und gering entlohnte Arbeit haben die traditionellen Arbeitsverhältnisse zu großen Teilen verdrängt. Die Gewerkschaften als Gegenkräfte haben an Bedeutung verloren oder sind, wie in China staatliche Organisationen. Auch in Deutschland hat sich in den vergangenen 20 Jahren der Anteil der Unternehmen, die nach Tarif zahlen, von 60 % auf 35 % fast halbiert. Den Schutz der Gewerkschaften und der von ihnen ausgehandelten Tarifverträge gibt es nur noch für 52 % der westdeutschen und 35 % der ostdeutschen Arbeitnehmer (Abb. 17018).

Nach neuen Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hat nur noch ein Viertel der weltweiten Arbeitsnehmer eine dauerhafte Beschäftigung. Drei Viertel seien in zeitweisen oder kurzfristigen Verträgen oder in vertragsloser Beschäftigung, wobei viele dieser Beschäftigten keine Pensionsrechte erwerben würden. Zwischen 2009 und 2013 hätte die unsichere Beschäftigung in der Mehrzahl der Länder überhandgenommen. Damit hätte sich Unsicherheit ausgebreitet. Gleichzeitig hätte sich der Einkommensabstand zwischen beiden Formen der Beschäftigung erhöht.

Diese Entwicklung trifft zwar vor allem die Entwicklungsländer. Doch wird der Druck über die Globalisierung der Warenströme und die steigenden Möglichkeiten, Arbeit in die Länder mit niedrigem Arbeitnehmerschutz auszulagern, weitergegeben. Die ILO weist für Deutschland auf die 7,5 Millionen Menschen hin, die 2014 in so genannten Minijobs bis 450 Euro/Monat beschäftigt waren und die nur teilweise von der Sozialversicherung erfasst werden und völlig von der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen sind. Nach einer neuen Untersuchung der OECD ist auch unter den entwickelten Industrieländern bereits ein Drittel der Arbeitnehmer befristet, teilzeitbeschäftigt oder selbständig. Die atypische und meist prekäre Beschäftigung hat sich mit einem Plus von 15 % seit der globalen Kreditkrise von 2007 in Deutschland stärker ausgebreitet als in den meisten anderen Ländern (Abb. 18820).

Im weltweiten Maßstab wird immer mehr des Einkommens beim obersten 1 % der Bevölkerung monopolisiert. Der Anteil liegt fast wieder auf dem Niveau des Anteils von 20 % vor der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre des vergangen Jahrhunderts (Abb. 18780). Auch nach den Feststellungen in einer neuen Studie der Industrieländerorganisation OECD ist die Kluft zwischen Arm und Reich so tief geworden wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr. Während die reichsten 10 % der Gesellschaft vor 30 Jahren sieben Mal so viel verdienten wie die ärmsten 10 %, sind es inzwischen zehn Mal so viel. Während die reichsten 10 % im OECD-Schnitt die Hälfte des Vermögens besitzen, gehören den unteren 40 % gerade einmal 3 %. Deutschland liegt im Mittelfeld der Ungleichheit und weit hinter den skandinavischen Ländern (Abb. 18817). Seit 1985 hat sich die Ungleichheit enorm ausgebreitet: die untersten 10 % haben - gemessen am OECD-Durchschnitt von 1985 - nur um 14 % zugelegt, die obersten 10 % dagegen um 51 % (Abb. 18818). In Deutschland hat sich die Ungleichheit besonders stark entwickelt (Abb. 18819).

Die OECD hat auch herausgefunden, dass bei wachsender Ungleichheit die unteren 40 % der Gesellschaft nicht etwa mit größeren Anstrengungen mitzuhalten versuchen, sondern weiter zurückfallen, weil sie sich die Investitionen in die Bildung nicht mehr leisten können. So sinke in dieser Schicht die Zahl der Uni-Absolventen und die durchschnittliche Ausbildungszeit verringere sich um ein halbes Jahr. Je größer die Ungleichheit umso mehr fallen beispielsweise die Ergebnisse von Schülern, deren Eltern aus einem niedrigen Bildungshintergrunde kommen (Abb. 18821).

Die im globalen Maßstab wachsende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zwingt die Benachteiligten zu immer größeren Sparanstrengungen.

Zweitens gibt es noch immer einen enormen Überhang an Schulden in der Welt, die zum Sparen zwingen. Nach dem McKinsey-Bericht vom Februar 2015 stieg die globale Verschuldung von Haushalten, Unternehmen, Regierungen und des Finanzsektors zwischen 2007 und 2014 um 57 Billionen US$ oder 17 Prozentpunkte der weltweiten Wirtschaftsleistung auf 199 Billionen US$ oder 286 % der Wirtschaftsleistung und liegt damit noch erheblich über dem Niveau unmittelbar vor Ausbruch der großen globalen Kreditkrise (Abb. 18596).

Drittens altern in den meisten Ländern der Welt (Abb. 18822) und besonders stark in Deutschland die Bevölkerungen. Staatliche Rentenversicherungen kommen immer mehr unter Druck und zwingen zum Ausweichen über gesteigerte Ersparnisse.

Fazit:

Der Kapitalismus, der von dem Versprechen dauerhaften Wachstums lebt, um so die systemimmanenten Verteilungsprobleme am Ende doch noch zu lösen, kommt durch den Sparzwang und die deshalb ausfallende Verbrauchernachfrage immer mehr in eine unlösbare Sinnkrise. Daran würde auch die Abschaffung des Bargelds wenig ändern. Dass dies überhaupt von als seriös geltenden Wissenschaftlern diskutiert wird, zeigt nur die Tiefe dieser Krise.

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Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.

Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.

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