Die Türkei wählt ein neues Parlament: Noch bis 16.00 Uhr (MESZ) sind die Wähler dazu aufgerufen, die 550 Abgeordneten der Großen Nationalversammlung in Ankara zu bestimmen. Die Regierungspartei AKP strebt eine 60-Prozent-Mehrheit der Parlamentssitze an, die für ein Referendum über eine Verfassungsreform notwendig ist. Mit der Reform will die Partei - wie in Russland - ein Präsidialsystem mit Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze einführen. Erdoğan würde dadurch noch mächtiger. Deshalb hatte der Grünen-Politiker Cem Özdemir den türkischen Staatschef Ende Mai mit Kreml-Chef Wladimir Putin verglichen. Erdoğan trage mittlerweile „putineske Züge“, so Özdemir.
Die zentrale Frage ist, ob die kurdisch-nationalistische HDP, die als politischer Arm der PKK gilt, die Zehn-Prozent-Hürde überwindet. In diesem Fall dürfte die AKP die für das Referendum nötige Mehrheit verfehlen. Erste Teilergebnisse werden ab 18.00 Uhr (MESZ) erwartet. Sollte die HDP dabei um die zehn Prozent liegen, könnte sich ein belastbares Ergebnis bis Montag verzögern.
Umfragen sagen der seit mehr als zwölf Jahren regierenden AKP Stimmenverluste voraus. Die von Erdoğan mitgegründete Partei bliebe demnach aber die dominierende Kraft. Umfragen zufolge kommt die sozialdemokratische Partei CHP auf den zweiten, die nationalistische MHP auf den dritten Platz.
Das Wahlkampfende wurde von schwerer Gewalt überschattet. Bei einem Sprengstoffanschlag auf eine HDP-Veranstaltung im Südosten der Türkei wurden am Freitagabend nach Angaben von Polizei und Ärzten mindestens drei Menschen getötet und 220 weitere verletzt. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoğlu sagte nach seiner Stimmabgabe Angaben der Nachrichtenagentur DHA zufolge, ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Er selbst vermutet einen bewussten Terror-Anschlag, um Chaos zu stiften.
56,6 Millionen Türken sind zur Wahl aufgerufen: 53,7 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Bis Ende Mai konnten Auslandstürken in türkischen Botschaften und Konsulaten wählen. Von den 1,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland gaben gut 480 000 ihre Stimme in der Bundesrepublik ab. Auslandstürken können am Sonntag noch an Flughäfen und Grenzübergängen in der Türkei wählen.