Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat vor einigen Jahren in einem Interview mit der New York Times gesagt, die politische Union in Europa könne nur durch eine Krise erzwungen warden. Glauben Sie, dass das immer noch der Plan ist?
Patricia McKenna: Winston Churchill hat einmal gesagt: „Lassen Sie niemals eine gute Krise ungenutzt verstreichen.“ Es besteht kein Zweifel, dass Churchills Rat durch unsere EU-Politiker buchstabengetreu befolgt wurde, und ebenso von der bürokratischen Elite im Zuge der Schuldenkrise von 2008. Die Krise hat eindeutig den Plänen der EU genutzt.
Im Mai 2010, nach dem Platz der Finanzblase, sagte Bundeskanzlerin Merkel: „Wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine echte wirtschaftliche oder politische Union. Dies muss sich ändern. Würden wir dies erreichen, liegt darin die Chance der Krise... Und jenseits der Ökonomie, mit der gemeinsamen Währung, werden wir vielleicht weitere Schritte wagen, zum Beispiel den einer europäischen Armee.“ (Karls-Preis Rede, Mai 2010)
Ein Jahr später sagte Präsident Sarkozy: „Bis Ende des Sommers werden Angela Merkel und ich gemeinsame Vorschläge hinsichtlich einer Wirtschaftsregierung im Euroraum machen. Wir werden Ihnen eine klarere Vision des Weges vorlegen, wie sich die Eurozone entwickeln wird. Unser Ziel ist es, die griechische Krise einzubeziehen, um einen Quantensprung für eine Eurozone-Regierung zu erreichen. ... Dieses Wort war einmal Tabu. [Jetzt] gehört es zum europäischen Wortschatz”. (22. July 2011).
Bundeskanzlerin Merkel hat gesagt: „Die Schuldenkrise ist ein entscheidender Moment, eine Chance, einen neuen Weg zu gehen. Es gibt nun Zeit und Gelegenheit für einen Durchbruch zu einem neuen Europa... Das wird mehr Europa bedeuten, nicht weniger Europa.” (11.09.2011).
Es gibt keinen Zweifel, dass jene, die die Macht innehaben, die Krise nutzen, um voranzugehen mit dem, was sie wollen. Unabhängig davon, was die Völker Europas wollen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Aktuell werden die wichtigsten Entscheidungen in der Euro-Zone von der Euro-Gruppe getroffen. Diese Gruppe ist keinem einzigen Parlament gegenüber verantwortlich. Sie ist kein Organ im Sinn der EU-Verfassung. Zeigt diese Entwicklung nicht, dass wir uns bereits mitten in einer Transformation hin zu weniger Demokratie in der EU bewegen?
Patricia McKenna: Ja, dem würde ich zustimmen. Im Anschluss an das, was ich gerade gesagt habe, gibt es keinen Zweifel, dass die Eurogruppe eine Schlüssel-Einrichtung ist, an der man die Veränderungen erkennt. Die jüngsten Vertrags-Vereinbarungen sind ein Beleg für diese Tatsache. Das Finanz-Stabilitäts-Gesetz wird von vielen Mitgliedern der Eurozone als ein „permanenter Sparmaßnahmen-Vertrag“ für jene angesehen, die sich das am wenigsten leisten können. Dieses Gesetz untersagt den Regierungen jede Art von Anti-Rezessions-Konjunkturprogrammen im keynesianischen Sinne. Dies beeinträchtigt die demokratisch gewählten Regierungen in Bezug auf ihre eigenen nationalen Haushalte ganz entscheidend.
Dann haben wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Vertrag). Dieser Vertrag legt einen permanenten Rettungsaktion-Fonds für die Länder der Eurozone auf, bei welchem alle Eurozonen-Mitglieder „unwiderruflich und bedingungslos“ im Verhältnis zu ihrem Brutto-Inlandsprodukt beitragen müssen. Zugang zu diesem Fonds erhält man nur, wenn man sich vorher zu dem finanzpolitischen Stabilitätsvertrag bekennt, den ich gerade erwähnt habe.
Der ESM-Vertrag sieht einen ESM-Fonds vor, aus dem Gelder direkt an die Regierungen der Eurozone verliehen werden können. Der Vertrag von Maastricht hatte Bail-outs für Euro-Länder verboten. Eine Anfechtungsklage zu diesem Vertrag wurde von den EuGH im Fall Pringle abgelehnt (2012).
Die Entscheidung des Gerichts ist in diesem Fall eine widersprüchliche Entscheidung. Sie zeigt zum einen: Vertragsänderungen werden durch das Gericht sanktioniert, wenn sie zu dem Gericht aufgetragenen, integrativen Agenda passen. Das Gericht hat eine politische Agenda. Diese ist in den Verträgen selbst begründet. Die Präambel und der erste Artikel der Verträge, die „den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union“ begründen, sind ein Mandat für das Gericht, eine immer weitere Integration zu fördern.
Das Ergebnis im Fall Pringle weist auf eines der grundlegendsten demokratischen Probleme innerhalb der EU hin: Sollte ein nicht gewähltes und niemandem verantwortliches Gericht ein politisches Programm umsetzen – oder sollte das Gericht nicht viel eher ein unparteiischer und unbefangener Deuter und Interpret der Gesetzer nach Lage der Dinge sein? Ich vertrete die Auffassung: Wenn die Richter die Integration vorantreiben, brechen sie ihren Eid.
Das Urteil des EuGH könnte als Sprungbrett für eine weitere Wirtschafts-, Finanzunion und möglicherweise zu politischen Verflechtungen zwischen den Mitgliedstaaten führen.
Doch hat das Pringle-Urteil noch einen anderen Effekt: Es eröffnet den Euroländern die Möglichkeit der Zusammenarbeit außerhalb der Rechtsordnung der EU. Pringle öffnet den Weg für eine Arbeitsteilung zwischen den Euro- und den nicht Euro-Ländern. Es bietet eine weitere Integration mittels Vereinbarungen außerhalb der Rechtsordnung der Union.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wir haben den Eindruck, dass die Nato immer stärker zum treibenden Faktor der Weiterentwicklung der EU ist. Halten Sie das auch für denkbar?
Patricia McKenna: Ich glaube, dass die NATO seit jeher ein wichtiger Akteur im EU-Integrationsprozess war. Am Anfang war sie weniger sichtbar, aber das hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Nicht nur sind die aufstrebenden, militärischen Strukturen in der EU „beeinflusst“ durch die NATO. Sie sind „gesetzlich verpflichtet, mit dem nuklearen NATO-Bündnis in Einklang“ zu sein.
Die NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP – Partnership for Peace) wurde speziell konzipiert, um jene Nationen an Bord zu bringen, die zurückhaltend waren, der NATO beizutreten. W. Perry und A. Carter, die Köpfe hinter der PfP, sagen in ihrem Buch „Preventive Peace“: „Das Ziel einer erneuerten Partnerschaft für den Frieden sollte die Erfahrung sein, der Partnerschaft so nah wie möglich zu kommen, in der militärischen Praxis und in der Erfahrung der Mitgliedschaft in der NATO. Die Partnerschaft für den Frieden kombiniert Übungen und andere militärische Aktivitäten und sollte vom früheren Fokus auf Friedenssicherung und humanitäre Operation zu wahren Kampfhandlungen fortschreiten“. PfP ist ein wesentlicher Baustein in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität geworden, was die „schnelle Eingreiftruppe“ der EU dies aktuell zeigt.
Die Verträge enthalten eine gegenseitige Verteidigungs-Klausel, die für alle Mitgliedsstaaten verbindlich ist. Darüber hinaus heißt es, „die Mitgliedsstaaten sollen zivile und militärische Fähigkeiten zur Verfügung stellen, zur Umsetzung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich schrittweise, ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern.“
Die Europäische Verteidigung-Agency (EDA), eine Agentur, die nach zwei Jahrzehnten Lobbyarbeit von Europas militärischer Industrie etabliert worden ist, ist Bestandteil der Verträge. Diese Agentur, die ohne öffentliche Debatte etabliert wurde und die Waffenhersteller begünstigt, hat eine signifikante Vertrags-Macht. Sie „soll einsatzbereite Anforderungen ermitteln, befördert Maßnahmen, erfüllt diese Anforderungen und beteiligt sich bei der Festlegung der europäischen Fähigkeiten und der Rüstungspolitik“.
Sie macht Gewinne aus Kriegen und Kriegsvorbereitungen, und zu ihr gehören die einflussreichsten industriellen Interessen in Europa, der länderübergreifenden wirtschaftlichen Integration und der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Vertrag anerkennt das NATO-Bündnis, zu dem 28 EU-Staaten gehören, und zwar als das wichtigste Forum zur kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder und sieht die EU-Militärpolitik als Ergänzung - aber getrennt von der NATO. Einige der 18 EU-Kampfeinheiten wurden bereits eingerichtet. Jede ist in der Lage, rasch 1.500 Mann aus verschiedenen Mitgliedsstaaten nach dem Rotationsprinzip bereitzustellen.
Es gab bereits EU Militärinterventionen, mit dem Titel „friedensschaffend" oder „friedenssichernd“ in Afrika, auf dem Balkan und im Nahen Osten. Diese Truppen tragen in diesen Missionen Uniformen der EU. Ihre Durchführung wird unterstützt von der Europäischen Verteidigungsagentur, dem Satellitenzentrum der EU und dem EU Military Committee (EUMC). Letztere befehligt ein 4-Sterne-General oder ein Chef-Admiral und überwacht den EU Militärstab (EUMS) in Brüssel.
Insgesamt betrugen die Militärausgaben in den EU-Ländern 194 Milliarden Euro im Jahr 2010, das ist mehr als im Jahr 2001. Seit Jahrzehnten gibt Griechenland in der EU im Verhältnis zu seiner Größe und Einwohnerzahl das meiste aus für das Militär. Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind die größten Waffenhersteller der EU. Während Deutschland und Frankreich auf die schärfsten Einschnitte im Sozialbudget Griechenlands bestehen, Portugal und Spanien dabei sind, ihre Schulden zurückzuzahlen, haben sie keinen Druck, die Militärausgaben zu senken. Die Rüstungsindustrie in diesen mediterranen Ländern würden das Nachsehen haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die EU versteht sich immer stärker als geopolitischer Faktor. Dazu benötigt sie immer mehr Zentralisierung und eindeutige, schnelle Kommandostrukturen. Wie können wir die Macht wieder den Bürgern zurückgeben?
Patricia McKenna: Der EU und unsere Politiker haben sich zusammengeschlossen, um sicherzustellen, dass die Macht den Bürgern vorenthalten wird. Ein Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass fast alle Vertragsänderungen ohne jegliche öffentliche Konsultationen durchgesetzt wurden. EU-Vertrags-Änderungen werden kaum mit Volksabstimmungen in den Mitgliedsstaaten durchgeführt. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass dies mit Absicht geschieht. Denn es gab einige Mitgliedsstaaten mit der Gelegenheit, abzustimmen und wo Vertragsänderungen abgelehnt wurden, wie z. B. Maastricht, Nizza, die EU-Verfassung und Lissabon.
Die Menschen sind entweder gezwungen worden, wie es in Irland und Dänemark geschah, noch einmal abzustimmen, oder der Vertrag wurde zurückgezogen und ohne Änderung neu verpackt und durchgestimmt von der politischen Elite. So ist es in Frankreich und in den Niederlanden geschehen. Alle Vertragsänderungen haben die Rolle der Menschen und ihre demokratisch gewählten und rechenschaftspflichtigen Regierungen reduziert.
Wir haben einen stetigen Rückgang der Bürgerrechte in der EU, während Lobbyisten die Ausarbeitung der Gesetze bestimmen. Wer sind die Alliierten für die Zivilgesellschaft, diese Entwicklung umzukehren?
Es besteht kein Zweifel, dass die Bürgerrechte in der EU ernsthaft bedroht sind. Beispielsweise haben die Vertragsbestimmungen „Inneres“ zur Massen-Sammlung von E-mail-Nutzung, Handy Anrufen (einschließlich Ortung) und Internet-Nutzung bei 500 Millionen Einwohnern der EU geführt. Die EU-Vorratsdatenspeicherung verlangt vom Internet Service Provider, die Daten zu sammeln, damit sie für alle staatlichen Stellen in den 28 Mitgliedsstaaten verfügbar sind. Zugriff auf E-Mail- und Internet-Inhalte sollte von nationalen Justizbehörden erlaubt werden, obwohl die staatlichen Behörden das technologische Potenzial besitzen, die Inhalte jahrelang zu speichern. Die Informationen in diesen riesigen Daten-Banken werden regelmäßig gemeinsam mit den USA geteilt.
Ich glaube, dass die Zivilgesellschaft eine kritischere Position zur EU einnehmen muss und nicht erschrecken darf vor den Begriffen wie „euroskeptisch“. Die EU-Propaganda-Maschine ist bis jetzt äußerst effektiv, um die wachsende Kritik aus der Mitte und von Mitte-links zu unterdrücken.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In der Flüchtlingsfrage agiert die EU bereits wie eine militärische Macht. Wir halten die Behandlung der Flüchtlinge im Mittelmeer für einen großen Skandal. Flüchtlingsboote mit Waffen zu bekämpfen ist ein moralisches Desaster. Kann man daran erkennen, dass die EU nicht mehr zu ihren Gründungswerten steht?
Patricia McKenna: Die Behandlung der Flüchtlinge im Mittelmeer ist meiner Meinung nach eine Verletzung des Völkerrechts. Allerdings zeigt sich die Festungs-Mentalität Europas seit vielen Jahren. Beispielsweise legt die Dublin-Verordnung die Regeln für die Entscheidung fest, welches Land zuständig ist für die Prüfung eines Asylantrags, so dass ein Antrag der Kläger auf Asyl in dem Mitgliedsstaat untersucht werden muss, in der Asylbewerber erstmals die EU betreten hat.
Das Hauptziel dieser Verordnung ist es, sicherzustellen, dass Asylbewerber nicht in mehreren Mitgliedsstaaten einen Antrag stellen, und falls bei Antragstellung ihre Anwendung fehlschlägt, können sie ihr Glück nicht in einem anderen Mitgliedsstaat versuchen. Da der Mitgliedsstaat, in dem der Asylbewerber ankam, verantwortlich ist für den Umgang mit dem Menschen, ist es eine entscheidende Zielsetzung aller Mitgliedsstaaten zu vermeiden, dass sie das erste Land sind, wo der Asylantrag gestellt wird. Also versucht man, das zu umgehen bzw. dem zuvorzukommen und somit das Eindringen von Anfang an zu verhindern.
Diese Regeln zwingen Asylbewerber zu Täuschungen. Sie bringen sich selbst in extreme Gefahr. So versuchen sie, ihren Weg zu verbergen, so dass das Land, in welchem sie zuerst ankamen, nicht identifiziert werden kann. Aber das Recht auf Asyl ist in dem Moment verletzt, wo militärische Mittel eingesetzt werden.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: In vielen Ländern sehen wir als Reaktion auf die Zentralisierung der EU das Entstehen von radikalen Parteien. Bewegen wir uns insgesamt auf eine radikalisierte Gesellschaft zu?
Patricia McKenna: Die Entstehung neuer, radikalen Parteien ist ein direktes Resultat des Bemühens der EU in den vergangenen Jahrzehnten, zu vereiteln, dass Menschen kritisch sind und sich Gehör verschaffen wollen. Die EU-Institutionen haben Unsummen an Geld der EU-Steuerzahler verwendet, Propaganda-Kampagnen zu finanzieren, um jede Kritik zu untergraben. Wie ich bereits betonte, haben Menschen Angst, als Euroskeptiker benannt und den extremen Rechten zugeordnet zu werden. Sie müssen damit rechnen, einen mangelhaften Charakter angehängt zu bekommen. Diese Taktik war bis jetzt erfolgreich, weshalb Menschen, die sich politisch links oder Mitte-Links definieren, schwiegen – aus Angst vor Spott.
Die Demokratie wurde in allen Mitgliedstaaten der EU untergraben und nun ist es an der Zeit, unsere Rechte und Freiheiten wieder zurückzuerhalten.
Patricia McKenna ist heute Präsidentin der Europeans United for Democracy Die EUD veranstaltet am Samstag, den 27. Juni 2015, eine Diskussionsveranstaltung im Hotel Leonardo, Otto Braun Straße 90 am Alexanderplatz, in Berlin. Die Veranstaltung beginnt um 14 Uhr. Patricia McKenna wird eine der Referentinnen sein.