Der Gipfel in Brüssel hat wie noch kein Treffen der Euro-Retter gezeigt, dass die EU nicht funktioniert. Griechenland ist nicht mehr das Problem. Die nächsten Kandidaten sind Italien und Frankreich, vermutlich auch Spanien. Die Fehler sind systemisch und können nicht durch faule Kompromisse korrigiert werden. Die Ursachen sind einfach zu analysieren, doch zu komplex, um sie zu beheben. In der Krise fliegt auseinander, was durch eine Kredit-Orgie nicht aneinander gekettet werden kann.
Die Probleme:
Die Institutionen der EU funktionieren in der Krise nicht: Die EU besteht aus viel zu vielen unvollkommenen Gremien. Es war bezeichnend, dass Angela Merkel selbst bei der Pressekonferenz den Überblick verloren hatte. Sie schien kurzzeitig nicht mehr zu wissen, welche Sitzung gerade stattfand. Sie sprach vom Gipfel als dem „Rat“, musste sich jedoch später korrigieren: Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone hatten sich getroffen. Die EU-Kommission schwebt irgendwo im Nirwana. Jean-Claude Juncker wirkt wie von einem anderen Stern. Er beschwor die Einheit, und doch konnte man seinen schwammigen Sätzen entnehmen, dass er nicht mehr an die Einheit glaubt. Der Rat ist vertreten von Donald Tusk. Tusk hat keine Ahnung, was er machen soll. Er versteht die Brüsseler Welt nicht. Das Parlament führt ein Eigenleben und beklagt, dass es nicht ausreichend Gewicht hat. Die EZB gilt für viele als der Retter in höchster Not. Sie hat Macht, übernimmt aber keine Verantwortung – eine typische Konstellation im Investment-Banking. Der ESM soll es jetzt richten. Der ist so kompliziert, dass niemand weiß, wie er überhaupt zum Einsatz kommen kann. Nicht einmal Angela Merkel weiß im Schlaf, wofür die Buchstaben stehen und sprach vom Europäischen Stabilisierungsmechanismus (richtig: Europäischer Stabilitätsmechanismus).
Die Interessen der Mitgliedsstaaten sind gegenläufig: Italiens Premier Matteo Renzi sagte am deutlichsten, was die Südeuropäer denken: Man brauche ein anderes Europa. Er halte das prinzipielle Problem der EU für schwerwiegender als das Problem Griechenland. Er wolle kein Europa der Austerität, sondern eines des Wachstums. Francois Hollande sagte, er wolle Griechenland unbedingt im Euro halten. Er weiß: Wenn es in Griechenland zur humanitären Katastrophe kommt, dann braucht Marine Le Pen keine Kredite mehr von Russlands Präsident Wladimir Putin. Eine EU in Auflösung ist eine kostenlose Wahlkampfmaschine für den Front National. Deutschland kann nicht nachgeben, weil Merkel und Schäuble den Deutschen versprochen haben, dass Griechenland auf einem guten Weg sei. Die bei den griechischen Seilschaften versickerten Steuer-Milliarden sollen ein gutes Investment gewesen sein. Sigmar Gabriel gibt den Hardliner und macht üble Stimmung gegen Griechenland. Die Osteuropäer sind gehorsam und euphorisch in die Austeritäts-Falle getappt. Sie wollen nicht die anderen Geld-Töpfe mit den Griechen teilen. Die kleinen Staaten haben immer stärkere, euroskeptische Parteien. In dieser Gemengelage ist eine einheitliche politische Willensbildung unmöglich.
Die Solidarität in der EU funktioniert nur so lange, so lange sie den nationalen Egoismen dient: Renzi hat völlig zu Recht moniert, dass der Umgang mit den Flüchtlingen ein Skandal erster Güte ist. Italien wird mit dem Problem alleingelassen. Wenn erst die Flüchtlingswelle aus Griechenland einsetzt, wird die ohnehin schon minimale Hilfsbereitschaft aus den anderen Staaten erodieren. Der Einsatz von Militär gegen Flüchtlingsboote diskreditiert eine Gemeinschaft, die sich angeblich über Werte definiert. Auch wenn es die Technokraten nicht wahrhaben wollen: Eine politische Union zerbricht immer an einem schweren, humanitären Sündenfall.
Die EU hat sich selbst zur Geisel der Troika gemacht: Die EZB, der IWF und die EU-Kommission haben in der Griechenland-Krise total versagt. Sie haben sich auf eine reine Austeritäts-Politik festgelegt: Steuern rauf, Sozialausgaben runter, Privatisierungen. Das mag in einem Excel-Sheet gut aussehen. In der Praxis funktioniert es nicht.
Das komplexe System ist nicht in der Lage, Fehler zu korrigieren. Die Entwicklung in Griechenland spricht Bände. Mit dem Einsetzen der Kredit-Orgie bei gleichzeitiger Austerität ist die Wirtschaft auf Sturzflug gegangen, wie die Grafik von Standard &Poor’s eindrucksvoll zeigt.
Angela Merkel hat den Zenit ihrer Karriere überschritten: Die Kanzlerin ist müde, überfordert, ausgelaugt. Mangels politischer Willenskraft verheddert sie sich in technokratischen und pseudo-juristischen Spitzfindigkeiten. Zu einer Parallelwährung in Griechenland fällt ihr nur ein, dass das die Finanzminister diskutieren sollen. Sie beharrt auf Vereinbarungen, die keiner ihrer Kollegen mehr kennt. Keiner hat die Vereinbarungen je eingehalten: Die rot-grüne Bundesregierung hat als erste den Maastricht-Vertrag gebrochen, um eine NRW-Wahl nicht zu stören. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann sagt auf die Frage, dass eine Euro-Austritt rechtlich gar nicht möglich sei: „Da werden sich die Juristen noch in 20 Jahren drüber streiten. Jetzt werden Fakten geschaffen.“ Anarchie von oben – auch daran zerbrechen politische Systeme in der Regel.
Vielleicht gibt es mit Griechenland einen Kompromiss in letzter Sekunde: Nun ist ein zweijähriges ESM-Programm in der Diskussion. Einen Schuldenschnitt wird es nicht geben, weil Merkel immer noch glaubt, dass es besser ist, als Rechthaberin zu sterben als den Schaden zu minimieren. Sie sagt, ein Haircut wäre eine verbotene Staatsfinanzierung. Doch beim Grexit sind 340 Milliarden Euro weg – das war dann auch eine verbotene Staatsfinanzierung, nur eben in der Retrospektive. Vielleicht kann man sich nun auf technische Lösungen einigen, wie die Verlängerung der Laufzeiten oder die Aussetzung der Zinszahlungen. In sechs Monaten ist das Dilemma auf Wiedervorlage, weil die Troika-„Reformen“ nur die Zerstörung bewirken und echte Strukturmaßnahmen wie die Abschaffung von korrupten nationalen Netzwerken nicht von außen zu überwachen sind.
Der Gipfel von Brüssel hat dem Taktieren ein Ende bereitet. Nun sind die Fakten stärker als die Ideologien. 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit hält kein politisches System aus. Erodierende Rentensysteme, hausgemachter Wahnsinn wie die Russland-Sanktionen oder externe Faktoren wie der sich abzeichnende Crash in China werden der EU den Rest geben.
Die kommenden Generationen müssen Europa neu erfinden. Doch sie verwalten kein reiches Erbe. Ihre verantwortungslosen Ahnen haben ihnen ein drückendes Schulden-Paket aufgebürdet. Sie werden viel Mut, Tatkraft und Kreativität brauchen, um wieder die Null-Linie zu erreichen. Die griechische Tragödie ist ein europäisches Drama von epischem Ausmaß.