Europa sieht sich derzeit mit der schwersten Flüchtlingskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Für viele Flüchtlinge ist jedoch nicht nur der Weg aus der Heimat gefährlich und belastend – oft stehen ihnen auch nach der Ankunft in Europa seelische und körperliche Strapazen bis hin zu Gewalt bevor. Besonders Frauen und Mädchen sind in Flüchtlingsunterkünften oft Opfer von gewalttätigen oder sexuellen Übergriffen.
Doch obwohl Deutschland bereits im vergangenen Sommer die sogenannte EU-Aufnahmerichtlinie in nationales Recht hätte umsetzen müssen, derzufolge Mitgliedstaaten allen Asylbewerbern einen menschenwürdigen Lebensstandard und Schutz bieten müssen, fehlt noch immer ein verbindliches Schutzkonzept für Geflüchtete.
Sei es durch andere Bewohner, Sicherheitsmitarbeiter, Lebenspartner oder Mitarbeiter – „bei einem Übergriff auf eine Frau ist die Security in einer Unterkunft manchmal angewiesen, nicht gleich die Polizei zu rufen. Das wird dann als Bagatellfall behandelt“, berichtet die Sozialpädagogin Nivedita Prasad von der Alice Salomon Hochschule Berlin. Der Gewaltschutz in Unterkünften, sagt sie, hänge sehr von der Gunst des Heimleiters ab.
Mindestens die Hälfte der geflüchteten Frauen ist traumatisiert
Für die Frauen ist das oft besonders schlimm, meint Inken Stern, Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Asylrecht. Sie schätzt, dass 50 bis 60 Prozent der weiblichen Geflüchteten traumatisiert sind. „Viele Frauen fahren von zu Hause schon traumatisiert los, nehmen dann eine gefährliche Flucht auf sich, bei der Sex oft Zahlungsmittel für Schlepper ist und sexualisierte Gewalt häufig passiert, und landen dann in Heimen ohne jede Intimsphäre“, sagt sie.
Mehr als ein Viertel der weltweit rund 60 Millionen Flüchtenden sind Frauen und Mädchen im Alter von 15 bis 49 Jahren. Auf der sogenannten Balkanroute sind aktuell bis zu achtzig Prozent der Flüchtenden Frauen und Kinder.
Für viele von ihnen beginne die Konfrontation mit Gewalt schon während der Flucht, sagt auch Bernd Bornhorst, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands entwicklungspolitischer und humanitärer Nichtregierungsorganisationen (VENRO). „Es muss sichergestellt werden, dass es für sie separate Schlafplätze und Sanitäranlagen in Aufnahmeeinrichtungen gibt – auch in Deutschland.“ Ebenso müssten Unterkünfte speziell für alleinfliehende Frauen und Mädchen geschaffen werden, fordert er.
Besonders junge Frauen und alleinstehende Mütter sind von Übergriffen betroffen
Besonders junge Frauen und alleinstehende Mütter sind von Übergriffen durch Heimmitarbeiter und Security betroffen. Dennoch, so weiß Rechtsanwältin Stern, verzichten viele Frauen an den vermeintlich sicheren Ankunfsorten trotz eindeutiger Gewalt auf eine Anzeige. „Bei Gewalt in den Heimen fürchten sie meist, sie würden sich unbequem machen und ihr Recht af Asyl riskieren, wenn sie sich über die Heimleitung oder das Sicherheitspersonal beschweren“, sagt Stern gegenüber EurActiv.de. Und komme es zu einer Bezichtigung, sei eine räumliche Trennung von Täter und Opfer oft nicht schnell machbar oder nicht langfristig gesichert.
Gleichzeitig sehe die Sicherheit in den Flüchtlingsheimen viele Dinge nicht, berichten Vertreterinnen von „Women in Exile“, einer Selbstorganisation für geflüchtete Frauen in Deutschland. „Niemand überprüft, ob die Trennung von Männern und Frauen bei Toiletten und Duschen eingehalten wird. Darum trauen sich viele Frauen nachts nicht zu den Sanitäranlagen“, berichtet etwa die 27-jährige Amal im Gespräch mit EurActiv.de, die selbst in mehreren brandenburgischen Unterkünften gelebt hat und ihren vollen Namen nicht nennen möchte. Für Women in Exile betreut sie zahlreiche Frauen und kennt viele Berichte.
Mehr Schutz kostet
Die Juristin Heike Rabe vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) sieht die zentrale Hürde für einen ausreichenden Schutz der Frauen in den ausländerrechtlichen Regelungen. So unterliegen geduldete Frauen, die Asyl beantragt haben, in den meisten Bundesländern in den ersten drei Monaten der Residenzpflicht und anschließend einer Wohnsitzauflage. „Ob sie in ein Frauenhaus gehen oder den Ort verlassen, an dem sie angegriffen oder belästigt wurden, können sie nicht selbst entscheiden“, sagt Rabe. Dies obliege den Behörden.
Um die Frauen und anderen Asylsuchenden, die als „besonders schutzbedürftig“ erkannt werden, besser vor Übergriffen zu bewahren, sei die EU-Aufnahmerichtlinie von existentieller Bedeutung, sagt Rabe im Gespräch mit EurActiv.de. Doch deren Umsetzung sei den Mitgliedstaaten wohl schlicht zu teuer in der Umsetzung. „Dann wären eine andere Gesundheitsversorgung als jene nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und andere Schutzkonzepte nötig.“
Zwei Jahre hatten die EU-Staaten Zeit gehabt, das neue Recht – etwa über die Aufnahmebedingungen von Asylbewerbern (RL 2013/33/EU) – umzusetzen. Weil die Richtlinie nicht fristgerecht zum Juli 2015 in nationales Recht umgesetzt wurde, leitete die EU-Kommission vergangenen September Vertragsverletzungsverfahren gegen 19 Mitgliedstaaten, darunter auch zwei gegen Deutschland – ein.
Aber noch 2015 seien die Themen geschlechtsspezifische Gewalt und Standards zum Gewaltschutz in Deutschland „völlig unterbelichtet“ gewesen, sagt Rabe. Die Ausländerbehörden sind meist unvorbereitet auf die sichere räumliche Trennung von Menschen, zwischen denen Gewalt geschieht. Weil die Frauen zum Teil Jahre in den männlich dominierten Gemeinschaftsunterkünften leben, seien mehr niedrigschwellige Informationen, Schutz und Beratung unbedingt nötig, fordert Rabe.
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Dieser Beitrag von Nicole Sagener erschien zuerst auf Euractiv. EurActiv Deutschland ist das unabhängige Portal für europäische Nachrichten, Hintergründe und Politikpositionen.