Deutsche Firmen sehen sich für die sogenannte Industrie 4.0 besser aufgestellt als US-Unternehmen. Zu dem Ergebnis kommt die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) in einer Studie, die am Dienstag veröffentlicht wurde. „Es gibt Leuchttürme in den USA, die investieren mächtig“, sagte BCG-Berater Markus Lorenz der Deutschen Presse-Agentur. „Aber in der Fläche ist der deutsche Mittelstand experimentierfreudiger.“
Der Untersuchung zufolge haben rund 20 Prozent der Firmen in Deutschland und 16 Prozent der Unternehmen in den USA erste Maßnahmen oder Konzepte für Industrie 4.0 umgesetzt. Fast die Hälfte der deutschen Firmen hat zumindest schon Konzepte entwickelt, und 80 Prozent sehen sich vorbereitet. Unter den US-Firmen fehlt 70 Prozent noch eine Vorstellung, wie sie die Möglichkeiten der Digitalisierung in der Produktion einsetzen wollen.
Der Grund dafür ist laut Lorenz der starke deutsche Mittelstand. „Die kleineren Firmen hier haben eine bessere Kapitalausstattung“, sagte er. „Die hohen Lohnkosten und der statische Arbeitsmarkt haben sie aber auch schon viel früher dazu gebracht, über Automatisierung nachzudenken. Da gibt es geringe Berührungsängste.“ Firmen in beiden Ländern schätzen die Kosten für notwendige Erstinvestitionen auf sieben bis neun Prozent ihres Umsatzes.
„Die industrielle Revolution unserer Zeit ist digital“, sagt Andrus Ansip, der EU-Vizepräsident für den digitalen Binnenmarkt. „Da viele Unternehmen den gesamten Binnenmarkt nutzen wollen, sollten die öffentlichen Verwaltungen mit dem Bedarf an elektronischen Dienstleistungen Schritt halten – indem sie Dienste anbieten, die digital, offen zugänglich und grenzübergreifend angelegt sind.“ Aus diesem Grund hat die EU-Kommission in ihrer Strategie für den digitalen Binnenmarkt nun vorgeschlagen, 500 Millionen Euro in ein unionsweites Netz von Technologie-Exzellenzzentren (Digital Innovation Hubs) zu investieren, in denen Unternehmen digitale Innovationen testen und sich beraten lassen können.
Die tatsächliche Auswirkung der Industrie 4.0 auf die wirtschaftlichen Ergebnisse der kommenden Jahre und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist umstritten. Kurzfristig wird es durch die Umstellungen sicher zu etlichen Stellenverlusten kommen. Arbeitskräfte, die also schon ein mittleres Alter erreicht haben und in der Industrie tätig sind, könnten im Zuge der vierten industriellen Revolution tatsächlich auf der Strecke bleiben. Gleichzeit schafft die Digitalisierung eine Reihe von neuen Berufsbildern und demzufolge auch Jobs. „In der Summe überwiegen die positiven Effekte durch Industrie 4.0, das zusätzliche Wachstum schafft mehr Arbeitsplätze als in der Fertigung entfallen“, sagt Michael Rüßmann von der Beratungsfirma Boston Consulting Group (BCG). „Auch in Zukunft wird es keine menschenleeren Fabriken geben.“
BCG rechnet in diesem Zusammenhang in den kommenden zehn Jahren mit bis zu 390.000 Arbeitsplätzen. Darüber hinaus werde sich die Industrie 4.0 in Deutschland in drei weiteren Bereichen positive Effekte generieren. So werde sich beispielsweise die Produktivität erheblich verbessern, so die Schlussfolgerung der aktuellen BCG-Studie „Industry 4.0: The Future of Productivity and Growth in Manufacturing Industries“. Nach Abzug der Materialkosten für die Industrie lassen sich in den kommenden fünf bis zehn Jahren zusätzliche Gewinne in Höhe von durchschnittlich 5 bis 8 Prozent durch eine verbesserte Produktivität erreichen. Vor allem Hersteller von Maschinen und Autos werden der Studie zufolge die besten Produktivitätsleistungen durch Industrie 4.0 erreichen.
Insgesamt rechnen die Experten mit einem zusätzlichen Wachstum des Bruttoinlandproduktes um ein Prozent bzw. 30 Milliarden Euro. Gleichzeitig könnte ein Investitionsvolumen in Höhe von 250 Milliarden Euro geschaffen werden. Dies hängt davon ab, wie gut die die Angebote nationaler Unternehmen zur Umsetzung von Industrie 4.0. Die deutsche Industrie hat einen erheblichen Investitionsbedarf, wenn es rechtzeitig das Zeitalter der Digitalisierung einläuten will. Wenn deutsche IT-Unternehmen hier interessante Lösungen anbieten, können sie den US-Unternehmen Konkurrenz machen und von den Investitionen profitieren.
„Die deutsche Industrie mit ihrem führenden Automatisierungsgrad hat alle Chancen, bei Industrie 4.0 ganz vorne mitzuspielen“, so Rüßmann. „Die Unternehmen können sogar eine Führungsrolle einnehmen, wenn sie jetzt entschieden handeln“. Das bedeutete aber, sich mit den technologischen Möglichkeiten auseinanderzusetzen und für die eigene Produktion pragmatisch die passenden Technologien einzuführen.
Gleichzeitig ist dazu ein verstärkter Ausbau der Netze und eine Anpassung auch der schulischen Bildung notwendig. In Sachen Breitbandvernetzung International liegt Deutschland zwar im oberen Mittelfeld. Allerdings reicht die dafür zugrunde liegende von der International Telecommunication Unit (ITU) zwei Megabit pro Sekunde als Breitbandverbindung bezeichnete Übertragungsgeschwindkeit nicht für die Bedürfnisse der Industrie 4.0. Vielmehr seien stabile Hochleistungsübertragungswege über Glasfaserkabel erforderlich. In Sachen Glasfaserkabel liegt Deutschland mit einer Glasfaser-Quote von lediglich einem Prozent jedoch auf dem letzten Platz in Europa, wie aus einer FES-Studie hervorgeht.
Bei dem steigenden Bedarf an IT-fähigen Mitarbeitern muss auch an eine Änderung der schulischen Kompetenzvermittlung gedacht werden. „Ohne IT- und Softwarekompetenz verliert Deutschland den Vorsprung bei Automatisierung und Arbeitsplätzen“, sagt Rüßmann. Das gilt auch für die Mitarbeiter. Der Länderindikator 2015 „Schulde digital“ der Deutsche Telekom Stiftung zeigt, dass lediglich Rheinland Pfalz, Hamburg und Bremen gut aufgestellt sind. Baden-Württemberg, Hessen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Berlin, Brandenburg und Sachsen haben hingegen einen erheblichen Nachholbedarf. 46 Prozent der deutschen Lehrer setzen mindestens einmal die Wochen Computer im Unterricht ein, 2013 waren es sogar nur 34,4 Prozent, so die Ergebnisse der International Computer and Information Literacy Study. Die Mehrheit der Lehrer in Deutschland wünscht sich, Computer öfter einsetzen zu können. Allerdings stehen hier auch oft die starren Lehrpläne und die Anschaffungskosten im Weg.