In Frankreich sind Videoaufnahmen vom Bahnhof Lyon Part-Dieu aufgetaucht: Sie sollen den Tunesier Anis Amri auf seiner Flucht zeigen, wie er unbehelligt durch Frankreich gereist ist. Obwohl nicht im Ansatz belegt ist, ob ein Mann dieses Namens und dieser Identität wirklich für den Lkw-Anschlag in Berlin verantwortlich ist, nützen die französischen Politiker den Vorfall, um sich auf den Wahlkampf einzustimmen. Im Land herrscht nach wie vor der Ausnahmezustand, mit dem die Rechte der Bürger massiv beschnitten und der Polizei erhebliche Ermächtigungen gewährt wurden.
Doch spätestens nach dem Sieg von Donald Trump ist klar, dass das Thema Einwanderer eine zentrale Rolle spielen wird. Die Gegner der deutschen Flüchtlingspolitik fühlen sich bestärkt - und werfen Kanzlerin Angela Merkel einen «historischen Fehler» vor. Die Tatsache, dass ihr französischer Kollege Francois Hollande Merkels Kurs verbal mitgetragen, die EU aber bei der Frage der Quote gnadenlos im Regen stehen lassen hat, spielt in der aufgeheizten Debatte noch keine Rolle.
Thierry Solère, Sprecher des konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon, fordert seit Tagen Antworten vom Pariser Innenministerium. «Wie kann es sein, dass ein von der Polizei in ganz Europa gesuchter Terrorist Frankreich im Ausnahmezustand mit Waffen betreten, sich in einem der größten Bahnhöfe Frankreichs aufhalten (...) und das Staatsgebiet wieder verlassen kann, ohne dass unser Überwachungssystem ihn erfasst?», fragte er laut dpa.
Aus Sicht der Parteichefin des Front National, Marine Le Pen, liegt das Problem beim Schengener Abkommen, das innerhalb Europas die Grenzkontrollen weitgehend abgeschafft hat - und dessen Ende sie schon lange fordert. «Diese Eskapade über mindestens zwei oder drei Länder ist symptomatisch für das totale Sicherheitsdebakel, das der Schengen-Raum darstellt», so Le Pen.
Der Polizeigewerkschafter Luc Poignant erinnerte dagegen daran, dass Frankreich 3000 Kilometer Landgrenzen habe. «Es ist offensichtlich, dass ich nicht jeden Meter einen Beamten hinstellen kann», sagte er dem Sender BFMTV. «Eine Grenze ist nicht hermetisch, selbst mit einem Haftbefehl.» Die sozialistische Europaabgeordnete Pervenche Berès argumentierte, dass Schengen auch Zusammenarbeit und Datenaustausch zwischen den europäischen Behörden ermöglicht habe.
Die Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik kommt allerdings in Frankreich nicht nur von der extremen Rechten. «Das "Willkommen" von Frau Merkel war ein historischer Fehler», twitterte Guillaume Larrivé, ein Sprecher der konservativen Republikaner, wenige Stunden nach dem Berliner Lkw-Anschlag - ohne Kenntnis eines Tatverdächtigen. «Ihre absurde Migrationspolitik ohne jegliche Kontrolle ist eine Tragödie.» Der neue Parteichef der Konservativen, Francois Fillon, wird eine restriktive Flüchtlingspolitik fahren - und im Wahlkampf mit Sicherheit mit scharfer Rhetorik auffahren, um Marine Le Pen auf den letzten Metern doch noch zu verhindern.
Auch der frühere Premierminister Manuel Valls, Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur der Sozialisten, erinnerte schnell an seine Kritik an Merkels Politik. «Wir haben nicht entschieden, unsere Grenzen zu öffnen», sagte Valls. «Aber ich will nicht diese furchtbare Verwechslung machen zwischen Flüchtlingen und Terroristen, die in der Tat vom Flüchtlingsdrama profitiert haben, um nach Europa einzusickern», sagte er dem Sender Europe 1.