Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sind Begründer der modernen Historischen Migrationsforschung in Deutschland. Ihr neues Buch bietet Erinnerungen und Beiträge zu ihrem Engagement als Grenzgänger zwischen Migrationsforschung und Migrationspolitik seit den 1980er Jahren. Was war der Anlass zu diesem Engagement, welche Erfahrungen verbinden Sie damit und wie unterscheiden sich in dieser Hinsicht Vergangenheit und Gegenwart?
Klaus J. Bade: Ich habe in den 1970er Jahren mit meiner wissenschaftlichen Arbeit in dem Feld begonnen, für das sich erst später der Begriff ‚Migrationsforschung’ durchgesetzt hat. Damals gab es auf politischer Seite eine erschreckende demonstrative Erkenntnisverweigerung gegenüber anstehenden bzw. erwartbaren Problemen im Zusammenhang von Zuwanderung und Integration. Und es gab eine eklatante Beratungsresistenz gegenüber entsprechenden wissenschaftlichen Ergebnissen.
Das hat mich und uns schließlich dazu gebracht hat, neben die Politikberatung das treten zu lassen, was ich ‚Kritische Politikbegleitung’ genannt habe. Das ist der Versuch, Politik mit forschungsbasierten Interventionen über die Medien zu erreichen und unter Zugzwang zu setzen. Ein spätes Ergebnis dieser Strategie war der von mir zusammen mit führenden Stiftungsvertretern konzipierte Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), dessen Gründungsvorsitzender ich 2008-2012 war.
Heute arbeiten im Feld von Migration und Integration diverse universitäre und außeruniversitäre, parteinahe oder parteiunabhängige und insbesondere von Stiftungen geförderte Thinktanks. Das ist ein markanter Unterschied zur Vergangenheit. Und Politik hat gelernt, zuzuhören, wenn auch nicht immer mit den erwünschten Folgen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Auf die Ankunft der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg folgte schon Mitte der 1950er Jahre die Zuwanderung der ‚Gastarbeiter`. Wie war die Reaktion der Deutschen auf die rasch wachsende Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte?
Klaus J. Bade: Bei Befragungen verhalten skeptisch, im Arbeitsalltag umgänglicher. Aber man begegnete sich jenseits der Fabriktore lange kaum. Und über den Wolken, in Politik und Medien, gab es eine gewaltige Diskussion über Vor- und Nachteile der „Ausländerbeschäftigung“: Wäre es bei zunehmender Angebot-Nachfrage-Spannung am Arbeitsmarkt nicht sinnvoller und nachhaltiger, Produktionsprozesse in den Betrieben strukturell und durch arbeitssparende Einrichtungen zu modernisieren? Wäre es dort, wo das nur bedingt möglich war, nicht naheliegender, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und das Lohnniveau anzuheben, statt Ausländer zu Bedingungen und Löhnen hereinzuholen, die von Deutschen immer weniger akzeptiert wurden. Der Preis wäre aber in einigen Krisenbereichen der unternehmerischen Wirtschaft, zum Beispiel in der Textil- und Bekleidungsindustrie, eine schwere ‚Reinigungskrise’ gewesen. Sie hätte viele an der Rentabilitätsgrenze wirtschaftende ‚Grenzbetriebe’ vom Markt gefegt, die dort nur mithilfe der Ausländerbeschäftigung noch eine Weile überleben konnten. Wirtschafts- und unternehmensgeschichtlich war die starke Ausländerbeschäftigung also auch ein Beitrag zur Modernisierungs- und Innovationsverschleppung.
Aber die Ausländerbeschäftigung hatte nicht nur Ersatzfunktionen, sondern auch erhebliche Zusatz- und Erweiterungsfunktionen am Arbeitsmarkt. Ohne sie hätte es, trotz der Millionen von deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, das deutsche „Wirtschaftswunder“ in den erlebten Dimensionen nicht gegeben. Und als dann der Mauerbau von 1961 den Zustrom von Arbeitskräften aus der DDR abschnitt, schnellte die Zahl der Anwerbungen auf Millionenhöhe, bis der Anwerbestopp 1973 die vertraglich geregelte vorwiegend staatlich organisierte Massenzuwanderung beendete.
Rund 14 Millionen waren bis dahin gekommen, 11 Millionen davon kehrten zurück, 3 Millionen blieben, gründeten Familien im Aufnahmeland oder zogen ihre Familien aus dem Herkunftsland nach. Die Verlagerung des Lebensmittelpunktes war ein zentrales Indiz für den Übergang von Arbeitsaufenthalten über Daueraufenthalte in eine echte Einwanderungssituation...
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Hat Politik danach gestrebt, die Integration der ‚Gastarbeiter’ zu fördern – oder darauf gesetzt, dass sie wieder in ihre Heimatländer zurückkehren?
Klaus J. Bade: Es ging zunächst ausschließlich um die schon Anfang der 1950 Jahre von der Arbeitgeberseite gemeldete, häufig überzeichnete Angebot-Nachfrage Spannung am Arbeitsmarkt. Sie würde, so hieß es, auf Dauer ein zügiges Wachstum erschweren oder gar blockieren. Erstes Ergebnis war die Anwerbevereinbarung von 1955 zwischen Deutschland und Italien, die beide ihre eigenen Interessen daran hatten: Die deutsche Seite dachte an den Import von Arbeitskräften, die italienische an den Export von Arbeitslosen und an Lohngeldtransfer.
Anfangs gab es in Deutschland Gedanken an Rotationskonzepte, die sich aber gegenüber den Arbeitgebern nicht durchsetzen ließen, die nicht immer wieder neue Arbeitskräfte anlernen wollten. Integrationskonzepte oder gar Vorstellungen von staatlich begleiteten Einwanderungsprozessen gab es nicht. Ausländerpolitik war nur Arbeitsmarktpolitik, angewendet auf Ausländer. Erst sehr viel später gab es halbherzige Konzepte für eine ‚soziale Integration auf Zeit’ bei steter ‚Förderung der Rückkehrbereitschaft’. Assimilation sollte vermieden werden, absurderweise also just das, was später von der Politik eingefordert wurde.
Als seit den späten 1970er und besonders in den 1980er Jahren die Massenarbeitslosigkeit wuchs, wurden die ausländischen Arbeitnehmer als Konkurrenten um knapper werdende Arbeitsplätze empfunden. In Wahrheit wurden sie oft zuerst arbeitslos und transferabhängig, wobei dann aber über ausländische ‚Kostgänger’ im Wohlfahrtsstaat lamentiert wurde. Das alles zeigte, dass die ‚Gastarbeiter’ nach wie vor nur als Arbeitskräfte, aber nicht als Einwanderer betrachtet wurden; denn Gast ist nur, wer nicht auf Dauer bleibt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wir erinnern uns, dass das 50jährige ‚Jubiläum’ des ersten, deutsch-italienischen ‚Anwerbevertrags’ von 1955 auf politischer Seite eher uninspiriert gefeiert wurde. War das nur Hilflosigkeit?
Klaus J. Bade: Das war hilflos und peinlich zugleich: Man hatte in diesem Zusammenhang auf der Bundesebene eben wenig, auf das man glaubte stolz sein zu können; denn in Sachen Integration zielführende Konzepte hatte es nie gegeben. Das es mit der Integration trotzdem weitgehend geklappt hat, grenzt an ein Wunder, allerdings mit unnötigen Reibungsverlusten zu Lasten der ‚Gastarbeiter’ beiderlei Geschlecht und ihrer Familien. Die Integrationsarbeit wurde an dafür finanzierte Wohlfahrtsverbände und Mittlerorganisationen delegiert und in den Kommunen gestaltet. Die waren sehr erfolgreich damit, während auf der Bundesebene laut, aber ergebnislos darüber gestritten wurde, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, wobei die CDU/CSU besonders sperrig argumentierte. Im Blick auf Problemzonen und ‚Parallelgesellschaften’ wurde dabei vor allem an ‚die Türken’ und weniger an Zuwanderer aus Italien, Spanien oder Jugoslawen gedacht.
Mithilfe der – in Wahrheit noch von der sozialliberalen Koalition konzipierten, aber nicht mehr umgesetzten – ‚Rückkehrprämien’ plane er, „die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren“, könne dies aber „noch nicht öffentlich sagen“, erklärte der frisch gewählte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Ende Oktober 1982 in einem geheimen Strategiegespräch. Aber auch sein gestürzter Amtsvorgänger Helmut Schmidt (SPD) hatte 1982 barsch erklärt: ‚Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze!’ Und auch der ideologiekritische Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler (SPD), der später den ‚Islamkritiker’ Thilo Sarrazin für einen engagierten Reformsozialisten hielt, konstatierte 2002 schroff: „Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem.“
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Man hat den Eindruck, dass die Deutsch-Türken in Deutschland heute hervorragend integriert sind – wirtschaftlich, gesellschaftlich, sozial. Täuscht dieser Eindruck?
Klaus J. Bade: Die sogenannten Deutsch-Türken sind in ihrer großen Mehrheit gut integriert. Das zeigen viele Umfragen – wenn man dabei die richtigen Fragen stellt und die passenden Vergleichsgruppen wählt. Es war lange eine umfragetechnische Fehlleistung, die sogenannten Deutsch-Türken en bloc mit der deutschen Mehrheitsbevölkerung oder mit der in Deutschland insgesamt lebenden Bevölkerung zu vergleichen. Es wurde nicht berücksichtigt, dass die sogenannte Gastarbeiterbevölkerung mehrheitlich aus dem gering qualifizierten Arbeitermilieu stammte. Wenn man dieses Sozialmilieu mit dem gleichen deutschen Sozialmilieu verglich, kam man zu ganz anderen Ergebnissen. Der soziale Aufstieg eines Sohnes von Analphabeten aus Anatolien zum Busfahrer in Berlin war eben bei weitem schwieriger als etwa der soziale Aufstieg der Tochter eines deutschen Busfahrers in eine Spitzenposition.
Hinzu kommt, dass bei alldem oft eine gewaltige intergenerative Integrationsdimension unterschlagen wurde: Es war der lebenslange Kampf von gering qualifizierten Zuwanderern auf den niedrigsten Ebenen des Arbeitsmarktes, um ihren Kindern Schule und Studium zu ermöglichen. Zum Dank dafür hätte man bei diesen Eltern und Großeltern ohne viel Federlesens die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptieren sollen. Das wäre eindrucksvoller gewesen als die gut gemeinte späte Floskel ‚Deutschland sagt danke’ aus dem Bundeskanzleramt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wir verstehen nicht, warum die Deutsch-Türken quasi über Nacht zu einem Feindbild stilisiert werden. Was steckt dahinter?
Klaus J. Bade: Das ist kein Albtraum, der über Nacht Wirklichkeit geworden ist. Es gab vielmehr ein ganzes Bündel von Vorurteilen, das jederzeit abrufbar war und ist: ‚Die Türken’ galten in Deutschland lange als die Inkarnation des Fremden schlechthin. Die vor allem anti-türkische ‚Islamkritik’, die in der ‚Sarrazin-Debatte’ 2010 einen Höhepunkt erreichte, hat mediengestützt entscheidend dazu beigetragen, dieses Misstrauen weiter zu vertiefen: von Kopftuch- und Schwimmbad-Debatten über die Schreckensdimensionen von Ehrenmord und Genitalverstümmelung bis zur Rede von einer grundsätzlich mangelnden Integrationsbereitschaft oder gar ‚Integrationsfähigkeit’ der sogenannten Deutsch-Türken.
Das alles wird nun wieder wachgerufen durch Berichte über eine wachsende Zahl gewaltbereiter Islamisten, über die ideelle Nähe zwischen der türkischen Regierungspolitik und lärmenden Erdogan-Anhängern in Deutschland, die aber zweifelsohne nicht die Mehrheit der sogenannten Deutsch-Türken darstellen. Hier braucht es klare Positionierungen seitens der Bundesregierung. Sie argumentierte bis zu Erdogans ungeheuerlichem Faschismus- bzw. Nazi-Vorwurf zu defensiv und vermeintlich diplomatisch, weil sie im Wahlkampf vom Flüchtlingsdeal mit der Türkei abhängig geworden ist. Das Lavieren gegenüber einem zunehmend undemokratischen, autoritären und im Umgang mit seinen Gegnern brutalen Regime ist heuchlerisch, auch im Blick auf die deutsche Geschichte.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Dass die Ditib von der Türkei finanziert wird, ist seit Jahrzehnten bekannt. War es nicht auch ein Fehler, dass die Bundesregierungen stets gesagt haben, das interessiert uns nicht?
Klaus J. Bade: Deshalb verstehe ich auch die neue Aufregung darüber nicht ganz; abgesehen von der berechtigten Empörung über möglicherweise denunziative Berichte einzelner Imame an türkische Regierungsstellen, die in meinen Augen den Tatbestand ausländischer Agententätigkeit erfüllen und entsprechend zu ahnden sind. Wir haben seit vielen Jahren gefordert: Nicht nur Islamkunde-Lehrer sollten in Deutschland ausgebildet werden. Auch Imame sollten mindestens ein Zusatzstudium in Deutschland absolvieren und des Deutschen mächtig sein. Sie sollten nicht als nur türkischsprachige religiöse Diplomaten für einige Jahre eingeflogen werden ohne die zur Förderung der Integration ihrer (ehemaligen) Landsleute hierzulande nötige Erfahrung und Motivation. Das wird an verschiedenen Universitäten seit einigen Jahren mühsam, aber erfolgreich umgesetzt, Münster, Osnabrück, Erlangen sind Beispiele dafür.
Die hier zuständigen Landesregierungen sind darüber hinaus aufgerufen, in dieser Hinsicht nicht nur zu fördern, sondern auch nachdrücklich zu fordern - auch der DITIB gegenüber. Es geht hier schließlich nicht um türkische Moscheen in Deutschland, sondern um muslimische Gotteshäuser, die unter dem Schutz unserer Verfassung stehen und bei deren religiöser Unterweisung auch unsere Verfassungswerte beachtet werden müssen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Mehrheit der Deutsch-Türken ist säkular – oder täuschen wir uns da?
Klaus J. Bade: Das kann man so generell nicht sagen, wenn man auf die vielen Einzelstudien, Umfragen und Auswertungen blickt – von dem Münsteraner Religionssoziologen Detlev Pollack über den Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung bis zur Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei geht es allerdings meistens generell um Muslime und nicht nur um die türkisch-muslimische Community in Deutschland.
Klar ist: es gibt eine deutlich stärkere Religiosität der Muslime im Vergleich zu den Christen in Deutschland. Die Muslime türkischer Herkunft in Deutschland sind aber weniger religiös als diejenigen in der Türkei. Man sollte also die gelegentlich behauptete Intensivierung der Religiosität durch den ideellen Zusammenhalt in der Fremde („Diasporaeffekt“) nicht überschätzen. Überraschend ist auch, dass jüngere Muslime deutlich religiöser zu sein scheinen als ältere – was im Gegensatz zur These von der Säkularisierung durch Verwestlichung steht.
Ein weiteres kommt hinzu: Nach der Umfrage von Pollack unter rund 1400 Muslimen türkischer Herkunft fühlen sich, sehr vereinfacht, rund 90 % in Deutschland wohl. Aber 10 % fühlen sich ungerecht behandelt, vor allem immer wieder auf ihr Muslim-Sein zurückgedrängt. Es kann sein, dass gerade diese Gruppe sich stärker öffnet zum einen gegenüber Identitätssicherung und Sinnsuche durch Religiosität, zum zweiten für Radikalisierung und zum dritten für Erdogans absurde Behauptungen einer Unterdrückung der Menschen türkischer Herkunft in Deutschland.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Viele Deutsch-Türken der zweiten und dritten Generation sprechen perfekt Deutsch, haben Berufe, sind Leistungsträger. Wird das Potenzial dieser tüchtigen jungen Leute in Deutschland ausreichend genützt?
Klaus J. Bade: Das ist abhängig von Qualifikation und Sozialmilieu. Bei den Hoch- und Höchstqualifizierten gibt es, Umfragen zufolge, weniger Benachteiligungen gegenüber Bewerbern ohne den sogenannten Migrationshintergrund. Dennoch wandern noch immer viele hoch- und höchstqualifizierte Nachfahren der früheren türkischen ‚Gastarbeiter’ in die fremde Heimat der Eltern und Großeltern aus oder begründen transnationale Existenzen, weil sie sich in Deutschland benachteiligt fühlen.
Die entscheidende Frage aber ist: Wie erreicht ein Jugendlicher aus einer deutsch-türkischen Einwandererfamilie überhaupt diese Spitzenqualifikationen und diese hochliegenden Sozialmilieus. Beim sozialen Aufstiegsweg dahin macht es eben nach wie vor einen entscheidenden Unterschied: Kommt man mit einem deutschen Namen aus den sogenannten gehobenen Verhältnissen, die sich ständig selbst reproduzieren? Oder hat man einen türkischen Namen und stammt aus einer sogenannten Gastarbeiterfamilie. Das reicht von der Empfehlung für den weiterführenden Schulbesuch bis zur Konkurrenz um den Ausbildungsplatz. Das ist ein gesellschaftlicher Skandal erster Ordnung. Er unterscheidet Deutschland in seiner Einwanderungsgeschichte nicht mehr nur von Kanada oder den USA, sondern auch vom übrigen Europa: Einwanderer der zweiten Generation haben dort im Durchschnitt sogar ein höheres Bildungsniveau als die übrige Bevölkerung.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Bundeskanzlerin hat die Deutsch-Türken nach dem Putsch zur „Loyalität“ gegenüber Deutschland aufgefordert. Sie hat das zwar später zurückgenommen – aber was steckt hinter solch einer merkwürdigen Forderung?
Klaus J. Bade: Wer weiß, was damit tatsächlich gemeint war. Es klang jedenfalls wie eine integrationsskeptische Warnung vor Illoyalität und aggressiver Abkapselung, vor einer gruppenbezogenen Frontstellung in der Einwanderungsgesellschaft. Gut, dass das vom Tisch ist. Ich vermute, dass der missglückte Appell von der begründeten Sorge getragen war, die innertürkischen Konflikte könnten noch intensiver nach Deutschland überspringen, als das ohnehin schon der Fall ist.
Bundesregierung und Bürgergesellschaft in Deutschland sollten die deutschen Mitbürgern mit türkischen Vorfahren nicht unter eine Art Erdogan-Verdacht stellen, sondern sie in ein gemeinsames ’Wir’ einschließen. Nötig ist die klare Ansage, dass sich in der Türkei ein autokratisches Herrschaftssystem entfaltet, das immer weiter wegdriftet von europäischen demokratischen Grundwerten wie Meinungsfreiheit, Toleranz und Minderheitenschutz.
Es gilt, Widersprüche aufzudecken und standhaft zu bleiben: Integrationsappelle an Mitbürger türkischer Herkunft passen nicht zu Redegenehmigungen für desintegrativ agierende Vertreter des türkischen Regimes, die auswärtige Konflikte importieren und damit die türkische Community in Deutschland spalten wollen. Und es passt auch nicht zusammen, dass dieses Regime glaubt, deutschen Abgeordneten nach Belieben den Besuch deutscher Soldaten auf NATO-Stützpunkten in der Türkei verbieten zu können, Deutschland und die EU pauschal denunziert und zugleich weiter auf Geld und Touristen aus der EU und Deutschland hofft. Appeasement führt hier nur zu weiteren Dreistigkeiten.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Unser Eindruck ist, dass die mehrheitlich gute Integration der Deutsch-Türken dazu geführt hat, dass es in Deutschland keine starken rechtsextremen Parteien gibt. Kann dieser Eindruck zutreffen?
Klaus J. Bade: Jein. Integration in Deutschland – nicht nur die der sogenannten Deutsch-Türken – ist besser als ihr Ruf im Land. Ausnahmen bestätigen die Regel. Das hat dazu beigetragen, dass das ‚islamkritische’ und rechtspopulistische Gerede von ‚der gescheiterten Integration der Türken’ in Deutschland – zumindest noch – ins Leere läuft. Aber das ist kein Grund, sich entspannt zurückzulehnen, denn: Einerseits gibt es nach wie vor erhebliche Integrationsprobleme. Andererseits gibt es eine buchstäblich brandgefährliche Verschränkung von Asylkritik, Islamkritik und diffuser Fremdenfeindlichkeit. Dahinter stehen häufig aus Sozialangst geborene Projektionen. Dazu gehört aber auch die durchaus begründete und in der sogenannten Flüchtlingskrise gewachsene Sorge vor einer veritablen Opferkonkurrenz zwischen einheimischen Armen und ausländischen Flüchtlingen. Hier braucht es mehr gesellschaftspolitische Intervention.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie wirken sich die neuen Migrationsbewegungen auf das Verhältnis der Deutsch-Türken zu den Deutschen aus?
Klaus J. Bade: Die ‚Deutsch-Türken’ sind zumeist auch Deutsche. Sie wirken hier gespalten: Als Einheimische stehen sie auf der Seite der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Als Zuwanderer oder Nachfahren von Zuwanderern empfinden sie auch Skepsis in der Konfrontation mit der Neuzuwanderung von Flüchtlingen und gering qualifizierten Wirtschaftswanderern in großer Zahl. Das gilt im Blick auf Konkurrenzen am Arbeitsmarkt und im Transferbereich ebenso wie für die Sorge vor wachsenden Abwehrhaltungen in der Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund, die auf ‚die Migranten’ überspringen könnten.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie erklären Sie sich die euphorische ‚Willkommenskultur’ in der ‚Flüchtlingskrise’ von 2015?
Klaus J. Bade: Da gibt es Verwechslungen: Die von oben gestiftete sogenannte Willkommenskultur ist ja schon älter. Hintergrund waren demo-ökonomische Sorgen, insbesondere der wachsende oder doch absehbare Arbeitskräftebedarf und die anhaltende Abwanderung deutscher Fach- und Spitzenkräfte ins Ausland. Ersatzweise ging es darum, den vorwiegend aus europäischen Krisenstaaten nach Deutschland strebenden hoch- und höchstqualifizierten Wirtschaftswanderern die Tore zu öffnen. Die schon seit Generationen im Land wohnenden Einwanderer hingegen wurden mit dem Stichwort „Integrationsland Deutschland“ und der dahinterstehenden Botschaft abgefunden: Passt Euch gefälligst an! Eine Willkommenskultur, die diesen Namen verdient, sollte vereinen und nicht spalten.
Und was an Programmen zur ‚Willkommenskultur’ implantiert wurde, war – von einzelnen Ausländerbehörden als ‚Welcome Centers’, von der unternehmerischen Charta der Vielfalt und vom Diversity Management in vielen Betrieben abgesehen – doch keine Willkommenskultur, sondern bestenfalls Willkommenstechnik.
Euphorisch war hingegen in der Tat die von unten kommende bürgergesellschaftliche Willkommensbewegung. Sie hat Türen in die Zukunft eingetreten. Sie hat die Politik vor sich hergetrieben. Und sie hat, zusammen mit den oft an den Rand ihrer Möglichkeiten geratenen Kommunen und Ordnungskräften, eine humanitäre Katastrophe verhindert. Im Grunde hat sie dazu beigetragen, die von den verschiedensten Seiten attackierte und politisch unter Druck geratene ‚Wir schaffen das’-Kanzlerin zu retten.
Nachdem der Gipfel dieses heroischen Engagements überschritten war und die Zahlen der Flüchtlinge – erzwungenermaßen – sanken, kam die Konfrontation mit den Mühen der Ebene. Das galt besonders für den Übergang von der Überlebenshilfe zur konkreten Lebensgestaltung durch die Förderung der Teilhabe im Aufnahmeland. Die damit verbundene Begleitung auf den verschiedensten und oft zermürbenden Behördengängen hat viele Flüchtlingshelfer aus der Willkommensbewegung überfordert. Wer erwerbstätig war, konnte hier ohnehin nicht mehr helfen, weil nach Dienstschluss auch die Behörden Feierabend haben. Dieses Engagement hat aber auch viele Helfer frustriert; denn sie mussten erleben, dass in der ausländer- und sozialbürokratischen Maschinerie, allem Gerede von ‚Welcome Centers’ zum Trotz, Flüchtlingen gegenüber jedenfalls wenig ‚Willkommenskultur’ und oft sogar das Gegenteil spürbar war.
Das langsam einsetzende Schrumpfen des Engagements wurde gesteigert durch stete, bald zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geratende rechtspopulistische Warnungen vor einem „Kippen der Stimmung”. Hinzu kamen schließlich von der Sensationspresse zum nationalen Flüchtlings-Sex-Skandal übersteigerten Ereignisse der Kölner Silvesternacht, die auch Helfer irritierten und demotivierten.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie erklären Sie sich, dass jetzt faktisch alle Parteien auf Abschottung setzen? Die Lager in Libyen entsprechen nicht ansatzweise den Menschenrechten, aber auch hierzulande werden die Grundrechte der Migranten massiv beschnitten („Gefährder“-Judikatur, Zugriff auf private Handy-Daten, Festhalten in Auffanglagern, Ignoranz gegenüber den Zuständen in Griechenland) – woher kommt diese Kehrtwende?
Klaus J. Bade: Pardon, das ist eine historisch falsche Wahrnehmung. Es gibt keine Kehrtwende. Die Abschottung läuft schon seit vielen Jahren. Die magische Botschaft ‚Wir schaffen das!’ illusionierte eine scheinbare Abwendung davon, weil die Kanzlerin mit ihren drei situationsbedingten und mutigen Worten, verbunden mit einigen missverständlichen Nachrichten aus dem Nürnberger Bundesamt, versehentlich eine Art globalen Schabowski-Effekt ausgelöst hatte. Nach dem Scheitern der Versuche, die nur sogenannten europäischen Partner einzubinden, ging es bald nur noch um den Versuch, ohne Gesichtsverlust und mithilfe der Türkei von diesem hohen Ross wieder herunter zu kommen. Das ist schließlich gelungen und jetzt schlägt das Pendel wieder in die schon vordem bediente Gegenrichtung aus.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es gibt ja im Grunde zwei Formen der Migration: Flucht aus Krieg oder Bürgerkrieg und Wanderung aus wirtschaftlichen Gründen. Müsste man nicht Kriege stoppen werden, um Menschen, die in ihrer Heimat bleiben wollen, nicht zu vertreiben. Und sollten uns, umgekehrt, Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen, nicht eigentlich willkommen sein?
Klaus J. Bade: Es gibt Flüchtlinge und Wirtschaftswanderer. Häufig überschneiden sich die Migrationsmotive; denn auch der flüchtende Homo migrans ist ja im Rahmen seiner jeweiligen Möglichkeiten ein Animal rationale migrans. Aber es gibt in der Regel klare Prioritäten bei der Motivation.
Wie man Wirtschaftswanderer und Flüchtlinge im gemeinsamen Interesse vernünftig begleiten kann, das kann man von Kanada lernen. Dort gibt es seit Jahrzehnten ein immer wieder neu justiertes bedarfsorientiertes Punktesystem. Es wurde erst vor gut einem Jahr wieder grundlegend reformiert und nahm dabei sogar - mit der Einführung der Bevorzugung von Arbeitswanderern mit Vertragsangebot – auch in Deutschland geltende Elemente auf.
Aber es gibt in Kanada auch eine anders als bei uns ausgerichtete Asylpolitik. Sie ermöglicht jenseits humanitärer Kriterien auch eine bedarfsorientierte Auswahl unter den Flüchtlingen und Asylsuchenden – gerade weil Flüchtlinge zuweilen auch Wirtschaftswanderer sind, denen ein Asylverfahren erspart werden kann, weil sie ihrer Qualifikation und anderweitigen Passfähigkeit nach vom Aufnahmeland gern als Einwanderer akzeptiert werden. Ein Pragmatismus, der dem aufgeklärten Eigeninteresse nützt und den humanitären Schutzverpflichtungen nicht schadet, wäre auch für Deutschland bedenkenswert.
Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass endlich mit einer Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen ernst gemacht werden muss, die diesem hehren Postulat entspricht. Das reicht von der aktiven Begrenzung der wirtschaftlichen Fluchtursachen durch echte Partnerschaften auf Augenhöhe im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe und von globaler Fairness im Handel bis hin zu dem Bemühen um die Begrenzung von politischen und anderen Krisenherden. Die zur Wirtschaftsförderung in Deutschland und Europa anhaltenden Waffenlieferungen in Krisengebiete und Flucht-Verhinderungsverträge mit fluchttreibenden despotischen Regimen wie in Eritrea und im Sudan sind das menschenverachtende Gegenteil davon.
Will sagen: Wir müssen teilen lernen. Spenden ist gut, aber nicht gut genug; denn Spenden hat mit Teilen soviel zu tun wie Barmherzigkeit mit Gerechtigkeit.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gehen Sie davon aus, dass Deutschland in der Lage sein wird, eine signifikante Zuwanderung in den kommenden Jahren so zu steuern, dass sie wirtschaftlich, sozial und kulturell an die Erfolge der ‚Gastarbeiter’-Generation anschließen kann?
Klaus J. Bade: Ja, vorausgesetzt, dass man endlich begreift, dass frühzeitige und großzügige Investitionen in Bildung und Ausbildung fiskalisch und sozial unvergleichbar günstiger und effektiver sind als nachbessernde Reparaturpolitik im Sinne dessen, was ich seinerzeit als “nachholende Integrationsförderung“ in die Debatte gebracht habe.
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Klaus J. Bade: Prof. em. Dr. Klaus J. Bade lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und lebt seither in Berlin. Er war Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), des bundesweiten interdisziplinären Rates für Migration (RfM), stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats der Bundesregierung für Migration und Integration 2004/05 und 2008-2012 Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin. Bade war Fellow/Gastprofessor an den Universitäten Harvard und Oxford, am Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS) sowie am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er hat zu Migration und Integration in Geschichte und Gegenwart viele Forschungsprojekte geleitet, einige Dutzend Bücher sowie einige hundert kleinere Schriften veröffentlicht. Für sein Engagement in Forschung und Kritischer Politikbegleitung hat er diverse Auszeichnungen erhalten.
Klaus J. Bade: Migration - Flucht - Integration
Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’
Erinnerungen und Beiträge
Die ‚Flüchtlingskrise’ ist nicht die erste ‚Krise’ in Sachen Migration, Flucht und Integration in Deutschland und Europa. Klaus J. Bade, Begründer der modernen Historischen Migrationsforschung in Deutschland und streitbarer Vertreter der Kritischen Politikbegleitung, blickt zurück. Der Grenzgänger zwischen Migrationsforschung und Migrationspolitik präsentiert eine autobiografische Sicht auf sein kritisches Engagement und eine Auswahl seiner Medientexte und öffentlichen Vorträge - von der ‚Gastarbeiterfrage’ damals bis zu ‚Flüchtlingskrise’ und Terrorangst heute. Das Buch bietet Erinnerungen, Bestandsaufnahmen, Kritik und Denkanstöße: Wo stehen wir heute in Sachen Migration - Flucht - Integration? Worauf müssen wir uns für die Zukunft einrichten? Woran können wir uns orientieren?
Das Buch kann hier direkt beim Verlag bestellt werden.
ca. 650 Seiten, Hardcover, € 32,00
Subskriptionspreis bis 30.04.2017: € 25,00
ISBN: 978-3-86059-350-9
Hybride Publikation mit Open Access / frei zugänglich ab 21.4.2017 hier.
Das Buch wird am 21.4.2107 im Rahmen der Berlin Lecture vorstellt (Details hier).