Sebastian Huld von der AFP berichtet:
Von seinem Büro im 14. Stock hat Sahin Albayrak eine hervorragende Sicht auf den Berliner Ernst-Reuter-Platz. "Manche Menschen drehen drei Runden, bis sie da wieder rauskommen", sagt der Informatik-Professor über den mehrspurigen Kreisverkehr. Von dort bis zum Brandenburger Tor errichtet Albayrak mit seinen Mitarbeitern die europaweit erste Teststrecke für autonomes Fahren. Die Straße des 17. Juni wird zum Testlabor.
3,7 Kilometer lang streckt sich die größtenteils vom Tiergarten flankierte Allee durch das westliche Stadtzentrum, stets bewacht von der "Goldelse" auf der mittig gelegenen Siegessäule. In einem Jahr sollen bis zu einer Million Wachen hinzugekommen sein: Sensoren, Computer und Internetgeräte. Sie werden verbaut in Ampeln, Laternenmasten, am Rand der Straße sowie darunter. Sämtliche Verkehrsbewegungen sollen erfasst und kommuniziert werden.
Hierfür stehen Albayrak und den Mitarbeitern des von ihm gegründeten DAI-Labors an der Technischen Universität (TU) Berlin seit diesem Frühjahr bis zum Sommer 2019 insgesamt 3,7 Millionen Euro zur Verfügung. Und das ist nach Albayraks Vorstellung nur die erste Phase: Die Straße des 17. Juni könnte zur dauerhaften Teststrecke unter Realbedingungen für Mobilitätsforscher werden.
Dabei hilft die Unterstützung von Partnern aus der Industrie - Automobilhersteller, Softwarefirmen und Telekommunikationsdienstleister. Sie alle stehen vor einer technischen Revolution. Was vernetzt werden kann, wird auch vernetzt werden. Sämtliche technische Geräte sollen zum Wohl ihrer Nutzer miteinander kommunizieren und selbständig entscheiden. Das ist das Forschungsfeld des DAI.
"Wir wollen die Verkehrsampeln digitalisieren, den Verkehrsfluss überwachen und die Parkplätze digitalisieren", sagt Albayrak. Vernetzte Autos könnten mit Hilfe dieser Informationen ihren Fahrern Richtgeschwindigkeiten und Parkplätze empfehlen. Hinter großen Lkw fahrende Pkw-Nutzer könnten über rote Ampeln informiert werden, noch bevor diese zu sehen sind. Rechtsabbieger würden vor nahenden Radfahrern gewarnt.
Auch Otto-Normal-Fahrer soll profitieren, indem er alle Informationen via App auf dem Smartphone erhält. Künftige selbstfahrende Autos würden alle Informationen autonom verwerten und zugleich anderen Autos und Systemen ihre eigenen Absichten mitteilen.
Albayrak verspricht sich einen geringeren Energievierbrauch und weniger Abgase. Alle Verkehrsteilnehmer sollen sicherer und komfortabler unterwegs sein. Umweltsensoren werden überprüfen, ob Albayraks Projekt namens "Diginet PS" messbare Erfolge für die Berliner Luft erzielt.
"Die Straße des 17. Juni eignet sich deshalb so gut, weil die Anforderungen sehr komplex sind", sagt Albayrak. In den zwei mehrspurigen Kreisverkehren kommt es immer wieder zu Blechschäden. Besonders im Sommer sind viele Radfahrer unterwegs. Hinzu kommen Touristen, die meist wenig auf den Verkehr achten.
Wegen der vielen diplomatischen Vertretungen in der Gegend wird zudem ständig eine Straße kurzfristig für Eskorten gesperrt. Zur Hauptverkehrszeit führt das schnell zum Stau: Auf den ohnehin vollen Straßen geht nach zehn Minuten plötzlichen Stillstands oft gar nichts mehr.
"Wir wollen zusätzlich schwer behinderte Studierende von einem zum anderen Gebäude bringen", kündigt Albayrak an. Es soll eigens ein Kleinbus umgebaut werden. Dieser wird vollautomatisch zwischen den TU-Häusern am Ernst-Reuter-Platz pendeln. Die Studenten sollen den Chauffeur-Roboter per App bestellen können. Ein Fahrer wird aber zur Sicherheit hinter dem Steuer sitzen, um im Notfall einzugreifen.
"Im kommenden Jahr wollen wir mit den ersten vollautonomen Fahrten beginnen." Die Testautos werden großflächig mit dem Namen des Forschungsprojekts beklebt. Albayrak kann dann von seinem Büro aus beobachten, wie sich die Autos der Zukunft im Kreisverkehr bewähren.