Nach einer gemeinsamen Studie von ewi Energy Research & Scenarios in Köln und dem Europäischen Zentrum für Energie- und Ressourcensicherheit (EUCERS) am King's College London, das vom Auswärtigen Amt finanziert wurde, wird sich die Mischung der EU-Gasversorgung grundlegend verändern, da die europäische Gasproduktion rückläufig ist. Trotz eines prognostizierten Rückgangs der europäischen Gasproduktion ist die EU in der Lage, ihre Gasimporte zu diversifizieren und ihre Gassicherheit zu gewährleisten. In der Studie heißt es, dass die EU in den kommenden 20 Jahren mehrere Optionen zur Diversifizierung ihrer Gasimporte sowohl kurzfristig als auch langfristig hat. Die Studie konzentriert sich auf die Faktoren und die wichtigsten Akteure - darunter Russland und die Türkei, die voraussichtlich die europäische Erdgas-Zukunft deutlich beeinflussen werden. Es gebe zwei wesentliche Faktoren für die EU, um eine günstige strategische Position zu erreichen. Extern sind die Verfügbarkeit alternativer Erdgasquellen und die wachsende Möglichkeit für die Einfuhr von Flüssiggas (LNG) wichtig, um einen günstigen Rahmen für einen verstärkten Wettbewerb zu schaffen. Intern könnte die EU von weiteren Fortschritten bei der Marktintegration profitieren, insbesondere durch Infrastrukturinvestitionen, die ihren hochliquiden nordwestlichen europäischen Gasmarkt mit Märkten in Süd- und Osteuropa verbinden, heißt es in der Studie.
Die rückläufige europäische Gasproduktion wird in einem bedeutenden Ausmaß durch russisches Gas ersetzt werden, das eine bedeutende Quelle für die europäische Gasversorgung bleibt. Doch auch die LNG-Importe werden sich bis 2035 mehr als verdoppeln. In diesem Zusammenhang ist die Preisstrategie von Gazprom entscheidend.
Nur wenn Gazprom eine wettbewerbsfähige Preisstrategie annimmt, könnte der russische Energie-Riese weiterhin hohe Gasexporte nach Europa gewährleisten. In einem Szenario, in dem angenommen wird, dass Gazprom eine oligopolistische Preisstrategie anwendet, würden höhere Preise die LNG-Importe erleichtern und möglicherweise den Zufluss von neuem Gas aus dem Südlichen Korridor anziehen, so dass die russischen Exporte im Vergleich zu heute sinken.
Die Preisstrategie von Gazprom bezieht sich direkt auf die Profitabilität von Nord Stream 2: Die Pipelinekapazität wird nur in einem wettbewerbsorientierten Preisstrategie-Szenario benötigt. Sollte Gazprom stattdessen oligopolistische Preise wählen, wären die russischen Exportwege in hohem Maße ausgelastet und daher würden Investitionen in Nord Stream 2 nicht wirtschaftlich sein.
Allerdings ist die Profitabilität von Nord Stream 2 auch von den Tarifen für den Gasstransit durch die Ukraine – aktuell die wichtigste Pipelinestrecke für russische Gasexporte - betroffen.
Die Regierung in Kiew kann, so die Studie, die wirtschaftliche Begründung für den Bau von Nord Stream 2 zunichtemachen, indem sie die Transitgebühren durch die Ukraine senkt. Der Co-Autor der Studie, Adnan Vatansever, vom King’s College sagt, das die die Zukunft der Gas-Diversifizierung der EU von politischen Faktoren abhänge, die für die politischen Entscheidungsträger in Europa, aber insbesondere in Russland und der Türkei, äußerlich bedingt sein könnten. „Ein Großprojekt wie Nord Stream 2 kann unter der Annahme durchgeführt werden, dass die EU und Russland nicht in eine politische Krise schlittern, die bis zur Eskalation reicht“, so Vatansever.
Der Bau von Nord Stream 2 würde Deutschland zum Haupttransitland für russisches Gas und zum wichtigsten Gasdrehkreuz Europas machen. Nord Stream 2 würde mit dem Bau neuer Verbundkapazitäten in Form von Pipelines zwischen Deutschland, Tschechien und der Slowakei einhergehen. Dies würde eine erhöhte Versorgung der osteuropäischen Staaten mit russischem und nicht-russischem Gas ermöglichen.
Ebenso ist der Ausbau der Gasimporte durch den südlichen Gaskorridor auf die zukünftige Rolle der Türkei als Energietransitland ausgerichtet. Eine solche Rolle könnte jedoch durch Ankaras angespannte Beziehungen zur EU und ihrer Nachbarschaft beeinflusst werden. Eine Ausweitung der Gasimporte durch den Südgaskorridor könnte sowohl durch die Entwicklungen in der Türkei als auch durch ihre Auslandsbeziehungen beeinflusst werden.
Die USA sind sowohl gegen den Bau von Nord Stream 2 als auch gegen Turkish Stream. Gegen Nord Stream 2 haben die Amerikaner vor allem Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten als Verbündete an ihrer Seite. Die USA wollen ihr eigenes LNG-Gas in die EU exportieren und die EU-Staaten von russischen Gasimporten lösen. Vergangene Woche hatte aber auch das EU-Parlament eine Resolution verabschiedet, in der ein Baustopp von Nord Stream 2 gefordert wird. Das Projekt stehe im Gegensatz zu europäischen Interessen. Die Projektträger von Nord Stream 2 sehen das anders. Jens Müller von Nord Stream 2 hofft, dass das Pipeline-Projekt nicht den aktuellen politischen Wirrnissen zum Opfer fällt. Das Projekt entspreche genau jenen Werten, die die EU für die Energieversorgung vertritt.