Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat sich in den vergangenen Tagen überraschend explizit zu den zentralen Themen der Euro-Zone geäußert. Die deutlichen Worte legen den Schluss nahe, dass Schäuble sich bemühen will, die Eurozone zu retten und gleichzeitig funktionsfähig zu machen. Dies soll auf Kosten der EU geschehen. Die Vorschläge Schäubles zeigen einen deutlichen Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der EU-Kommission. Im Zuge des Brexit scheint es unausweichlich, dass die Euro-Zone als Block innerhalb der EU neu strukturiert wird. Denn die Institutionen gelten nur für die EU. Das Regelwerk für die Euro-Zone ist dagegen ausgesprochen bruchstückhaft und krisenanfällig. Für Schäuble scheint ein Ausweg aus dem Dilemma nur mittels Entmachtung der EU zu erreichen zu sein.
Zunächst attackierte Schäuble allerdings die EZB: "Die ultralockere Geldpolitik, die es in vielen Regionen gibt, ist nicht hilfreich", sagte Schäuble am Donnerstag in Washington. Vielmehr schüre sie Risiken wie Vermögenspreisblasen. Er forderte ein Umsteuern, sonst drohe Gefahr durch die ultralockere Geldpolitik. "Sie könnte dann in der Tat eher das Risiko einer neuen Krise erhöhen als es vermindern", warnte Schäuble. Die US-Notenbank (Fed) habe die Wende bereits eingeleitet. "Es wäre keine schlechte Idee, wenn die Europäische Zentralbank und andere Notenbanken dem folgten", sagte der Minister. Es sei gut, dass dies nun diskutiert werde.
Der Minister verteidigte zudem den hohen Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz. Dies sei letztlich das Ergebnis der Qualität und Attraktivität deutscher Produkte - "und nicht politischer oder währungsmäßiger Manipulationen". Der Überschuss im Handel mit den USA sinke bereits und werde in den nächsten Jahren weiter zurückgehen. Einen Beitrag zu den Ungleichgewichten habe auch die Entwicklung des Euro-Kurses geleistet, denn ein unterbewerteter Euro helfe grundsätzlich den deutschen Exporteuren. "Es ist nicht die deutsche Regierung, die die Geldpolitik in der Eurozone betreibt, es ist die Europäische Zentralbank", betonte Schäuble.
EZB-Chef Mario Draghi konterte umgehend und erteilt der Forderung Schäubles eine deutliche Abfuhr: Draghi hält die massive geldpolitische Konjunkturhilfe der Notenbank weiterhin für notwendig. Die EZB sei immer noch nicht ausreichend zuversichtlich, dass sich die Inflationsrate nachhaltig in Richtung des Notenbank-Ziels von knapp zwei Prozent bewege, erklärte Draghi am Freitag in Washington. "Ein sehr erhebliches Ausmaß an geldpolitischer Lockerung ist immer noch nötig", erklärte der Italiener. Die Inflationsrate werde in den nächsten Monaten voraussichtlich um das aktuelle Niveau herum pendeln. Im März waren die Verbraucherpreise in der Euro-Zone um 1,5 Prozent angezogen. Für April erwarten Volkswirte nun einen Anstieg der Teuerung auf 1,8 Prozent.
"Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Erholung über Länder und Sektoren hinweg verbreitert", erklärte Draghi. Zwar sei das Risiko einer Deflation - einer gefährlichen Abwärtsspirale bei den Löhnen und Preisen - inzwischen weitgehend verschwunden. Bei der Kerninflation, die schwankungsreichen Energie- und Ölpreise ausklammert, sei aber immer noch kein überzeugender Aufwärtstrend zu sehen. Die EZB richtet ihre Geldpolitik zwar nicht nach der Kerninflation aus. Bei der Betrachtung der Inflationsentwicklung spielt diese aber eine wichtige Rolle.
Der zweite Reformvorschlag Schäubles betrifft die Grundstruktur der Eurozone in Form der Haushaltspolitik. Schäubles Forderungen an die EZB waren nicht das Zentrum seiner Kritik. Schäubles Hauptsorge besteht in seiner Vorahnung, was passiert, wenn die EZB zur Zinswende schreitet: Dann werden nämlich die nationalen Schulden explodieren.
Schäuble will daher den Euro-Rettungsschirm ESM schon auf nahe Sicht zu einem Europäischen Währungsfonds ausbauen. Auf die Frage, ob das kurzfristig möglich sei, antwortete er am Donnerstag in Washington: "Ja, das denke ich schon." Käme es zu einem neuen Hilfsprogramm für ein Krisenland, sollte dies ohne den IWF laufen, sagte Schäuble. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sei offenbar müde geworden, sich immer wieder mit europäischen Problemen zu beschäftigen. "Ich würde versuchen, den ESM in Richtung eines Europäischen Währungsfonds zu entwickeln", äußerte der Minister. Davon habe er inzwischen auch Kanzlerin Angela Merkel überzeugt.
Schäuble will einem Europäischen Währungsfonds auch Aufgaben der Haushaltsüberwachung der Euro-Mitgliedsländer übertragen. "Das ist der Sinn", sagte der CDU-Politiker am Freitag in Washington und nahm damit ähnliche Äußerungen von Bundesbank-Präsident Jens Weidmann zu dem Thema auf. Bislang erfüllt diese Aufgabe die EU-Kommission, "die aber aus deutscher Sicht dazu neigt, aus politischen Gründen immer wieder zu nachgiebig zu agieren", wie Reuters analysiert.
Schäuble weiß, dass dieser Vorschlag auf eine Entmachtung der EU-Kommission hinausläuft: Der Europäischen Kommission und dem Parlament werde das sicherlich nicht passen, sagte Schäuble neulich bei Deloitte in Berklin: „Das ist nicht die beste Lösung“, räumte Schäuble ein. Aber in der internationalen Politik sei die zweitbeste Lösung immer noch besser als nichts. Schäuble zufolge soll der ESM von der EU-Kommission die Haushaltsüberwachung übernehmen. Auch könnten für künftige Krisen klare Regeln für die Beteiligung von Gläubigern an einer Schuldenrestrukturierung festgelegt werden. „Wir könnten ihn in die Lage versetzen, Risiken in den Mitgliedsstaaten zu identifizieren, zu überwachen und gegebenenfalls – im Dialog mit einem Staat – die Risiken auch zu steuern.“ Bei einem Hilfsprogramm könne der ESM von der EU-Kommission die Rolle übernehmen, die Bedingungen auszuhandeln.
Die neuesten Forderungen Schäubles, den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM zu einer Art europäischem Währungsfonds auszubauen, sind Teil der Strategie der vertieften Integration.
Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Schäuble die Weiterentwicklung des ESM zu einem Währungsfonds als „Plan B“ bezeichnet, für den Fall, dass eine Änderung der EU-Verträge aufgrund der Stimmenverhältnisse nicht möglich ist. Schäuble sagte vor einigen Tagen nach dem Treffen der Euro-Finanzminister in Brüssel:
„Und der dritte Bereich ist, die wirtschaftliche Integration zu erhalten, dass wir auch in den Fragen eine wichtige globale Rolle für die Stabilität, – auch die Finanzmarktstabilität, spielen können. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir die europäische Währung bis hin zur Bankenunion und solchen Dingen verteidigen und da kann es nun sein…ich glaube auch dass der IWF…Griechenland das wird so sein aber wahrscheinlich wird es, falls es jemals wieder Programme geben würde…dann kommen wir eben zurück zu der Idee die manche schon 2010 hatten, dass könnten wir Europäer auch alleine: Machen einen europäischen Währungsfonds. Und den kann man am besten – wir inzwischen ja von vielen so gesehen ..
Dass man den entwickeln kann in die Richtung, um die offensichtlichen Schwachstellen, die wir ja haben, die darin liegen: Wir haben keine europäischen Institutionen, die gemeinsame Finanzpolitik durchsetzen können. Das ist der Mangel des Euro, der Euro-Konstruktion, war bekannt aber hat sich als schwieriger herausgestellt – übrigens ist da eine deutsche Erblast, zuerst haben wir zusammen mit Frankreich uns nicht daran gehalten.
Nun ist es wie es ist. Und trotzdem wird das, was notwendig ist nicht gehen ohne ein hinreichendes Maß an Verlässlichkeit bezüglich dem was vereinbart worden ist. Und wenn die Kommission als die Kommission der 28 das im Zweifel nicht implementieren kann, weil sie sich als politische Kommission richtigerweise versteht, dann kann man sowas auslagern. Und da ist der ESM natürlich die gegebene Institution. Und deswegen ist das ein Plan B. Den man brauchen muss, vielleicht wenns so kommt. Mein Plan A wäre durch eine schnelle Vertragsänderung das alles ganz anders zu machen, dafür hast du heute keine Mehrheit - übrigens auch nicht in der deutschen Bevölkerung.“
Die Einrichtung des ESM als einen europäischen Währungsfonds bedeutet nichts anderes als die Schaffung einer Kern-Eurozone mit vertiefter politischer und wirtschaftspolitischer Integration für die Kern-Staaten. Der Währungsfonds könnte dann, wie schon der Name sagte, als Entwicklungs- und Finanzierungsvehikel für alle dienen, also auch jene Staaten, die aus der gemeinsamen Währung austreten oder niemals eintreten wollen.
Schäuble hat sein Konzept bereits 2011 in der New York Times dargelegt. Schäuble sah die Krise damals als Auslöser für eine verstärkte Integration. „Was wir jetzt mit der Fiskal-Union machen, ist ein kurzfristiger Schritt für die Währung. In einem größeren Kontext brauchen wir natürlich eine politische Union. (…). Es gibt eine begrenzte Übergangszeit, in der wir die Nervosität an den Märkten managen müssen. (…) Wenn es bis Ende 2012 oder bis Mitte 2013 klar ist, dass wir alle Zutaten für neue, gestärkte und vertiefte politische Strukturen beisammen haben, dann denke ich, dass es funktionieren wird. Die New York Times schrieb, dass Schäuble die Unruhe an den Märkten „nicht als Hindernis, sondern als Notwendigkeit“ sieht: „Wir können eine politische Union nur erreichen, wenn wir eine Krise haben.“
Am 1. September 1994 sorgte der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU für heftige Diskussionen in Deutschland und in Europa: Er präsentierte ein heute in Vergessenheit geratenes Papier, das die Überschrift „Überlegungen zur europäischen Politik“ trägt. Es lohnt sich, dieses Papier nochmals zu rekapitulieren, weil es alle Elemente enthält, die für Schäuble wichtig sind. Schäuble wird im Herbst erneut in den Bundestag einziehen. Bei einem sich heute abzeichnenden klaren Sieg von Angela Merkel könnte Schäuble das Amt des Finanzministers behalten und somit umsetzen, was ihm seit jeher für die Euro-Zone vorschwebt.
Die Analyse von vor 20 Jahren trifft in verblüffender Weise auch auf die Gegenwart zu: Die EU drohte, so schrieb Schäuble damals, sich „zu einer lockeren, im wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation mit verschiedenen Untergruppierungen entwickeln“.
Als Ursachen benannte Schäuble damals:
„Überdehnung der Institutionen, die für 6 errichtet, jetzt 12 und bald (voraussichtlich) 16 Mitglieder tragen müssen;
zunehmende Differenzierung der Interessen, die auf unterschiedlichem gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungsgrad beruht und welche die fundamentale Interessen-Übereinstimmung zu überdecken droht;
unterschiedliche Wahrnehmungen in einer vom Nordkap bis Gibraltar reichenden Union von der Vorrangigkeit innerer, mehr aber noch äußerer Aufgaben (z.B. Maghreb-Osteuropa);
ein tiefer, wirtschaftsstruktureller Wandel, welcher mit seiner massenhaften, kurzfristig nicht behebbaren Arbeitslosigkeit die ohnehin überlasteten Sozialsysteme und die Stabilität der Gesellschaften bedroht. Diese Krise ist ein Teilaspekt der umfassenden Zivilisationskrise der westlichen Gesellschaften;
Zunahme eines ,regressiven Nationalismus‘ in (fast) allen Mitgliedsländern, der die Folge einer tiefen Verängstigung - hervorgerufen durch die problematischen Ergebnisse des Zivilisationsprozesses und durch äußere Bedrohungen wie der Migration - ist. Die Ängste verleiten dazu, wenn nicht Lösungen, so doch mindestens Abschirmung in einem Zurück zum Nationalen und zum Nationalstaat zu suchen;
sehr starke Inanspruchnahme und Schwächen nationaler Regierungen und Parlamente angesichts der erwähnten Probleme.“
Zwanzig Jahre später hat sich an der Problemlage nichts geändert. Man muss sogar sagen, dass sich die meisten Probleme in verschärfter Form als real herausgestellt haben.
Griechenland ist immer noch ein ungelöstes Problem - und Schäuble sieht das auch so: Vor dem Hintergrund der Probleme mit dem dritten Kreditpaket für Griechenland sagte Schäuble vor einigen Tagen ganz offen, dass er sich einen Austritt des Landes aus der Euro-Zone vorstellen könne. Griechenland leiste sich einen höheren Lebensstandard, als es selbst erwirtschaften könne. Nötig seien deshalb weitere Reformen. „Sonst können sie nicht in der Währungsunion bleiben“, zitiert die dpa den Bundesfinanzminister. Außenminister Sigmar Gabriel kritisierte Schäuble daraufhin. Deutschland müsse seine ganze Kraft dafür einsetzen, Europa zusammenzuhalten. Man dürfe „nicht schon wieder wie Wolfgang Schäuble den Versuch unternehmen (...), die Griechen raus aus dem Euro zu drängen“, sagte er. Gabriel betonte, es sollte auch vermieden werden, dass die Deutschen gegenüber Frankreich, Italien oder Portugal „immer als Oberlehrer daherkommen“, berichtet die dpa. „Wer mit einer ‚Eurozone der zwei Geschwindigkeiten' spielt, mit Spaltung und Teilung, der spielt mit dem Feuer“, sagte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras. Schäuble relativierte seine Griechenland-Kritik etwas später. Doch durch die Blume bleibt er bei seinem Fatalismus: "Es ist möglich, wenn sie mindestens 50 Prozent ihrer Reformzusagen oder etwas mehr einhalten", sagte er. Erneut forderte Schäuble die Vollendung der Bankenunion. Zunächst aber gelte: "Die Bereinigung der Bankenbilanzen von faulen Krediten ist ein Muss." Erst wenn dies erreicht sei, könne man an eine Vergemeinschaftung der Haftung denken.
Aktuell läuft Europa ungeordnet mit zwei Geschwindigkeiten. Dieser Zustand war allerdings nicht absehbar, als Schäuble seinen Masterplan vorlegte.
Die EU befand sich damals in der Phase vor der Ost-Erweiterung und vor der Einführung des Euro. Für beide Perspektiven hatte Schäuble klare Lösungen – und sie unterscheiden sich sehr grundsätzlich von dem, was wir heute als politische Realität vorfinden.
Die Ost-Erweiterung ging für Schäuble damals interessanterweise mit einer echten Partnerschaft mit Russland und mit einer Emanzipation von den USA einher, auch wenn sich Schäuble damals schon recht diplomatisch ausdrückte. Er erwartete, dass die Ost-Erweiterung „eine Herausforderung und Bewährungsprobe nicht nur für die materielle Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit, sondern auch des ideell-moralischen Selbstverständnisses der heutigen Mitglieder“ darstellen werde.
Schäuble zur Frage, wie sich die EU positionieren solle:
„Die Antwort der Union wird über ihre Fähigkeit und ihren Willen aussagen, der - neben einem wieder stabilisierten, demokratisierten Russland und im Bündnis mit den USA - maßgebliche Ordnungsfaktor des Kontinents zu sein.“
Schäubles konkreter Ansatz erscheint vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts mit Russland als sehr weitsichtig:
„Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes muss eine stabile Ordnung auch für den östlichen Teil des Kontinents gefunden werden. Daran hat Deutschland ein besonderes Interesse, weil es aufgrund seiner Lage schneller und unmittelbarer als andere von den Folgen östlicher Instabilität betroffen wäre. Die einzige Lösung dieses Ordnungsproblems, mit der ein Rückfall in das instabile Vorkriegssystem und die Rückkehr Deutschlands in die alte Mittellage verhindert; werden kann, ist die Eingliederung der mittelosteuropäischen Nachbarn in das (west-)europäische Nachkriegssystem und eine umfassende Partnerschaft zwischen diesem und Russland.“
Schäubles Erfahrungen als direkter Beteiligter der Verhandlungen zur Wiedervereinigung haben ihn zu einem Russland-Versteher gemacht, wie man heute sagen würde. Es ist bezeichnend, dass Schäuble sich bisher im Hinblick auf Russland zurückgehalten hat, Damals schrieb er, „dass die Ostpolitik Deutschlands in der Geschichte im wesentlichen im Zusammenwirken mit Russland auf Kosten der dazwischen liegenden Länder bestand“. Um dies zu vermeiden, brauche es eine starke und handlungsfähige Europäische Union.
Die Euro-Zone wäre nach Schäubles Vorstellung zu einem Kern-Europa geworden. Schäuble schlug damals schon eine grundlegende Reform für alle EU-Institutionen vor. Er wollte das Europäische Parlament und die Subsidiarität in den einzelnen Staaten stärken: Das Parlament sollte demokratisch legitimierte Entscheidungen treffen. Sein Staatsverständnis war damals sehr liberal: Er wollte sicherstellen, dass der Staat nicht überbordend wird. Dazu sei zu klären, „ob öffentliche Hände, also auch die der Union, überhaupt bestimmte Aufgaben übernehmen oder sie gesellschaftlichen Gruppen überlassen sollen“.
Schäuble:
„Deutschland, auf dessen Wunsch das Subsidiaritätsprinzip in den Maastrichter Vertrag aufgenommen wurde und das über Erfahrung mit ihm verfugt, ist hier besonders gefordert, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie das Subsidiaritätsprinzip nicht nur auf künftige Maßnahmen der EU angewendet werden soll, sondern auch wie geltende Vorschriften an das Subsidiaritätsprinzip angepaßt werden sollen.“
Damit wäre den Staaten sozusagen „von unten“ Druck entstanden: Auf höherer Ebene sollte nur entschieden werden, was auf der jeweils untersten Ebene nicht entschieden werden kann. Die heutige EU ist ziemlich das Gegenteil dieser Vision, weshalb Schäuble auch permanent Konflikte mit der EU-Kommission hat, wie eben aktuell in der Frage der Überwachung der Haushaltsdisziplin.
Trotzdem war Schäuble klar, dass es für die übergeordneten Themen, und hier insbesondere für die Außen-, Sicherheits- und Währungspolitik eine integrierte Politik geben sollte.
Um diese auch gegenüber den Amerikaner und den Russen auch schlagkräftig zu machen, wollte Schäuble ein Kerneuropa. Damals scheute sich Schäuble nicht, die Dinge beim Namen zu nennen: Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande sollten den Kern bilden. Die deutsch-französische Achse sollte der Motor der Integration werden. Für Schäuble war im Hinblick auf den Euro klar, „dass die Währungsunion der harte Kern der Politischen Union ist (und nicht, wie in Deutschland oft verstanden, ein zusätzliches Integrationselement, das neben der Politischen Union steht)“.
Schäuble:
„Eine Währungsunion im vorgesehenen Zeitrahmen wird es - in Übereinstimmung mit der im Maastrichter Vertrag enthaltenen Alternative - voraussichtlich zunächst nur in einem kleineren Kreis geben - und im kleineren Kreis wird es sie nur geben, wenn der feste Kern der Fünf dies systematisch und mit starker Entschlossenheit vorbereitet. Zu diesem Zweck sollten sie ihre Geldpolitik, Fiskal- und Haushaltspolitik und Wirtschafts- und Sozialpolitik noch enger als bisher abstimmen bzw. mit der Abstimmung beginnen, so daß im Ergebnis eine gemeinsame, gleichgerichtete Politik in diesen Biereichen erreicht wird, und damit - unabhängig von den formellen Entscheidungen 1997 bzw. 1999 - bis dahin jedenfalls die faktischen Grundlagen für eine Währungsunion zwischen ihnen erreicht werden.“
Schäuble hat also bei seinem ursprünglichen Plan Italien ausdrücklich nicht als Teil des Euro gesehen. Und er begründete das fast wörtlich genauso, wie er den temporären Ausschluss Griechenlands aus dem Euro begründete:
„Die Kerneuropa-Gruppe muß prinzipiell allen EU-Mitgliedern - vor allem dem Gründungsmitglied Italien, aber auch Spanien und selbstverständlich Großbritannien - ihre uneingeschränkte Bereitschaft glaubhaft machen, sie einzubeziehen, sobald sie bestimmte derzeitige Probleme gelöst haben und soweit ihre Bereitschaft reicht, sich in dem beschriebenen Sinne zu engagieren. Die Bildung einer Kerngruppe ist kein Ziel an sich, sondern ein Mittel, an sich widerstreitende Ziele - Vertiefung und Erweiterung - miteinander zu vereinbaren.“
Schäuble war und ist der Überzeugung, dass nur diese politische Struktur der EU in der Lage sei, zwischen den Großmächten USA und Russland eine eigenständige Rolle zu spielen. Dies ist besonders deutlich an der Rolle der EU in der Nato zu erkennen: Schäuble schreibt, dass sich die Europäer selbst um ihre Verteidigung kümmern müssten und nicht in jedem Fall auf den „Beistand“ der USA warten sollten. Nur so könne erreicht werden, dass die EU die exklusive Dominanz der USA in der Nato überwinden:
„In der Perspektive bedeutet das die Umwandlung der NATO in ein gleich- gewichtiges Bündnis zwischen den USA und Kanada und Europa als handlungsfähige Einheit.“
Schäubles Konzept einer kleineren Euro-Zone mit gemeinsamer Währung und einheitlicher Wirtschaftspolitik war also ganzheitlich gedacht: Nur eine handlungsfähige EU mit einer Euro-Zone als Kern sei in der Lage, mit Russland eine Partnerschaft für Osteuropa zu entwickeln und sich gleichzeitig – in aller Freundschaft – von den Amerikanern zu emanzipieren.
Schäuble wurde in mehreren Punkten von der Entwicklung überrollt: Der Euro startete mit all jenen Staaten, von denen Schäuble damals schon wusste, dass sie nicht zusammenpassen. Sein Kern-Europa war vor allem gegen die Mitgliedschaft Italiens und, etwas abgeschwächt, gegen Spanien gerichtet.
Die aktuellen Zahlen der Europäischen Zentralbank (EZB) geben Schäuble recht: Die EZB hat in den vergangenen zwei Jahren massiv Staatsanleihen von Italien und Spanien aufgekauft. Damit sich diese Länder weiter billig verschulden können, hat die EZB in diesem Zeitraum spanische und italienische Bonds in der Höhe von 1 Billion Euro aufgekauft. Diese stehen in der Bilanz der EZB und machen 45 Prozent des BIP der Euro-Zone aus – wesentlich mehr als die Zentralbanken Großbritanniens, der USA oder Japans. Auf diesem Weg sind de facto Eurobonds eingeführt, ohne dass es dazu den politischen Willen in Deutschland gegeben hätte. Für diese ungeheuren Summen haftet Deutschland zu 27 Prozent.
Für die deutsche Mitwirkung an einer neuen Euro-Zone könnten die Wahlen Frankreich eine entscheidende Rolle spielen. Denn die neue Regierung in Paris wird so oder so das Verhältnis zu Deutschland neu ordnen müssen. Während der Delors-Bericht 1988 noch von einer Währungs- und Wirtschaftsunion sprach, kam es mit Maastricht nur zur gemeinsamen Währung. Die hat Frankreich in die Lage versetzt, kein einziges der von Schäuble benannten Probleme auch nur ansatzweise lösen zu müssen:
„Angesichts der Bedeutung der Währungsunion gerade für das deutsch-französische Verhältnis sollten - neben den Vorbereitungen im Kreis des harten Kerns - unterschiedliche Auffassungen Deutschlands und Frankreichs zu wesentlichen wirtschaftspolitischen Fragen ausgeräumt werden. Das gilt etwa für den Inhalt von ,Industriepolitik‘ und für das Wettbewerbsrecht. Eine Einigung auf ein europäisches Kartellamt wäre in diesem Zusammenhang sehr wünschenswert. Notwendig ist auch eine Diskussion über die langfristige Zielsetzung der gemeinsamen Landwirtschaftspolitik und über die Grundzüge der künftigen Finanzverfassung der Union.“
Interessant: Schäuble hielt Großbritannien nicht ansatzweise für einen Teil von Kerneuropa. Er dürfte daher jetzt eine Chance sehen, mit dem EU-Austritt der Briten eine Neuordnung vorzunehmen. Dabei werden auch die wegfallenden Netto-Zahlungen der Briten eine entscheidende Rolle spielen. Schäuble dürfte klar sein, dass das Loch von den deutschen Steuerzahlern zu bezahlen sein wird. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat ja bereits vorgeschlagen, dass sich Deutschland freiwillig melde solle, um mehr zu bezahlen. Der frühere Wirtschaftsminister weiß, dass der Euro natürlich eine einmalige Exportförderungsmaschine ist - weshalb ihn ja auch die Amerikaner gerne verschwinden sehen würden.
Heute steht Schäuble nicht mehr allein mit seinen Ideen vom Kerneuropa: Auch der Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, plädiert dafür, den ESM zu einem Europäischen Währungsfonds nach dem Vorbild des Internationalen Währungsfonds auszubauen. Unter anderem solle er bei der Kontrolle von Reformprogrammen die „Troika“ aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds ablösen. „Die EZB fühlt sich in der Troika-Rolle zunehmend unwohl, und ich glaube zurecht“, sagte Dijsselbloem. Die EU-Kommission habe andere „wichtige Aufgaben“, auf die sie sich konzentrieren solle.
Dijsselbloem hatte nicht zufällig in den vergangenen Tagen mit abfälligen Bemerkungen gegen die Südeuropäer aufhorchen lassen: Er hatte in einem Interview gesagt, die nördlichen Euroländer hätten sich mit den Krisenstaaten im Süden solidarisch gezeigt. Wer Solidarität einfordere, habe aber auch Pflichten. „Ich kann nicht mein ganzes Geld für Schnaps und Frauen ausgeben und anschließend Sie um Ihre Unterstützung bitten“, sagte Dijsselbloem. Dies gelte auf „persönlicher, lokaler, nationaler und eben auch auf europäischer Ebene.“
Dijsselbloem hat später erklärt, die „direkte“ Äußerung müsse vor dem Hintergrund einer „strikt niederländischen, calvinistischen Kultur“ gesehen werden. Aus Portugal und Italien kamen Rücktrittsforderungen. Auch die Regierungen in Griechenland und Spanien reagierten verärgert.
Die Umwidmung des ESM zu einer Art europäischer Haushaltsbehörde und damit zu einem Euro-Finanzminister würde auch einem akuten Problem Rechnung tragen, mit dem der Euro-Finanzminister heute zu kämpfen haben: Die sogenannte Eurogruppe ist keine vollwertige Organisation. Sie besitzt keine Satzung, sondern gilt als Forum des Dialogs ohne Entscheidungsbefugnisse.
An ihrer Führung unter Dijsselbloem könnten sich künftig weitere Auseinandersetzungen zwischen dem Duo Schäuble/Dijsselbloem und den südeuropäischen Eurostaaten entzünden. Dijsselbloem ist seit 2013 Eurogruppen-Chef. Sein Mandat läuft noch bis zum 1. Januar 2018. Nach der Wahlniederlage seiner Sozialdemokraten in den Niederlanden dürfte er aber seinen Posten als Finanzminister in den kommenden Wochen verlieren.
Die Euro-Staaten sind uneins in der Frage, ob er ohne das Amt noch Eurogruppenchef bleiben kann – insbesondere Repräsentanten der südlichen Eurostaaten sind skeptisch. „Ich frage mich wirklich, wie jemand mit diesen Ansichten noch immer Vorsitzender der Eurogruppe sein kann“, sagte dagegen der italienische Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Gianni Pittella. Die Äußerungen seien „beschämend“ und „diskriminierend gegenüber den Ländern Südeuropas.“ Dijsselbloem selbst macht klar, dass er trotzdem wie geplant bis Januar Chef der Eurogruppe bleiben wolle. Im Zweifel müsse die Eurogruppe entscheiden, wie es weitergehen solle, sagte er. Schäuble und mehrere andere Minister lobten Dijsselbloem ausdrücklich als guten Vorsitzenden, ließen aber offen, wie es mit dem Vorsitz genau weitergeht.
Schäuble dürfte diesen sich abzeichnenden Streit nützen wollen, um klare Fronten zu schaffen. Nach der Frankreich-Wahl wird man in der Euro-Zone wissen, ob das Experiment noch einmal eine Chance bekommt oder ob der Austritt Großbritanniens nahtlos in die Auflösung der gesamten EU übergeht.