Politik

Revolution von oben: Macron strebt in Frankreich nach der absoluten Macht

Lesezeit: 12 min
10.06.2017 02:05
In Frankreich steht eine noch vor wenigen Monaten unbekannt Bewegung vor einem Triumph bei den Wahlen zur Nationalversammlung. Sie ist das Vehikel, mit dem Präsident Macron einen radikalen Umbau durchziehen will.
Revolution von oben: Macron strebt in Frankreich nach der absoluten Macht

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Die ‚dümmste Rechte‘ und die ‚dümmste Linke‘ der Welt machen den Platz frei für ein taktisch sehr geschicktes, inhaltlich aber alt bekanntes, versteckt neoliberales Zentrum mit präsidialen Allmachts-Phantasien. Sichtbar wird dies bei der Demontage des Arbeitsrechts

Die Ergebnisse der zweiten, entscheidenden Runde der Präsidentschaftswahlen waren nur oberflächlich betrachtet eindeutig. Was vor allem auffällt, sind die große Absenz und die präzedenzlose Stimmenthaltung bei denjenigen, die an die Urne gegangen sind. Dies ändert nichts an der Legitimität des Wahlsieges von Emmanuel Macron, zeigt aber die Schwierigkeiten für die Parlamentswahlen und vor allem für die Zukunft auf. Von denjenigen, die für Macron gewählt haben, waren viele Wähler des Linksaußen Mélenchon, praktisch alle der Sozialisten sowie ein Teil der Wähler der Konservativen.

Traditionell bekommt in der fünften Republik der Sieger der Präsidentschaftswahlen in den anschließenden Parlamentswahlen auch eine meist deutliche Mehrheit. Er kann dann durchregieren. Er kann die Agenda der parlamentarischen Mehrheit bestimmen sowie den Premier und einzelne Minister nach Bedarf auswechseln. Die Stimmbeteiligung ist zumeist niedriger als bei den Präsidentschaftswahlen.

Der neugewählte Präsident ernennt üblicherweise einen Tag nach Amtsantritt einen Premier, und dieser stellt eine abgesprochene Ministerliste zusammen. Diese neue Regierung fällt bis zu den Legislativwahlen keine Entscheidungen, sondern befindet sich dann in einer Phase der Einarbeitung. Bei den Legislativwahlen erhält sie eine Art nachträgliche Legitimation. So ist offensichtlich auch das Drehbuch von Präsident Macron. Er hat die Regierung Phillipe ernannt, die bereits mit dem Schwerpunkt von Macrons Präsidentschaft, der sogenannten ‚Reform’ des Arbeitsmarktes begonnen hat.

Er hat eine verkleinerte Regierung mit zwei Konservativen an Schlüsselpositionen ausgewählt. Mit dem Premier Edouard Phillipe und dem Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Maire. Daneben sind Sozialisten, teils bisherige Minister, teils neue sowie die Vertreter von MoDem und einige Unabhängige in der Regierung. Das Mengenverhältnis zwischen Frauen und Männern ist gleich – ein Anliegen des Präsidenten. Insgesamt würde man die Regierung wohl als Mitte-Rechts Regierung bezeichnen können.

Das Besondere ist diesmal, dass für den Präsidenten an den Parlamentswahlen eine Liste antritt, die sich erst gerade gebildet hat. Viele der in den einzelnen Wahlkreisen aufgestellten Kandidaten von RM werden den Wählern gar nicht bekannt sein. Umgekehrt sind die Schwäche und sogar Zersetzung der traditionellen Parteien ein starkes Argument für die RM (République en Marche): der neue Name der ‚Bewegung‘. Diese ist zudem extrem effizient geführt.

Ebenfalls wichtig ist die Dispersion der Stimmen, die zu erwarten ist. Bisher waren in der Nationalversammlung typischerweise die Abgeordneten von Bürgerlichen (früher Gaullisten und Liberale) und der Linken (früher Sozialisten und Kommunisten) vertreten. Es stand Rechts gegen Links – aber mit eindeutigen Mehrheiten. Nun werden überwiegend Abgeordnete neuer Listen einziehen.

Der Front National wird keinen Durchmarsch erzielen – angesichts eines nicht allzu überzeugenden Ergebnisses bei den Präsidentschaftswahlen und einer insgesamt sehr schwachen Kampagne der Kandidatin Le Pen speziell im zweiten Wahlgang. Zudem legt der angekündigte Rückzug der Nichte Maréchal Le Pen aus der Politik interne Divisionen offen. Inhaltlich drehen sich diese vor allem um die Frage des Euro. Die Ablehnung des Euro wird von den internen Kritikern offen angezweifelt. Im Front National geht es allerdings sehr hierarchisch zu, sodass einige der Kritiker sich bald außerhalb der ‚Familie’ wiederfinden könnten.

Trotzdem wird der Front National deutlich mehr als die zwei Mandate – wie bisher – erzielen können. Gemäß den Umfragen wird der Front National rund 18-20 Prozent der Stimmen und 10 bis 15 Abgeordnete in der Nationalversammlung erreichen. Die Wähler des ‚Front National’ sind nicht alle Rassisten und Fremdenhasser. Im Vordergrund dürften soziale Motive stehen, die Angst vor dem Abstieg und die Perspektivlosigkeit in den trostlosen alten Industrieregionen. So ergibt die Auszählung der Wählerstimmen, dass Le Pen dort am meisten Stimmen erhielt, wo der Anteil der Immigranten am niedrigsten ist. Dies sind die alten Industrieregionen des Nordens, wo die soziale Deklassierung weit verbreitet ist. Nahtlos trifft sich dies ebenso mit den Abstimmungsergebnissen beim Brexit und bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Auch dort waren die Prozentzahlen für den Brexit beziehungsweise für Trump hoch gewesen, wo der Ausländeranteil effektiv niedrig lag.

Die konservativen Republikaner hätten an sich ein deutlich besseres Ergebnis als Francois Fillon bei den Präsidentschaftswahlen erzielen können. Fillon ist als Person weg – und das von ihm vertretene äußerst radikale Austeritäts-Programm wurde handstreichartig entschärft. Aber nun beginnen die Probleme: In den Wahlkampf hatFrancois Baroin die Konservativen geführt – jener Exponent der Partei, der Fillon nach dem Auffliegen des Skandals die Stange gehalten und eine innerparteiliche Ablösung verhindert hatte. Sein Argument war damals die inhaltliche Kohärenz des Programmes von Fillon gewesen. In den Wahlkampf für die Legislativwahlen ziehen werden die Konservativen jetzt eher nach dem Programm von Ex-Präsident Sarkozy. Dieser war bereits bei der parteiinternen Vorwahl für den ersten Wahlgang der Konservativen durchgefallen.

Inhaltlich ist die Abschaffung der 35-Stunden-Woche beerdigt. Stattdessen schlägt das Programm steuerbefreite Überstunden vor, welche Sarkozy 2007 eingeführt und Hollande 2012 wieder abgeschafft hatte. Fillon hatte sie als schädlich und als Garant für die Beibehaltung der 35-Stunden-Woche gebrandmarkt. Ebenfalls beerdigt ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozent, welche nach dem Programm von Fillon unabdingbar war, um die geplanten massiven Steuersenkungen bei Unternehmens- und Einkommenssteuern zu kompensieren. Schließlich ist keine Rede mehr von den 500.000 Stellen beim Staat, die abgebaut werden sollen. Lediglich der Satz für die Einkommenssteuer soll um rund 10 Prozent gesenkt werden.

Insgesamt ist das Programm komplett seiner Kohärenz beraubt. Es ist schlicht ein opportunistisches Anpassen an den kurzfristigen Zeitgeist, an das Programm des Zentrums. Nach der ersten Runde hatte parteiintern das vor Jahrzehnten geprägte Wort gegolten, in Frankreich habe man die ‚dümmste Rechte der Welt‘. Selbst beim Elfmeter ohne Tormann würde sie den Ball noch weit neben oder über das Tor schießen. Sicher wird der brüske Kurswechsel die eigene Parteibasis verstören, die viel radikaler gestimmt ist. Doch sie macht die Partei wählbarer für andere Wählerschichten. Ob man dann allerdings Konservative wählt oder gleich das Zentrum, bleibt offen. Die Konservativen sehen sich dabei auch vor dem Problem, dass ein Teil ihrer Wählerschaft geschickt von RM umworben wird – vor allem durch den Einbezug von Premier und wichtigen Ministern in die neue Regierung. Gemäß den Wahlumfragen werden die Republikaner rund 20 Prozent erreichen – ein miserables Resultat. Sie werden damit rund 130-150 Sitze in der Nationalversammlung erringen können und damit die größte Oppositionspartei sein.

Auf der Linken herrschen Sektierertum, Spaltung und persönliche Eitelkeiten vor, die Kennzeichen der französischen Linken seit 1968 sind. Die Sozialisten haben ihr Wahlprogramm genau wie die Konservativen flugs geändert. Verschwunden sind das bedingungslose Grundeinkommen, die 32-Stunden-Woche, der Abschied vom Diesel und von der Atomkraft – zentrale Teile des Programmes des in der Präsidentenwahl gescheiterten Kandidaten Benoît Hamon. Übrig geblieben ist ein von der früheren Arbeitsministerin Aubry hastig zurechtgestutztes Programm, welches die Sozialisten ebenfalls Macron-kompatibel machen soll. Es geht schließlich um Posten und Pfründen. Es ist nicht einzusehen, warum ein traditioneller sozialistischer Wähler dieser Partei die Stimme geben sollte.

Hinzu kommen die Äußerungen und Verhaltensweisen bisheriger Partei-Repräsentanten. So hat der frühere Innenminister (2012-2014) und Premierminister (2014-16) Manuel Valls die Sozialistische Partei für ‚tot‘ erklärt und sich bei EM angedient – offenbar ohne vorher mit Macron Rücksprache gehalten zu haben. So sitzt er jetzt zwischen Stühlen und Bänken und muss wohl oder übel ohne Listenzugehörigkeit, als ‚freier Mann‘ (‚homme libre‘) kandidieren. Immerhin stellen weder die Sozialisten noch RM in seinem Wahlkreis einen Gegenkandidaten auf. In Bewegung geraten sind auch verschiedene andere Exponenten der Partei, welche jetzt die Gründung eigener ‚Bewegungen‘ angekündigt haben – aber erst für die Zeit nach den Parlamentswahlen. Die Sozialisten werden eine richtiggehende Schmach an der Urne einfahren, wenn man den Wahlumfragen Glauben schenken soll. Sie werden noch ganze 8 Prozent der Stimmen und 15 bis 25 Sitze in der Nationalversammlung halten können.

Auch bei den durchaus erfolgreichen Linken der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen geht es nicht ohne Hauen und Stechen ab. Die ex-Kommunisten und die Liste ‚France Insoumise‘ von Mélenchon konnten sich nicht einigen und werden in der ersten Runde gegeneinander kandidieren. Sie schnappen sich so gegenseitig die Wählerstimmen weg und können sich deswegen vielenorts nicht für den entscheidenden zweiten Wahlgang qualifizieren. Mélenchon stellt sich in Marseille in einem der ärmsten Wahlkreise Frankreichs zur Wahl – ausgerechnet gegen einen Sozialisten, der in der Nationalversammlung gegen die Arbeitsreform von Wirtschaftsminister Macron gestimmt hatte. So wird das auch nichts mit einer gegenseitigen Wahlunterstützung für den entscheidenden zweiten Wahlgang. Mélenchon ist vielleicht der beste Redner der Fünften Republik seit Mitterand, aber von den politischen Fähigkeiten des Taktikfuchses meilenweit entfernt. Seine Liste wird auch ehemalige Wähler der Sozialisten anziehen, aber aufgrund des Mangels an Allianzen im französischen Wahlsystem nicht durchschlagen.

Mélenchon möchte seine Bewegung zum dominanten Pol der Linken machen, der Wähler und allenfalls Abgeordnete der Sozialisten, ex-Kommunisten sowie anderer Gruppierungen aufsaugt. Das könnte ihm eher gelingen als eine genügende Machtstellung im Parlament zu erlangen, welche effektiv die Handlungsweise der Regierung prägt oder sie zumindest zu behindern vermag. Mélenchon ist kein Jeremy Corbyn, der gerade in der Hitze des Gefechts integrativ wirken kann, sondern macht eher den Anschein eines gealterten Sektenführers. Seine Liste wird rund 13 Prozent der Stimmen und 10 bis 15 Abgeordnetensitze erobern können.

Die viel zitierte ‚dümmste Rechte der Welt‘ und die gleichermaßen ‚dümmste Linke der Welt‘ machen es möglich, dass eine völlig durchschnittliche zentristische ‚Bewegung‘ ohne vergangenen Leistungsausweis und ohne substantielles wirtschaftspolitisches Programm effektiv bei den Wahlen zur Nationalversammlung durchschlagen und eine absolute Mehrheit erringen wird. Die Prognosen sagen der Liste ‚Republique En Marche (REM), wie die Bewegung neu heißt, rund 31 Prozent der Stimmen und einen Erdrutschsieg bei den Abgeordneten von 400 Mandaten voraus. Sie würde damit die absolute Mehrheit sicher erreichen.

Wichtig ist, dass einem solchen Erfolg bei den Parlamentswahlen keineswegs ein Mandat oder der Wille der gesamten oder Mehrheit der Bevölkerung zugrunde liegen, sondern die Zersetzung der bisher herrschenden politischen Formationen sowie das Majorzsystem. Macron hat dies vielleicht früh gespürt und er nutzt dies auch geschickt aus: Im Zentrum seiner Bewegung RM stehen neben den rezyklierten Sozialisten und den Zentristen von MoDem viele Kandidaten ohne politischen Hintergrund. Als seine oberste Priorität hat er die Reinigung des politischen Systems benannt. Die bisher offenbar üblichen Mechanismen von Selbstbedienung, Postenschacher und Korruption sollen abgeschafft bzw. verboten werden. Damit kann er beim breiten Publikum auf einer ganz elementaren Ebene punkten. Macron hat aber auch Glück gehabt. Ohne Fillons ‚Penelopegate’ wäre er wohl nicht Präsident geworden. Noch ist diesbezüglich nicht final geklärt, wie der Abschuss Fillons durch den ‚Canard Enchainé’ genau zustande kam. Ohne Macrons Wahlsieg, wäre seine Bewegung bei den Parlamentswahlen nicht oder kaum flächendeckend angetreten.

Summa summarum haben die vergangenen Wochen die Masken und Schleier im Pariser Politzirkus gelüftet. Der ‚Macronismus’ ist ein meisterhaft geplanter und ausgeführter Marketing-Schachzug. Schuldbildung, Werdegang, weltmännisches Auftreten, Habitus und der Status als (Ex-) Wirtschaftsminister sowie die Nähe zu Wachstumssektoren der französischen Wirtschaft wie Banken, Finanzdienstleistungen und Technologie-Start-ups haben Macron zu einer ungewöhnlich erfolgreichen Sammelkampagne verholfen. Dass dabei 15 Millionen Euro Spenden gesammelt wurden, ist nicht per se anrüchig und steht auch in keinem Vergleich zu den Größenordnungen in den Vereinigten Staaten. Dort können seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofes Super-Pacs in praktisch beliebiger Größenordnung Gelder für Kandidaten geben, und sich so Präsidentschaftskandidaten und Kongress-Abgeordnete kaufen.

Außergewöhnlich war hingegen die politische Kampagne des Kandidaten Macron. Sie bestand nämlich essentiell aus Nichts und Intransparenz – mit Ausnahme eines starken Europa- und Eurobekenntnisses. Während rund einem Jahr wurde kein substantielles Programm veröffentlicht, sondern mit der ‚Persönlichkeit‘ geworben. Die Europa-Ambitionen wurden dann deutlich konkretisiert, während das innenpolitische Programm einer gleichen Tiefenschärfe bis zum heutigen Tag ermangelt.

Entscheidend für seinen Wahlsieg war das Scheitern von Fillon, dem Kandidaten der favorisierten Republikaner. Es war klar, dass derjenige Kandidat, der gegen Le Pen in die zweite Runde kommen würde, die Wahl zum Präsidenten gewinnen würde. Die Wahl wurde in der ersten Runde entschieden. Und für den Ausgang der ersten Runde war entscheidend, dass Fillon über ‚Penelopegate‘ stolperte. Offen ist die Frage, wie die Leaks zeitlich und inhaltlich so präzise gesteuert wurden.

Das Fallen der Masken der Bewegung RM in der Woche nach der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen hat ergeben, dass im Ballsaal der Kern der gescheiterten sozialistischen Partei von Hollande versammelt ist. In der Substanz ist die Bewegung RM die ‚Wiederverwertung’ derjenigen höheren Kader der Sozialistischen Partei, welche das Vertrauen von Macron genießen. Also von Leuten, welche in den vergangenen fünf Jahren zwar nicht durch übermäßigen Ideenreichtum und politischen Erfolg, aber offenbar durch Effizienz, Organisationsfähigkeit und Gehorsam aufgefallen sind. Das hat die Öffentlichkeit erst vor kurzem erfahren, wurde vorher so nie präsentiert. Neu ist die politische Assoziation mit dem Zentrum von Bayrous MoDem. Aus rein politischen Überlegungen werden die Republikaner durch die Ernennung des neuen Premiers Phillipe und zweier Minister in Schlüsselpositionen gespalten. Damit soll bei den Parlamentswahlen auch im Wähler-Teich der gemäßigten Republikaner (der ‚Juppéisten‘) gefischt werden.

Der Staatspräsident, die Auswahl seiner engsten Berater und der Mitglieder der Regierung und vor allem die Selektion der Kandidaten für die Nationalversammlung lassen mehr auf die Praxis einer straff hierarchisch geführten Kaderpartei als einer demokratisch abgestützten ‚Bewegung‘ schließen. Bei Beratern, Ministern und Abgeordneten hat es auffallend viele ‚Enarqes‘ gegeben – Absolventen der Elite-Universität ENA. Diese sind einfach eine Generation jünger als diejenige von Hollande, Royale, Sapin, Moscovici oder gar der Konservativen Chirac, Juppé, Balladur oder de Villepin. An sich ist das kein besonders vertrauenserweckendes Zeichen: Diese Kaste hat Frankreich über die letzten 30-40 Jahre systematisch auf die falsche Spur gebracht – in beiden Parteien. Sie hat den Staatsapparat, für deren Leitung sie vorbereitet werden, maßlos aufgeblasen und nie richtig restrukturiert. Es gibt wenig Anhaltspunkte, dass dies in der Zukunft anders werden sollte.

Ein Präsident und ein Kabinett politischer Technokraten, teilweise mit erheblicher Regierungserfahrung, soll also die notwendigen ‚Reformen‘ liefern, und damit Frankreich und indirekt Europa wieder auf die Spur bringen. Damit dies innenpolitisch auch passieren kann, hat sich der Staatspräsident bereits ausbedungen, in Kernanliegen mit Direktiven statt mit dem normalen parlamentarischen Prozess zu funktionieren. Er will für die Reform des Arbeitsmarktes und für andere Anliegen von den ‚Ordonnances‘ sowie vom Artikel 49.3 Gebrauch machen. Das sind Ausnahme-Artikel. In einem System mit getrennter Legislative, Exekutive und Judikative arbeitet üblicherweise die Legislative in einem mehrstufigen Prozess zwischen Abgeordnetenhaus und Senat ein Gesetz aus, meist auf Vorschlag der Regierung. Der Präsident signiert dieses dann – oder verweigert die Unterschrift. Die Regierung arbeitet die Verordnungen aus, die auf dem Gesetz aufbauen.

Sowohl bei den Ordonnances wie beim Artikel 49.3 wird das Parlament in gewisser Weise übergangen und die Regierung hat die Kompetenz, Gesetze direkt zu beschließen. Das Parlament kann dann noch Änderungen nachträglich hinzufügen oder der Regierung das Vertrauen entziehen (Artikel 49.3). Das vom Präsidenten angekündigte Vorgehen ist zwar legal und gemäß Verfassung möglich, aber an sich für Ausnahmesituationen vorgesehen. Wenn ein Präsident, den eine neue ‚Bewegung‘ ins Amt getragen hat, schon damit beginnt, lässt dies Zweifel am normalen Politbetrieb erkennen.

Ebenso straff ist in der Liste ‚RM‘ die Selektion der Kandidaten für die Legislativwahlen. Statt bottom-up von lokalen Sektionen her wurde von einem kleinen Nominations-Komitee die Liste zentral veröffentlicht. Damit werden eine gefügige Fraktion und wenn möglich ein Parlament kreiert, wo die Loyalität zu Präsident und Regierung offenbar die wichtigste Eigenschaft darstellt.

Wenn so straff regiert werden soll, die Inhalte aber wenig transparent sind, wirft das Fragen auf. Das bisher gezeigte wirtschaftspolitische Programm von Macron für Frankreich ist angesichts der Problemtiefe ein leichtgewichtiges, politisch bei Wahlen aber gut verdauliches Programm, bei dem alle etablierten politischen Lager beim Schielen auf Posten und Positionen in einer zweiten Runde gerne mitmachen würden. Es ist aber, im Unterschied zu den europapolitischen Vorstellungen von Macron, genügend vage formuliert.

Verschiedene Zeitung wie ‚Le Parisien’ oder die ‚Libération’ haben nun die konkreten Vorstellungen der neuen Regierung veröffentlicht – offenbar aufgrund von ‚Leaks’. Was dabei hervorgekommen ist, hat nichts mit dem Programm zu tun, welches der Präsident und seine Bewegung bisher klar kommuniziert haben. Im Kern ist es ein hartes neoliberales Programm der vollständigen Deregulierung des Arbeitsmarktes. Dies bezieht sich praktisch auf alle Aspekte: Lohnverhandlungen, Arbeitszeiten, Kündigungsschutz. Im Wahlkampf war dies noch als ‚Vereinfachung’ des komplexen Arbeitsrechts (‚Code du travail’) verkauft worden. Doch es vereinfacht dieses nicht formaljuristisch, sondern gibt den Arbeitgebern praktisch freie Hand, zu entlassen, zu Billiglöhnen zu rekrutieren und Arbeits- und Überzeiten beliebig anordnen zu können. Die Regierung ist politisch geschickt zurückgewichen und hat dies als Diskussionsentwurf für eine breite Vernehmlassung herabgestuft.

Politisch muss ganz klar hervorgehoben werden, dass dies nicht dem Grundwillen der französischen Bevölkerung entspricht, wie er bei den Präsidentschaftswahlen aufgeblitzt ist. Das Programm zur Arbeitsmarkt-‚Reform’ ist geschickt getarnt worden und jetzt nur per Zufall aufgeflogen. Eine harte, ultraliberale Deregulierung des Arbeitsmarktes wird nun angestrebt, die überhaupt nie kommuniziert worden ist.

Das Ganze ist ein klug ausgeführter Plan, der die politische Gesamtkonstellation (gegen Le Pen), und die Mechanik des französischen Majorzwahlsystems geschickt ausgenutzt hat. Ganz entscheidend war, dass eine politische Debatte mit offenem Visier lange völlig unterbunden wurde. Erst am Schluss, als Fillon als Hauptkonkurrent schon abgeschossen war, wurden die Standpunkte verdeutlicht.

Dass diese politische Maskerade der zentrumsnahen Sozialisten erfolgreich war, ist neben unstreitigem Geschick auch dem Zerfall der historischen Formationen zuzuschreiben. Die ‚dümmste Rechte’ und die ‚dümmste Linke’ der Welt haben dazu beigetragen. Neben personalpolitischem Ungeschick ist eindeutig auch eine absolute wirtschaftspolitische Ratlosigkeit, verbunden mit Abenteurertum bei Hamon, Mélenchon und bei Le Pen zu verzeichnen. Bei Fillon war es ein knallhartes Programm der Austerität, welches es noch bei keinem Präsidenten auch nur im Ansatz so gegeben hatte und das in Bezug auf die 35-Stunden-Woche auf breite Ablehnung stieß.

Nach der ersten Runde, als sie alle sehr unterschiedliche Masken und Kleider trugen, haben diese Etablierten nun für die Legislativwahlen hastig die Kleider gewechselt und das modisch-zeitgeistige Tenue der ‚Bewegung‘ übergestreift. Das wird nicht verhindern, dass die übrig gebliebenen, d.h. nicht in der großen Waschmaschine (Bayrou) gewaschenen Sozialisten im freien Fall sind. Eine Mehrheit für die neue ‚Bewegung’ scheint so garantiert – vor allem aufgrund der Eigenheiten des Wahlsystems. Allerdings ist auf die riesige Zahl noch unentschlossener Wählerinnen und Wähler hinzuweisen, die fast die Hälfte der Wahlberechtigten ausmachen.

Die Parteien außen vor, links wie rechts, sind von Führerfiguren und einem Duktus beherrscht, welche aus früheren Jahrzehnten bekannt sind. Sie könnten aber davon profitieren, dass beide Parteien effektiv die einzigen sind, die sich gegen die absehbare Deregulierung des Arbeitsmarktes zur Wehr setzen werden. Mélenchon ist der klassische französische Linksaußen. Er hofft, mit seiner ‚Bewegung’ die Reste der sozialistischen Partei und Wähler abzuholen, ist aber im Übrigen in bester Tradition eher zurückstoßend als integrativ. Er könnte erfolgreich sein, wenn er die Eigenheiten des französischen Wahlsystems besser in seine Allianzpolitik umsetzten würde. So dürfte das nur zu einer mittelmäßigen, nicht aber starken oder dominanten Vertretung im Parlament reichen.

Interessant ist, dass sich in einem Kernland Europas jetzt eine Tendenz ausbreitet, die bereits andernorts zu beobachten ist: Die Übernahme der Macht – bzw. der Versuch – durch eine straff hierarchisch geführte Technokraten- und Elitepartei, welche eisern durchregieren möchte – einerseits mit gefügig ausgewählten Parlament, andererseits mit Ausnahmeregeln. Das geschickte Verschleiern der Agenda ist Teil dieser Politik. Das war in verschiedenen Ländern Osteuropas so – Theresa May wollte es im Vereinigten Königreich so etablieren. In Österreich versucht sich der populäre Außenminister Sebastian Kurz mit einem ähnlichen Manöver. Nicht zu vergessen: Die Agenda der Entscheidungsmacher in der Eurozone scheint auch nicht allzu weit von dieser Charakteristik entfernt zu sein. Vor allem aber fällt auf, dass Donald Trump in den USA mit derselben Taktik an die Macht gekommen ist: Er hat sich als Außenseiter präsentiert - und damit den Republikanern die Mehrheit in allen wichtigen Vertretungen verschafft.

In Bezug auf Frankreich stellen sich drei Fragen: Gelingt das Manöver auch bei den Parlamentswahlen? Das darf man inzwischen annehmen. Was ist die Qualität des wirtschaftspolitischen Programmes der neu an die Macht gelangten ‚Enarqes’? Kann dessen Umsetzung zum Erfolg verhelfen oder setzt es eine neue Abwärtsspirale in Gang? Und drittens: Wie wird dies in der innenpolitischen Realität Frankreichs außerhalb von Gesetz und Parlament ankommen? In Frankreich sind in der Vergangenheit große Entscheidungen auf der Straße getroffen worden. Alain Juppé ist 1995 und 1997 mit einer eisernen Austeritätspolitik gescheitert, obwohl er nach der Wahl von Chirac und des RPR Deckung von Präsident und Parlamentsmehrheit hatte.


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