Politik

US-Politik hat zur Annäherung Deutschlands und der Türkei geführt

Der türkische Europa-Experte Faruk Sen erwartet eine privilegierte Partnerschaft der Türkei mit der EU.
30.10.2018 23:57
Lesezeit: 2 min

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was bedeutet der politische Rückzug Angela Merkels für die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland?

Faruk Şen: Als Merkel im Jahr 2005 Bundeskanzlerin wurde, hatte sie ein schlechtes Bild über die Türken in Deutschland, die Türkei und den damaligen Premier Recep Tayyip Erdoğan. Ihre damalige Position lässt sich als anti-türkisch umschreiben. Doch in den vergangenen zwei Jahren hat sie sich gewandelt. Sie hat sich mit Erdoğan besser verstanden, wozu auch die Flüchtlings-Krise beigetragen hat.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Für ihre Nachfolge als Parteichefin stehen Jens Spahn, Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer bereit, was auch ein Hinweis auf den kommenden Kanzlerkandidaten sein könnte. Was bedeutet das für die türkisch-deutschen Beziehungen?

Faruk Şen: Spahn, Merz und Kramp-Karrenbauer sind außenpolitisch unerfahrene Politiker. Für die Türkei spielen diese Personen keine wichtige Rolle.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie würden Sie die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und Deutschland einstufen?

Faruk Şen: Der jüngste Türkei-Besuch von Wirtschaftsminister Peter Altmaier diente dazu, Aufträge für deutsche Firmen anzubahnen. Deutsche Firmen wie Siemens sind im aktuellen komplizierten global-wirtschaftlichen Umfeld auf derartige Verträge angewiesen. Es ist von einem türkischen Auftrag im Wert von 35 Milliarden Euro die Rede.

Deutschen Wirtschaftsnachrichten: Können Sie dies im Detail schildern?

Faruk Şen: Siemens soll das türkische Schienennetz modernisieren. Deutsche Banken werden Kredite an Siemens mit einer türkischen Staatsgarantie vergeben. Die Kredite werden nicht von Siemens, sondern vom türkischen Staat beglichen werden. Allerdings wird ein Zinssatz zwischen sieben bis 7,5 Prozent angesetzt werden.

Deutschen Wirtschaftsnachrichten: Welchen Vorteil wird die Türkei bei dieser Kooperation haben?

Faruk Şen: Die türkische Infrastruktur wird modernisiert. Zudem plant die türkische Regierung, mit diesem Vorhaben Arbeitsplätze zu schaffen. Die deutsche Wirtschaft wiederum kann und will nicht auf den türkischen Markt verzichten. Der Luxus des Verzichts fällt für beide Seiten aus.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie würden Sie die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei einschätzen?

Faruk Şen: Es werden Verhandlungen über den Ausbau der Zollunion mit der Türkei geführt werden. Am Ende wird nicht eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, sondern ein „besonderer Status“ stehen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Eine privilegierte Partnerschaft nach Merkels Vorstellungen?

Faruk Şen: So ist es.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Aber befindet sich die EU nicht in einem Prozess des Zerfalls?

Faruk Şen: Das ist der Quatsch, den man uns ständig versucht einzureden. Die Briten haben es mit dem Brexit versucht und bereuen es nun.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Doch US-Präsident Donald Trump will mit den EU-Staaten Verträge auf der bilateralen Ebene abschließen, was zu einer Fragmentierung der EU führt.

Faruk Şen: Die USA können mit Polen oder anderen Staaten bilaterale Verträge abschließen. Das bedeutet aber nicht, dass Polen den historischen Fehler begeht, am Zerfall der EU mitzuwirken. Polen und alle anderen Staaten, einschließlich des Baltikums, sind auf die EU angewiesen. Ich möchte noch erwähnen, dass der Druck, den Trump auf die EU und dann auch auf die Türkei ausgewirkt hat, aber auch die Wiedereinführung der Iran-Sanktionen zu einer Annäherung zwischen der EU und der Türkei und Deutschland und der Türkei geführt hat.

Zur Person: Prof. Dr. Faruk Şen, geboren 1948 in Ankara, ist Vorsitzender der Türkisch-Europäischen Stiftung für Bildung und Wissenschaftliche Forschung (TAVAK). Von 1985 bis 2008 war er Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien. Sein neuestes Buch heißt "Ay Yıldız Altında Sürgün" ("Leben im Exil unter dem Halbmond und dem Stern"). Das Werk befasst sich mit dem Leben von deutschen Juden, die zwischen 1933 und 1945 in die Türkei geflohen sind. Das Vorwort hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geschrieben.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Arbeiten nach der Schule: Warum viele keine Ausbildung beginnen
19.07.2025

Schnell Geld verdienen statt jahrelang pauken – das klingt für viele junge Menschen verlockend. Doch wer direkt nach der Schule in den...

DWN
Politik
Politik Militär statt Frieden? Was das EU-Weißbuch 2030 wirklich bedeutet
19.07.2025

Mit dem Weißbuch „Bereitschaft 2030“ gibt die EU ihrer Sicherheitspolitik eine neue Richtung. Doch Kritiker warnen: Statt...

DWN
Politik
Politik Nordkoreas Kronprinzessin: Kim Ju-Ae rückt ins Zentrum der Macht
18.07.2025

Kim Jong-Un präsentiert die Zukunft Nordkoreas – und sie trägt Handtasche. Seine Tochter Kim Ju-Ae tritt als neue Machtfigur auf. Was...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Birkenstock: Von der Orthopädie-Sandale zur globalen Luxusmarke
18.07.2025

Birkenstock hat sich vom Hersteller orthopädischer Sandalen zum weltweit gefragten Lifestyle-Unternehmen gewandelt. Basis dieses Wandels...

DWN
Politik
Politik 18. Sanktionspaket verabschiedet: EU verschärft Sanktionsdruck mit neuen Preisobergrenzen für russisches Öl
18.07.2025

Die EU verschärft ihren wirtschaftlichen Druck auf Russland: Mit einem neuen Sanktionspaket und einer Preisobergrenze für Öl trifft...

DWN
Politik
Politik China investiert Milliarden – Trump isoliert die USA
18.07.2025

China bricht alle Investitionsrekorde – und gewinnt Freunde in aller Welt. Trump setzt derweil auf Isolation durch Zölle. Wer dominiert...

DWN
Finanzen
Finanzen Energie wird unbezahlbar: Hohe Strom- und Gaskosten überfordern deutsche Haushalte
18.07.2025

Trotz sinkender Großhandelspreise für Energie bleiben die Kosten für Menschen in Deutschland hoch: Strom, Gas und Benzin reißen tiefe...

DWN
Finanzen
Finanzen Finanzen: Deutsche haben Angst um finanzielle Zukunft - Leben in Deutschland immer teurer
18.07.2025

Die Sorgen um die eigenen Finanzen sind einer Umfrage zufolge im europäischen Vergleich in Deutschland besonders hoch: Acht von zehn...