Politik

Türkei: Pläne für mehr Föderalismus bergen Risiken

Der deutsche Experte für türkisches Verfassungsrecht Christian Rumpf sagt, eine bundesstaatliche Struktur der Türkei sei auch mit Risiken verbunden. Das habe bereits das Beispiel in Katalonien gezeigt.
15.12.2018 18:43
Lesezeit: 3 min

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Präsident Recep Tayyip Erdogan war schon immer ein Unterstützer eines Präsidialsystems in der Türkei. Er nannte immer wieder die USA als Vorbild, um Kritiker zu beruhigen. Welche Ähnlichkeiten weist das Präsidialsystem der USA mit dem neuen türkischen Präsidialsystem auf?

Christian Rumpf: Es gibt schon deshalb keine Ähnlichkeiten, weil die USA ein völlig anderes System des Gewaltenausgleichs („checks and balances“) haben. Die amerikanische Bundesstaatlichkeit bedeutet, dass wichtige innenpolitische Entscheidungen nicht von Washington ausgehen, sondern in den Bundesstaaten getroffen werden. Das führt zu einer durch das föderale System bedingten Teilung der Gewalt. Der Präsident kann auch nur insoweit Einfluss auf die Justiz nehmen, als er nur solche Posten im Supreme Court besetzen darf – dies zudem nur mit Zustimmung des Senats -, welche in seiner Amtszeit vakant geworden sind. Ein Umkrempeln der Justiz im Sinne des Präsidenten ist praktisch nicht möglich. Da hat der türkische Präsident aktuell ganz andere Möglichkeiten. Der US-Präsident ist auch traditionell nicht Vorsitzender einer Partei und hat somit keinen Einfluss auf deren Arbeit und innere Führungsstruktur.

Das ist in der Türkei grundsätzlich anders. Erdoğan hat maßgeblichen Einfluss auf praktisch alles, er bestimmt die Kandidaten seiner Partei für welche Ämter auch immer und sichert sich somit deren Gefolgschaft, er hat über das Parlament und seine eigenen Ernennungskontingente insbesondere auch Einfluss auf die Zusammensetzung der gesamten türkischen Richterschaft, von Edirne bis Diyarbakır. So etwas ist in den USA undenkbar.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Kompetenzen haben der türkische Präsident und das türkische Parlament aktuell?

Christian Rumpf: Das türkische Parlament darf zwar noch Gesetze machen, kann also theoretisch auch die sogenannten Präsidialverordnungen, mit denen der Präsident faktisch alleine herrscht, außer Kraft setzen. Der Präsident, der gleichzeitig auch Parteivorsitzender sein kann, hat über seine innerparteiliche Machtposition Einfluss auch auf die Gesetzgebung. Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass dem Parlament die Kontrolle der Exekutive faktisch vollständig entzogen ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Trifft die Kritik, wonach die Gewaltenteilung in der Türkei faktisch aufgelöst wird, zu?

Christian Rumpf: Ja. Ohne Zustimmung des Präsidenten läuft praktisch nichts mehr. Das sieht man auch an den derzeit regelmäßig ergehenden Strafurteilen. Der Fall des Journalisten Berberoğlu ist ein trauriges Beispiel dafür. Die Strafanzeigen kommen aus dem Präsidentenpalast, die Urteile fallen wunschgemäß aus. Auch der Umstand, dass der Präsident regelmäßig als “Der AKP-Vorsitzende und Präsident” bezeichnet wird, zeigt die Gleichschaltung.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Erdogan hat im Jahr 2013 auch erwähnt, dass die Türkei in Bundesstaaten aufgeteilt werden soll. Dies sei ein Garant für die "Stärke" einer Nation. Er nannte auch damals die USA als Vorbild. Ist dieser Vergleich schlüssig?

Christian Rumpf: Als ehemals auch wissenschaftlich engagierter Verfassungsrechtler finde ich diese Idee, die übrigens schon die Generäle im September 1980 hatten, gut. Denn ein bundesstaatliches System bietet mehr langfristige politische Sicherheit als ein zentralstaatliches System, zumal wenn es sich um ein Präsidialsystem handelt. Aber Erdoğan hat genau aus diesen Gründen Abstand davon genommen. Er hat im Gegenteil die Kurdenfrage wieder hochkochen lassen, die ein beliebtes Argument dafür ist, ein bundesstaatliches System als Gefahr für die Einheit der Nation zu sehen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Gefahren birgt eine Organisation der Türkei als Bundesstaat?

Christian Rumpf: Damit kommen wir zur Frage, ob die Türkei überhaupt als Bundesstaat denkbar ist. Man muss natürlich durchaus sehen, dass wir eigentlich nur eine Gruppierung haben, die sich für eine eigene Autonomie ausspricht, nämlich die Kurden im Osten und Südosten. Das Beispiel Katalonien in Spanien zeigt, welche Dynamik das entfalten kann. Dabei bestehen zwischen Kurden und Nichtkurden ethnisch und sprachlich – teilweise auch religiös – weit größere Unterschiede als zwischen Spaniern und Katalanen oder – um das beliebte Beispiel USA zu nehmen – zwischen Südstaaten und Nordstaaten, die sich ja auch schon einen brutalen und blutigen Bürgerkrieg geleistet haben. So wie ich also eigentlich ein Anhänger von Bundesstaatlichkeit bin, sehe ich auch, dass solche Modelle nicht einfach auf die Türkei umgeschrieben werden können.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Kritiker behaupten, dass dadurch eine türkische Version der jugoslawischen Tragödie folgen könnte. Wie groß ist die Gefahr für das Eintreten eines derartigen Szenarios?

Christian Rumpf: Da die Bundesstaatlichkeit der Türkei derzeit keine ernsthaft diskutierte Option ist, möchte ich mich mit Prognosen für den Fall, die Türkei würde ein Bundesstaat, zurückhalten. Dass es nicht einfach würde, habe ich ja bereits angedeutet.

Prof. Dr. Christian Rumpf ist seit 2004 Honorarprofessor an der Universität Bamberg. Er war Gastwissenschaftler an der juristischen Fakultät der Universität Ankara und hatte Lehraufträge an den Hochschulen Passau, München, Frankfurt und Yeditepe (Türkei). Rumpf ist im Vorstand der Deutsch-Türkischen Juristenvereinigung und war unter anderem als Gutachter für das EU-Parlament, den Europarat und den Bundestag tätig.

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