Finanzen

Armut in Deutschland steigt trotz Rekord-Beschäftigung

Lesezeit: 4 min
14.05.2019 14:10
In Deutschland steigt die Armut, obwohl es eine Rekord-Beschäftigung gibt. Ursächlich ist der drastische Anstieg von Niedriglohn-Jobs.
Armut in Deutschland steigt trotz Rekord-Beschäftigung
Anteil der im Niedriglohnsektor arbeitenden Beschäftigten. (Quelle: Bundestag Drucksachen)

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Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist seit der Finanzkrise von 2008 stetig zurückgegangen. Deutschland hat nach Schweden die zweithöchste Beschäftigungsquote in der EU. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lag die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Oktober 2018 bei 33.474.000 und die Anzahl der geringfügig Beschäftigten bei 7.553.000.

Die deutsche Arbeitslosenquote betrug im vergangenen Jahr nach Angaben von Statista.com durchschnittlich 5,2 Prozent. Der Erfolg bei der Senkung der historisch hohen Arbeitslosenquote wird in Deutschland als „Beschäftigungswunder“ hochgepriesen.

Doch Deutschland hat auch einen der größten Niedriglohnsektoren Europas in Verbindung mit einer steigenden Arbeitsunsicherheit und Einkommensungleichheit. Das Blatt Fair Observer berichtet: “Während Deutschland in diesem Jahr die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung verzeichnete, erreichte auch die Armut ihren höchsten Stand seit der Wiedervereinigung (...) Die Zahl der Leiharbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen stieg von rund 288.000 im Jahr 2003 auf über 1 Million im Jahr 2016 (fast 3 Prozent aller Beschäftigten).”

Eurostat zufolge stieg die Gesamtarbeitszeit in Deutschland zwischen 1996 und 2016 um 3,3 Prozent. Dies ist weit weniger als in derselben Zeitspanne in Frankreich (9,2 Prozent) und in der EU-28 (7,7 Prozent). Die positive Beschäftigungsleistung in Deutschland wurde durch die Umverteilung des gleichen Arbeitsvolumens auf mehrere Mitarbeiter ermöglicht. Dies wurde erreicht, indem im vergangenen Jahrzehnt etwa 4,8 Millionen Teilzeitarbeitsplätze geschaffen wurden, die von Frauen und älteren Arbeitnehmern dominiert wurden. Unter den vier größten Ländern der Eurozone hat Deutschland mit 27 Prozent den höchsten Anteil an Teilzeitbeschäftigten an der Gesamtbeschäftigung.

Sowohl das Einkommen als auch die soziale Mobilität nahmen mit zunehmender Einkommensungleichheit ab, so der Fair Observer. Deutschland erlebte das Doppelphänomen eines schnell wachsenden Segments der "arbeitenden Armen" und der Entwicklung eines massiven Niedriglohnsektors. Jeder fünfte deutsche Arbeitnehmer verdient weniger als zehn Euro pro Stunde. Eurostat zufolge waren in Deutschland im Jahr 2014 22,5 Prozent der Erwerbstätigen Niedriglohnempfänger, während es in Frankreich nur 8,8 Prozent waren. Die realen Einkommen stagnierten für viele Deutsche. Diese Lohnungleichheit zwang Deutschland, 2015 einen landesweiten Mindestlohn festzulegen.

Allerdings beklagen deutsche Unternehmen nach wie vor einen Fachkräftemangel. Im dritten Quartal 2018 erreichte die Zahl der offenen Stellen bundesweit den Rekordwert von rund 1,24 Millionen, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) am Dienstag aus seiner vierteljährlichen Betriebsbefragung mitteilte. Das waren etwa 140.000 mehr als ein Jahr zuvor und 23.000 mehr als im vorangegangenen Quartal, so Reuters. 950.000 Jobs waren in Westdeutschland zu vergeben, 290.000 im Osten.

Hartz IV-Reformen und Niedriglohnsektor

Das Anwachsen des Niedriglohnsektors führt der Fair Observer auf die Reformen des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zurück. Als Schröder im Jahr 1998 sein Amt übernahm, erklärte er seine Verbundenheit mit der neuen britischen Labour Partei unter Tony Blair.  Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und der Rückgang der Sozialleistungen waren der Schlüssel zu dieser Vision des „Dritten Wegs / Neue Mitte“, die von Schröder und Blair vorangetrieben wurde.

Die Hartz-Reformen bestanden aus vier Rechtsakten (Hartz I-IV), die zwischen 2003 und 2005 eingeführt wurden. Sie erhöhten die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, indem sie die Beschränkungen für die Leiharbeit lockerten, den Kündigungsschutz in kleinen Betrieben aufweichten und prekäre Arbeitsbedingungen einführten. Diese Reformen führten zu einer erheblichen Kürzung der Arbeitslosenunterstützung für Langzeitarbeitslose. Folglich hat die Hartz-IV-Reform auch zu einem wachsenden Sektor der Niedriglohnbeschäftigung beigetragen.

Bald darauf geriet die Eurozone im ersten Quartal 2008 in eine Rezession und traf die deutsche Wirtschaft schwer. Die Wirtschaft schrumpfte zwischen Anfang 2008 und Mitte 2009 um etwa sieben Prozent. Deutschland erlebte eine tiefe, aber kurze Rezession. Die Fähigkeit des deutschen Arbeitsmarktes, sich auf eine Krise einzustellen, wurde den Hartz-IV-Reformen zugeschrieben, die zu einer größeren Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt führten.

Stimmen zum Niedriglohnsektor

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sieht dringenden Handlungsbedarf angesichts eines ungewöhnlich großen Niedriglohnsektors in Deutschland.

Zwar erlebe die Bundesrepublik “goldene Jahre”, sagte er dem Tagesspiegel Ende Dezember 2018. Im kommenden Jahr würden die Arbeitslosenquote weiter sinken und die Löhne nochmals steigen. "Ich mache mir weniger Sorgen um eine Rezession oder den Zustand der Wirtschaft", zitiert Reuters Fratzscher. Vielmehr seien die guten Zeiten womöglich nicht genutzt worden, um alle Menschen mitzunehmen. "Dringenden Handlungsbedarf sehe ich vor allem im Niedriglohnsektor, der in Deutschland außergewöhnlich groß ist”, so Fratzscher. Jeder fünfte Beschäftigte arbeite im Niedriglohnbereich, darunter viele gut Qualifizierte.

In Deutschland ist im dritten Quartal 2018 mit 15,64 Milliarden Stunden so viel gearbeitet worden wie noch nie.

Die Produktivität halte mit der Ausweitung des Arbeitsvolumens aber nicht Schritt, mahnt das IAB-Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit (BA).

“Mit der demografischen Schrumpfung wird ein auf Beschäftigungsausweitung basierendes gesamtwirtschaftliches Geschäftsmodell nicht mehr funktionieren (...) Spätestens dann brauchen wir bei den Jobs Klasse statt Masse”, erklärte IAB-Experte Enzo Weber. Die Zahl der Erwerbstätigen habe im Jahresvergleich (2018 zum Vorjahr) um 1,3 Prozent zugelegt und mit über 45 Millionen ein Rekordhoch erreicht. “Während es beim Einsatz von Arbeit einen Rekord nach dem anderen gibt, bleibt die Entwicklung der Produktivität je eingesetzter Stunde schwach”, so Weber.

Zum Rückgang der Produktivität trug laut Weber im dritten Quartal der Sondereffekt eines Neuzulassungsstaus in der Autobranche bei, der zu einer Delle beim Wirtschaftswachstum führte. Aber ein Minus sei bereits im ersten und zweiten Quartal des Jahres verzeichnet worden, sagte Weber der Nachrichtenagentur Reuters. Das liege auch am Niedriglohnsektor, der nicht zurückgehe.

Die OECD hatte Deutschland bereits im Jahr 2014 vor den negativen Folgen eines großen Niedriglohnsektors gewarnt. “Der wachsende Niedriglohnsektor macht uns Sorgen”, sagte OECD-Generalsekretär Jose Angel Gurria der Zeitung Die Welt. “Wir befürchten, dass Deutschland deshalb in den kommenden Jahren ein erhebliches Problem mit der Altersarmut bekommen wird”, zitiert Reuters Angel Gurria. Ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer dürfte langfristig von der Wirtschaftsentwicklung, die in Deutschland besser als in vielen anderen Industrieländern sei, abgehängt werden.

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