Finanzen

Europa und die USA können von einander lernen, wie Ungleichheit verringert werden kann

In den politischen Systemen der EU und der USA sind verschiedene Faktoren angelegt, welche Einkommensungleichheit begünstigen oder beheben. Beide Seiten könnten mit Blick auf die Probleme und Stärken des anderen lernen, um zukunftsfähige Steuersysteme aufzubauen.
16.11.2019 17:14
Lesezeit: 4 min
Europa und die USA können von einander lernen, wie Ungleichheit verringert werden kann
Eine Euromünze und ein Dollar-Schein. (Foto: dpa) Foto: Jens B

Die politischen Kräfte Europas sind gespalten zwischen jenen, die in der Europäischen Union eine Förderung unfairer, ineffizienter neoliberaler Wirtschaftspolitik sehen, und jenen, die die EU als wesentlich für die Erhaltung des relativ gerechten und integrativen „europäischen Sozialmodells“ betrachten. Doch im Zuge der jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament wurde kaum über dieses Modell debattiert, und es wurden nur wenige Ideen entwickelt, was die Politik tun sollte, um die Einkommensungleichheit auf dem gesamten Kontinent zu bekämpfen.

Das ist schade. Aus Vergleichen von Einkommenswachstum und Ungleichheit in Europa und in den Vereinigten Staaten in den letzten vier Jahrzehnten sind wichtige neue Erkenntnisse hervorgegangen, warum die Einkommen in Europa weitaus gleichmäßiger verteilt sind als in Amerika und was beide Seiten des Atlantiks voneinander lernen könnten.

Insgesamt sind die US-Einkommen in den letzten 40 Jahren schneller gewachsen als die in Europa. Zwischen 1980 und 2017 wuchs das durchschnittliche Nationaleinkommen pro Erwachsenem in den USA um 65%, verglichen mit 51% in Europa. Dieser Unterschied ist weitgehend (wenn auch nicht vollständig) darauf zurückzuführen, dass es der EU nicht gelungen ist, nach der Finanzkrise 2007-2008 einen europaweiten Konjunkturimpuls zu koordinieren. Im Vergleich zu Westeuropa, das in der Folge ein verlorenes Jahrzehnt (2007-2017) erlebte, in dem das durchschnittliche Nationaleinkommen pro Erwachsenen um weniger als 5% wuchs, wuchsen die USA fünfmal so schnell.

Diese durchschnittlichen Wachstumsraten verbergen jedoch das Ausmaß, in dem die Einkommensungleichheit in den USA in den vergangenen vier Jahrzehnten explodiert ist, während sie in Europa weit weniger extrem ist. Obwohl sich das durchschnittliche Einkommen vor Steuern der oberen 50% der amerikanischen Verdiener seit 1980 mehr als verdoppelt hat, ist es in der unteren Hälfte lediglich um 3% gewachsen. In Europa hingegen wuchs das Einkommen vor Steuern der unteren Hälfte der Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 40% – mehr als zehnmal so schnell wie bei ihren Pendants in den USA (wenn auch immer noch unter dem durchschnittlichen europäischen Einkommenswachstum insgesamt).

Unterschiede zwischen den US-amerikanischen und europäischen Steuer- und Transfersystemen ändern das Gesamtbild nicht wesentlich. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren sind die Einkommen nach Steuern der unteren 50% in den USA seit 1980 um bescheidene 14% gestiegen – immer noch weit unter dem allgemeinen Einkommenswachstum – und unter den bis zu 40% in Europa.

Ökonomen führen zunehmende Ungleichheit oftmals auf technologischen Wandel oder das Wachstum des internationalen Handels zurück. Dies erklärt jedoch nicht die stark divergierenden Entwicklungen der Ungleichheit in den letzten 40 Jahren in den USA und Europa, da beide in diesem Zeitraum ähnliche technologische Umbrüche erfahren haben und einem verstärkten Wettbewerb durch die Entwicklungsländer ausgesetzt waren. Stattdessen spiegelt der Kontrast zwischen Europa und den USA unterschiedliche politische Entscheidungen wider.

Politische Entscheidungsträger haben im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, um die Einkommensungleichheit zu bekämpfen. Predistribution zielt bereits vor einer Umverteilung darauf ab, die Voraussetzungen für eine gleichmäßigere Einkommensverteilung in der Zukunft zu schaffen – etwa durch Investitionen in Gesundheitsversorgung und Bildung, wirksame Kartell- und Arbeitsmarktgesetze und relativ starke Gewerkschaften. Die Umverteilung der Einkommen zielt indes darauf ab, die bestehenden Ungleichheiten durch eine progressive Besteuerung – bei der reichere Menschen höhere Steuersätze zahlen – und Sozialtransfers an die Ärmsten zu verringern.

Die geringere Ungleichheit in Europa ist nicht die Folge einer stärker umverteilenden Steuerpolitik. Zwar ist der höchste Grenzsteuersatz der US-Bundeseinkommensteuer von durchschnittlich 80% in den Jahren 1950-1980 auf heute 37% gesunken, und Präsident Donald Trump hat in seinem Tax Cuts and Jobs Act von 2017 den Körperschaftssteuersatz von 35% auf 21% gesenkt. Aber auch die europäischen Unternehmenssteuersätze sind von durchschnittlich 50% im Jahr 1980 auf heute 25% gesunken – und kommen damit reicheren Bürgern zugute, die zunehmend auf privaten Aktienbesitz setzen. Darüber hinaus sind die Verbrauchsteuern, die die Armen proportional stärker belasten, in Europa im gleichen Zeitraum deutlich gestiegen.

Die Progressivität der Steuersysteme sowohl in den USA als auch in Europa hat daher in den letzten Jahrzehnten allgemein abgenommen. Wenn überhaupt, ist das amerikanische Steuersystem heute etwas progressiver als das europäische, aber die Ungleichheit in den USA ist dennoch viel größer.

Der Bericht How Unequal Is Europe? (Wie ungleich ist Europa?) des World Inequality Lab legt nahe, dass die gleichmäßigere Einkommensverteilung in Europa weitgehend das Ergebnis einer prädistributiven Politik wie nationale Mindestlöhne, ein besserer Arbeitnehmerschutz und freier Zugang zu öffentlicher Bildung und Gesundheitsversorgung ist. Eine progressive Besteuerung bleibt trotzdem der Schlüssel zum Abbau der Einkommensungleichheit nach und vor Steuern. So können hohe Grenzsteuersätze dazu beitragen, die ungleiche Kapitalbildung heute zu begrenzen und damit zukünftige Einkommensströme gerechter zu gestalten.

Grundsätzlich sind progressive Steuern für die politische Nachhaltigkeit der Finanzsysteme der Länder unerlässlich. Der Auslöser für die Proteste der Gelbwesten (Gilets jaunes), die im vergangenen November in Frankreich begannen – und danach an anderer Stelle in Europa auftraten – war die empfundene Steuerungerechtigkeit.

Zu guter Letzt spielt die progressive Besteuerung in Europa auch eine prädistributive Rolle, indem sie zur Finanzierung der öffentlichen Bildung und allgemeinen Gesundheitsversorgung beiträgt. Diese wiederum fördern eine größere Chancengleichheit und damit im weiteren Verlauf eine gleichmäßigere Einkommensverteilung. Es besteht daher die Gefahr, dass der allgemeine Trend zu weniger progressiven Steuersystemen es Europa und den USA erschweren wird, die Ungleichheit in Zukunft einzudämmen.

Aber es muss nicht so kommen. Vielleicht werden sich die US-Wähler stärker für kostenlose öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung begeistern, wenn sie sehen, wie diese das Wirtschaftswachstum in Europa eher gefördert als behindert haben. Und Europa könnte sich davon inspirieren lassen, wie die US-Regierung vor einem Jahrhundert den Steuerwettbewerb zwischen den Staaten durch die Einführung von Körperschafts- und Einkommenssteuern auf Bundesebene weitgehend beendet hat.

Wenn Europa und die USA auf diese Weise voneinander lernen, könnten radikal anmutende Ansätze zur Bekämpfung der Ungleichheit auf beiden Seiten des Atlantiks pragmatischer und praktikabler erscheinen. Und die kommenden vier Jahrzehnte könnten weniger ungleich sein als die letzten vier.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Thomas Blanchet ist Koordinator für statistische Instrumente und Methoden beim World Inequality Lab. Lucas Chancel, Co-Direktor des World Inequality Lab, ist Dozent an der Sciences Po und Research Fellow am Institute for Sustainable Development and International Relations. Amory Gethin ist Research Fellow beim World Inequality Lab.

Copyright: Project Syndicate, 2019.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis aktuell: Deutlicher Kursrutsch nach Zoll-Einigung zwischen USA und China – jetzt Gold kaufen?
12.05.2025

Der Goldpreis ist am Montagmorgen unter Druck geraten. Der Grund: Im Zollkonflikt zwischen den USA und China stehen die Zeichen auf...

DWN
Finanzen
Finanzen Rheinmetall-Aktie bricht ein: Strategischer Umbau und politische Entwicklungen belasten – Chance zum Einstieg?
12.05.2025

Die Rheinmetall-Aktie ist am Montag eingebrochen. Nach dem Rheinmetall-Allzeithoch am vergangenen Freitag nehmen die Anleger zum Start in...

DWN
Politik
Politik Friedensoffensive: Selenskyj lädt Putin zu persönlichem Treffen in die Türkei ein
12.05.2025

Selenskyjs persönliches Gesprächsangebot an Putin in der Türkei und sein Drängen auf eine sofortige, 30-tägige Feuerpause setzen ein...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Entspannung im Handelskrieg? China und USA nach Genf optimistisch
12.05.2025

Bei ihren Zollgesprächen haben China und die USA nach Angaben der chinesischen Delegation eine „Reihe wichtiger Übereinstimmungen“...

DWN
Politik
Politik Hoffnung auf neue Gespräche: Putin bietet Verhandlungen mit Ukraine an
12.05.2025

Wladimir Putin schlägt überraschend neue Verhandlungen mit der Ukraine vor – doch Kiew und der Westen setzen ihn mit einem Ultimatum...

DWN
Technologie
Technologie Das Ende von Google? Warum SEO dennoch überleben wird
12.05.2025

Künstliche Intelligenz verändert die Online-Suche radikal – doch wer jetzt SEO aufgibt, riskiert digitalen Selbstmord.

DWN
Politik
Politik Großbritanniens leiser EU-Kurs: Rückkehr durch die Hintertür?
12.05.2025

Offiziell betont die britische Regierung unter Premierminister Keir Starmer weiterhin die Eigenständigkeit Großbritanniens nach dem...

DWN
Politik
Politik Frühere AfD-Chefin: Frauke Petry kündigt Gründung neuer Partei an - Alternative für die FDP?
11.05.2025

Die frühere Vorsitzende der AfD will vom kommenden Jahr an mit einer neuen Partei bei Wahlen antreten. Ziel der Partei soll sein, dass...