Finanzen

Die Inflation: Ein deutsches Trauma wird zum machtpolitischen Instrument der Eliten

Lesezeit: 8 min
26.01.2020 11:00
Das Verhältnis der Deutschen zur Geldwert-Stabilität ist neurotischer Natur. Das nutzen die wirtschaftlichen und politischen Eliten zu ihrem Vorteil.
Die Inflation: Ein deutsches Trauma wird zum machtpolitischen Instrument der Eliten
Die Urangst der Deutschen: Nur keine Inflation. (Foto: dpa)
Foto: Peter Steffen

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Am Anfang stand die Urkatastrophe: Der Dreißigjährige Krieg, der eine Generation lang auf deutschem Boden tobte, dabei das Land fast vollständig verwüstete und rund ein Drittel der Bevölkerung das Leben kostete – Schrecken, die noch vier Jahrhunderte später nicht aus dem kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen getilgt sind. Im 20. Jahrhundert kamen zwei weitere apokalyptische Ereignisse hinzu: Zunächst der Erste Weltkrieg, für den das millionenfache sinnlose Sterben im Schützengraben symbolhaft wurde, und circa ein Vierteljahrhundert später der Zweite Weltkrieg, mit dem qualvollen Tod Hunderttausender.

Die deutsche Urangst

All diese Ereignisse haben die Deutschen zu einem Volk gemacht, das von Angst beherrscht wird (was sogar dazu geführt hat, dass der Begriff „Angst“ Einzug in die englische Sprache fand, wobei er dort nicht die Furcht vor einer reellen Bedrohung bezeichnet, sondern eine emotionale Aufwühlung, ein unkontrollierbares Grauen, ein Gefühl von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit). Und wer Angst hat, wünscht sich vor allem eines: Sicherheit. Auf keinen Fall ein unvorhersehbares Ereignis heraufbeschwören, niemals ein Risiko eingehen, stets alles dafür tun, dass die große Katastrophe, das im wahrsten Sinne des Wortes „Unfassbare“, nie wieder eintritt, sich niemals wiederholt.

Und weil ihnen Sicherheit über alles geht, klammern die Deutschen sich heute an eine stabile Währung. Die schwarze Null: weniger das Resultat kühler wirtschaftspolitischer Kalkulation, als das Ergebnis eines Neurose-getriebenen Mantras.

Wobei – wen würde es überraschen – auch dieses Mantra in nicht geringem Maße das Ergebnis historischer Ereignisse ist, die sich in den Köpfen festgesetzt haben.

Münzverwirrung im Mittelalter

Die zahllosen politischen Einheiten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gaben höchst unterschiedliche Währungen heraus, die starken Wertschwankungen ausgesetzt waren. Weil die Währungen untereinander nur bedingt tauschbar waren, konnten politische Wirren, Eroberungen und Grenzverschiebungen große Vermögen auf einem Schlag wertlos machen.

Münzentwertung während des Dreißigjährigen Kriegs

Bis in die 1620er Jahre spielte im Zahlungsverkehr das sogenannte Kurantgeld (Münzen, deren Nominalwert durch den Wert des Metalls, aus dem sie geprägt wurden, gedeckt ist) die wichtigste Rolle. Der Rückgang der Silberproduktion sowie die hohen Ausgaben für die Finanzierung von (Söldner-)Heeren führten zu einer Silberknappheit, welche die Landesherren dadurch zu kompensieren suchten, dass sie sogenannte Scheidemünzen prägen ließen, deren Nominalwert weitaus höher als ihr Materialwert war. Münzen, die also eine Art Vorläufer des heutigen (Fiat)Geldes in Form von beispielsweise papiernen Geldscheinen waren. Diese Scheidemünzen setzten sich bei der Bevölkerung jedoch nie wirklich als Zahlungsmittel durch, was im Zusammenhang mit dem kriegsbedingten Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion zu einer galoppierenden Inflation führte.

Deutsche Hartwährungspolitik seit 1871

Nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der Gründung des Deutschen Reichs 1871 koppelte dieses die Mark an das Englische Pfund (goldgedecktes Fixkurssystem). Diese Form der Währungsordnung währte bis zum Kriegsausbruch im Jahr 1914, stellte die Härte der Mark sicher und führte in den frühen 1870 Jahren erst zu einer äußerst geringen Inflation, dann sogar zu einer Deflation. Die anschließenden Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren von einem beschleunigten Wirtschaftswachstum geprägt. Dass das nur möglich war, weil sich das Reich mit einer klugen Schutzzollpolitik gegen die Dominanz der damals weltweit führenden Wirtschaftsmacht Großbritannien – die sowohl über eine überlegene Industrie als auch ein gewaltiges Kolonialreich verfügte – schützte, wird von heutigen Befürwortern des unbeschränkten Freihandels gerne vergessen.

Die Hyperinflation von 1923

Ausgelöst durch die Kriegsanleihen (im Grunde finanzierte das Deutsche Reich den Krieg über die Notenpresse), wegen derer der Staat nach Kriegsende Unsummen an Bargeld schuf, um seine Schulden bezahlen zu können, kam es 1923 zu einer gewaltigen Inflation. Ein anschauliches Beispiel: Für fünf Billionen Reichsmark bekam die Hausfrau ein Kilo Rindfleisch, das sie mit einem 100-Billionen-Euro-Schein bezahlen konnte. Millionen von Deutschen verloren in den Wirrungen dieser Hyperinflation (als Hyperinflationen bezeichnet werden Preissteigerungen von mindestens 50 Prozent im Monat – aufs Jahr umgerechnet 13.000 Prozent) mehr oder minder ihr gesamtes Vermögen. Sowohl Bankguthaben, Leistungen aus Versicherungsverträgen als auch Rentenansprüche wurden auf einen Schlag ausradiert. Gewinner waren die Schuldner (vor allem der Staat und Bankschuldner, letztere häufig Angehörige der exportorientierten Großindustrie) sowie die Land- und Immobilienbesitzer.

Übrigens: Die schuldenbasierte Finanzierung des Krieges über Anleihen (statt über Steuern) hatte auf der Annahme basiert, dass die Kriegskosten durch Reparationszahlungen der Verlierer gedeckt werden würden (wie nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71). Dass dieser Verlierer das Deutsche Reich sein würde – damit hatte in Deutschland kaum jemand gerechnet. Die Folge dieser Fehlkalkulation war, dass Millionen von Anleihe-Nehmern fast das gesamte Geld, das sie in die Kriegsanleihen gesteckt hatten, verloren.

Die Währungsreform von 1948

Mit 40 Mark fing alles an: Soviel bekam jeder Einwohner der drei Westzonen am 20. Juni 1948, einem Sonntag, als Kopfgeld ausgezahlt – am Montagmorgen brachen die prallgefüllten Regale fast zusammen unter dem Druck der wie von Geisterhand dorthin gelangten Waren. Es war der Beginn des deutschen Wirtschaftswunders – für viele aber auch eine schwere Enttäuschung. Denn die Sparer waren die Verlierer: Für 100 Reichsmark bekamen sie gerade mal DM 6,50 – über viele Jahre angesparte Guthaben lösten sich zwar nicht in Luft auf, verloren aber über Nacht gewaltig an Wert.

Diese Ereignisse haben sich in die Köpfe der Menschen eingebrannt, sind über Jahrhunderte hinweg an die nächste Generation weitergegeben worden – entweder in konkreten Erzählungen oder in der Erziehung. Und sie sind Teil der deutschen (wirtschafts)politischen Kultur geworden: So wie die Überfälle der tatarischen Reiterhorden bis heute die Angst vor Fremden im russischen Riesenreich hochhalten, wie die Furcht der Gründerväter, die Regierung könne unbotmäßig in ihre Freiheitsrechte eingreifen, den Amerikanern bis heute das – in der Verfassung festgeschriebene – Recht, „Waffen zu tragen“, garantiert, so wirkt das Inflationstrauma bis heute als Leitmotiv deutscher Wirtschaftspolitik.

Eine harte Währung nutzt dem Außenhandel

Zuviel der psychologischen und historischen Erklärungsmuster? Mitnichten. Aber: Entscheidungen in Wirtschaft und Politik lassen sich natürlich nicht nur psychologisch erklären, beruhen nicht ausschließlich auf historischen Erfahrungen. Nein, Entscheidungen sind selbstverständlich auch das Resultat wirtschaftlicher Erfordernisse, politischer Überzeugungen sowie – last but not least – handfester Interessen. Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser hat die Angst der Deutschen vor der Inflation in einem Interview folgendermaßen erklärt: „Ihre exportstarke Qualitätsproduktion braucht eine nachhaltige Kalkulationsgrundlage. Ein Anlagenbauer muss wissen, ob er ein Projekt in fünf oder gar zehn Jahren mit Gewinn abschließen kann.“ Weiter führt er aus: „Andere Länder in der Euro-Zone sind dagegen auf Märkten unterwegs, die kürzer getaktet sind, wie Dienstleistungen oder Agrarprodukte. Sie haben traditionell auf Weichwährungen gesetzt.“

Eine kluge Erklärung des Wissenschaftlers. Und selbstverständlich auch ein weitsichtiges Denken, das Deutschlands wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entscheider mit Blick auf die Preisstabilität an den Tag legen.

Aber, wie schon gesagt, politische Entscheidungen werden nicht nur mit Blick auf das wirtschaftlich Erforderliche getroffen, auf das, was dem Gemeinwohl dient. Politische Entscheidungen sind auch das Ergebnis handfester Interessen.

Die wirtschaftspolitische Kehrtwende der 1980er Jahre

Zweimal hatte Deutschland in der ersten Jahrhundert-Hälfte katastrophale Erfahrungen mit der Inflation gemacht – nicht zuletzt die Erinnerung daran veranlasste die Bundesbank in den frühen 1980er Jahren zu einem harten Durchgreifen, nachdem sich die Geldentwertung in den 1970ern aufgrund zweier Erdöl-Schocks heftig beschleunigt hatte und nicht mehr aufhören wollte. Mit äußerst hohen Zinsen griffen die deutschen Währungshüter durch (analog der US-Notenbank Fed unter ihrem Vorsitzenden Paul Volcker). Darüber hinaus warben sie für zwei Neuerungen, die dann auch eingeführt wurden, und die bis heute Deutschland und Europa prägen: Zum einen die Abschaffung der Teuerungsausgleichsklauseln bei den Lohnabschlüssen, die Arbeitgeber und Gewerkschafter vereinbar(t)en. Zum anderen, dass die damals amtierende und dass zukünftige Bundesregierungen auf jede Verschlechterung der konjunkturellen Lage mit einer restriktiven Finanzpolitik reagier(t)en. Das gleiche Prinzip setzten die Bundesbank-Vertreter nach Einführung des Euros auf gesamteuropäischer Ebene in der Europäischen Zentralbank durch. Diese finanzpolitische Ausrichtung unterscheidet Deutschland seitdem von den meisten anderen Ländern. Lohnausgleich für steigende Preise gibt es hierzulande nur noch sehr bedingt, und die Finanzpolitik verstärkt fast immer die aktuelle konjunkturelle Entwicklung („prozyklisch verstärkend“, würden Ökonomen sagen), anstatt dass sie mit ihren Maßnahmen negativen Ausschlägen entgegenwirken würde. Beispielsweise in Form eines Konjunkturprogramms, wenn eine Rezession droht, oder umgekehrt, in Form von Steuererhöhungen, wenn die Konjunktur heiß läuft.

Die schwarze Null: Werkzeug der Eliten

Eine Politik der schwarzen Null, die einhergeht mit der Ablehnung (fast) jeglicher staatlicher Verschuldung sowie der Ablehnung der Ankurbelung der Wirtschaft durch staatliche Maßnahmen. Eine Politik, die das Ziel verfolgt, die Inflation unter allen Umständen niedrig zu halten: Eine solche Politik hat im Endeffekt auch und vielleicht sogar primär eine ausgeprägte gesellschaftspolitische Komponente. Tatsache ist, dass wirkungsvolle arbeitsmarktpolitische Initiativen in Verbindung mit der Aufrechterhaltung von schwarzer Null und strenger Preisstabilität kaum möglich sind und seit den 80er Jahren in Deutschland – wenn überhaupt – nur zögerlich und mit wenig Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden. Stattdessen alimentierte und alimentiert man die – zu Hochzeiten im Jahr 2004 offiziell 11,7 Prozent, in Wahrheit natürlich noch viel mehr – Arbeitslosen mit Beträgen von über die Jahre gerechnet hunderten Milliarden von Euro. Wirtschaftlich eine Katastrophe. Wahrscheinlich jedoch aus der Sicht der Verantwortlichen das politisch genau richtige Vorgehen. Denn mit der flächendeckenden Arbeitslosigkeit ging eine Verschiebung der politischen Macht einher – weg von den Arbeitnehmern und Gewerkschaften, hin zu den großen Unternehmen, den Lobbyverbänden, den wirtschaftsnahen politischen Akteuren.

Das vielbeschworene Argument, dass es besonders Geringverdiener und die „kleinen Leute“ seien, die von der Inflation besonders betroffen würden, verfängt übrigens nicht, wie der Ökonom Herrmann Adam herausgearbeitet hat. Gerade in den Zeiten, als die Bundesrepublik ihre höchsten Inflationsraten erlebte (Mitte der 70er Jahre bis zu sieben Prozent), waren die Lohnzuwächse am höchsten (deutlich über der Inflationsrate) und betrug die Arbeitslosenquote gerade mal zwei Prozent (eine Zahl, die nicht durch den Ausschluss von Umschülern, Minijob-Inhabern und wegen ihres Alters angeblich nicht mehr Vermittelbaren geschönt war).

So wird die Angst der Deutschen vor der Inflation von den wirtschaftlichen und politischen Eliten genutzt, um die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Denn Arbeitslose und Geringverdiener sind kein Gegner, sie sind ein Spielball in den Händen der Mächtigen. Lohndumping, Hire and Fire, versteckte Selbständigkeit, Abbau von Sozialleistungen: Sie sind mittlerweile Teil des vorherrschenden wirtschaftlichen Systems – nicht zuletzt wegen einer tiefsitzenden deutschen Neurose.


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