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Deutschland noch lange nicht aus dem Tief: Nur Italiens Wirtschaft liegt noch hinter uns

Lesezeit: 3 min
16.01.2020 19:39  Aktualisiert: 16.01.2020 19:39
Der leichte Anstieg des Bruttoinlandsproduktes im vierten Quartal verdeutlicht vor allem eines: Die Gesamtwirtschaft dümpelt mehr oder weniger vor sich hin, in der Industrie herrscht seit Monaten eine ernste Rezession.
Deutschland noch lange nicht aus dem Tief: Nur Italiens Wirtschaft liegt noch hinter uns
Die deutsche Wirtschaft steckt weiterhin in der Flaute. (Foto: dpa)
Foto: Maurizio Gambarini

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Die Kauflust der Verbraucher und der Bauboom haben die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr vor einer Vollbremsung bewahrt. Unter dem Eindruck schwächelnder Exporte und einer Rezession in der Industrie legte das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur noch um 0,6 Prozent zu, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Berlin anhand vorläufiger Daten mitteilte. Das war zwar etwas besser, als von den meisten Ökonomen erwartet - aber deutlich weniger als in den Jahren 2018 und 2017 mit damals noch 1,5 und 2,5 Prozent. Ähnlich schwach wie 2019 war das Wachstum demnach zuletzt vor sechs Jahren.

Das vergangene Jahr war das zehnte Wachstumsjahr in Folge seit 2010. Damals musste sich Europas größte Volkswirtschaft von der tiefen Rezession 2009 infolge der globalen Finanzkrise erholen. Weltweit gilt aber folgende Beobachtung: Der globale Aufschwung seit 2009 ist zwar der längste jemals gemessene, er ist aber auch der schwächste - nur getragen durch die permanent expansive Geldpolitik der Zentralbanken.

Mit einer durchgreifenden Besserung in diesem Jahr rechnen Volkswirte aktuell jedoch nicht. Auch wenn etwa Ökonomen der Commerzbank ein höheres Wachstum als 0,8 Prozent für möglich halten, erwarten sie "weiter eine blutleere Aufwärtsbewegung".

Massiv gebremst wurde die deutsche Konjunktur im vergangenen Jahr von der Industrie, die gut ein Viertel der Gesamtwirtschaft ausmacht. Deren Wirtschaftsleistung brach ohne den Bau um 3,6 Prozent ein. "Insbesondere die schwache Produktion in der Automobilindustrie, welche der größte Teilbereich der Industrie ist, trug zu diesem Rückgang bei", bilanzierten die Statistiker. Auch Schlüsselbranchen wie der Maschinenbau und die Elektro- und Chemieindustrie haben derzeit zu kämpfen. Nach Schätzung des Münchner Ifo-Instituts "dürfte allein der Produktionseinbruch in der Automobilindustrie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im vergangenen Jahr um 0,75 Prozentpunkte gedämpft haben".

Dabei spielen auch die lahmenden Ausfuhren der Exportnation Deutschland eine Rolle. Die sinkende Nachfrage nach "Made in Germany" ist eine Folge globaler Krisen und der Handelskonflikte, die derzeit die gesamte Weltkonjunktur bremsen. Während die Importe von Waren und Dienstleistungen 2019 noch um 1,9 Prozent zulegten, verbesserten sich die Ausfuhren nur noch um 0,9 Prozent. Unter dem Strich bremste der Außenhandel damit das Wirtschaftswachstum.

Deutschland ist nach Einschätzung der Liechtensteiner VP Bank "mit einem blauen Auge" davongekommen, vor allem dank des privaten Konsums. Die Kauflust der Verbraucher wird seit Jahren von relativ guten Tarifabschlüssen, niedriger Inflation, geringen Zinsen und der Rekordbeschäftigung getragen. Der private Konsum steht für mehr als 52 Prozent der Wirtschaftsleistung von gut 3,4 Billionen Euro. Die Konsumneigung dürfte nach derzeitiger Einschätzung der Nürnberger GfK-Experten auch 2020 hoch bleiben. Auch die Konsumausgaben des Staates, zu denen unter anderem soziale Sachleistungen und Gehälter der Mitarbeiter zählen, legten den Angaben zufolge zu - mit plus 2,5 (Vorjahr: 1,4) Prozent sogar sehr kräftig.

Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa bei DWS, schätzt die BIP-Daten für das vierte Quartal folgendermaßen ein:

Mit einem Plus von 0,6 Prozent dürfte das deutsche BIP-Wachstum 2019 eines der schwächsten der Industrieländer sein – lediglich Italien schneidet noch schlechter ab.

Ursache dafür war vor allem die Schwäche in der Industrie, die in Deutschland ein deutlich höheres Gewicht als in anderen „Industriestaaten“ hat. Die exportorientierte Industrie leidet unter verschiedenen Faktoren: Trumps Handelskrieg, dem Brexit (immerhin gingen früher acht Prozent der deutschen Exporte ins Vereinigte Königreich, jetzt nur noch sechs Prozent) und den zahlreichen Malaisen der Autoindustrie.

Ist Deutschland damit knapp an einer Rezession „vorbeigeschrammt“, wie oft geschrieben wird? Nein, das wäre eine Fehlinterpretation. Die Kapazitäten in der Industrie und im Bausektor waren 2017/2018 deutlich überausgelastet. Nach der langen Schwächephase sind die Kapazitäten nun deutlich weniger ausgelastet; aber von einer massiven Unterauslastung, wie sie zu einer Rezession gehört, ist Deutschland weit entfernt. Im Dienstleistungsbereich und im Baubereich sind die Kapazitäten nach wie vor überausgelastet. Davon legt auch der Arbeitsmarkt ein beredtes Zeugnis ab: Die Fachkräfte sind knapp und die Arbeitslosigkeit ist nahe dem tiefsten Stand seit den siebziger Jahren.

Die gute Lage am Arbeitsmärkt führt auch dazu, dass der Verbraucher weiterhin die Konjunktur trägt, trotz der nun bald zweijährigen Schwäche in der Industrie. Wir gehen weiter davon aus, dass der Konsument so lange die Stellung hält, bis die Industrie selber wieder Impulse liefert.

Die weiteren Aussichten bleiben jedoch insgesamt schwach. Wir erwarten zwar eine Normalisierung der wirtschaftlichen Lage, nicht zuletzt aufgrund abnehmender Unsicherheiten beim Handelskrieg und beim Brexit. Aber das neue „normal“ liegt deutlich tiefer als in der Vergangenheit, was unter anderem auf die Demographie zurückzuführen ist. In den kommenden Jahren schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter – erst langsam, dann immer schneller. Mitte der “zwanziger Jahre“ dürfte ein Wirtschaftswachstum von einem Prozent als Erfolg gefeiert werden. Für 2020 rechnen wir mit einem Wachstum von etwas unter einem Prozent."


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