Jährlich organisiert der russische Think Tank IMEMO seine traditionsreichen Primakov-Lesungen. „Wir haben im laufenden Jahr folgendes Thema: ‚Die USA in Zeiten der Krise: Welche strategischen Folgen sind zu erwarten?‘", so IMEMO-Direktor Fedor Voitolovsky, als er das diesjährige Programm Ende Juni verkündete.
„Die Konferenz ist auch eine Huldigung für den Großen Bürger Russlands, für unseren Staatspräsidenten Waldimir Putin“, fügte Alexander Dynkin hinzu, der als Präsident der Denkfabrik fungiert.
Hintergrund: Die Primakow-Lesungen sind ein wichtiges Forum in Russland, auf dem sich turnusmäßig Vertreter aus Politik und Wirtschaft mit ranghohen einheimischen und ausländischen Wissenschaftlern treffen, um gewichtige Probleme zu diskutieren. Es trägt den Namen des Ökonomen und Politikers Jewgenij Primakov, der auch einmal Mitarbeiter im IMEMO war. Der mittlerweile verstorbene ehemalige Ministerpräsident ist der wohl prominenteste Mitarbeiter in der Geschichte des Think Tanks.
Und im laufenden Jahr ging es auf dieser Veranstaltung um die USA – und unter anderem um die Wahlen, die im Herbst über die Bühne gehen und zweifelsohne ein sehr wichtiges Ereignis in der internationalen Politik darstellen.
Dass der Präsident des Moskauer IMEMO, Dynkin, während seiner Vorstellung quasi eine Art verbalen Hofknicks vor Putin macht, ist für Russland typisch. Grundsätzlich verfügt das Land über hervorragende Wissenschaftler, die sich in der Presse und auf internationalen Veranstaltungen regelmäßig äußern. Doch ist es für sie nahezu unmöglich, grundsätzlich die Politik des Präsidenten in Frage zu stellen.
Das IMEMO, dessen Abkürzung für „Institut für Weltökonomie und Internationale Beziehungen“ steht, gehört zu den altehrwürdigen "Russischen Akademien der Wissenschaften" (RAN). Dabei handelt es sich um ein riesiges Netzwerk, das über 1.000 wissenschaftlichen Einrichtungen, etwa 125.000 Mitarbeiter und fast 50.000 Gelehrte umfasst – also eine ganze Armada an Intellektuellen.
Diese Verzahnung zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft hat in Russland eine lange Tradition. So lassen sich die Anfänge der RAN bis ins Zarenreich des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Zar Peter der Große I. gründete 1724 die Einrichtung, um damit die russische Gesellschaft zu modernisieren. Forschungstätigkeiten in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften sollten dazu beitragen, die soziale und geistige Entwicklung der Russen voranzutreiben und an den Westen anzugleichen.
Deswegen haben die RAN schon immer ausländische Wissenschaftler aufgenommen – darunter auch viele Deutsche. Beispielsweise wurde der Mathematiker aus Hamm, Friedrich Hirzebruch, im Jahr 1988 Mitglied der Gelehrten-Riege. Der deutsche Forscher hat sich mit seinen wegbereitenden Arbeiten in der modernen algebraischen Geometrie weltweit einen Namen gemacht.
Damit gehörte der Wissenschaftler zu einer ganzen Reihe von Deutschen, die sich mit den RAN in Verbindung bringen lassen. Im 18. Jahrhundert waren es beispielsweise der Historiker Hartwig Bacmeister oder der Philosoph Georg Bernhard Bilfinger.
Die RAN hat sich zwar schon immer um Ausländer bemüht, um das internationale Renommee der Einrichtung zu verbessern, doch stehen die russischen Gelehrten im Mittelpunkt – nach wie vor. Grundsätzlich sind die russischen Think Tanks und ist die russische Wissenschaft ans sich weltweit für ihre Arbeit anerkannt.
So liegt das IMEMO auf dem aktuellen Index der US-amerikanischen Stiftung Center for Strategic and International Studies (CSIS) für 2019 auf dem 33. Platz. Das Projekt, das Analysten der Universität Pennsylvania für die CSIS ausgeführt haben, hat gewaltige Ausmaße: Sie befragten weltweit fast 4.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 1.800 Einrichtungen, um sich ihr Urteil zu bilden.
Die US-Amerikaner veröffentlichen jedes Jahr ein Ranking der wichtigsten Denkfabriken, die es auf der ganzen Welt gibt. Unter den 176 wissenschaftlichen Zentren, die dort gelistet werden, befinden sich IMEMO und andere russische Häuser auf den vorderen Rängen. 16 russische Zentren – also die Mehrzahl – finden in der Kategorie „Beste Forschungsorganisationen in Ost- und Mitteleuropa“ ihren Platz.
Hier nimmt IMEMO den achten Rang ein. Darüber hinaus liegt das Moskauer Zentrum für Wirtschafts- und Finanzanalysen (CEFIR) an der Neuen Wirtschaftsschule (NES) in der Tabelle an 15. Stelle. „Sie nehmen würdige Plätze ein“, wie die Onlineausgabe des Moskauer Boulevard-Magazins „Moskowski Komsomolez“ (MK) findet.
Allerdings gibt es ein Problem: Die russischen Einrichtungen werden relativ wenig vom russischen Staat gefördert, wenn man das Land mit anderen Staaten vergleicht. Wie aus Statistiken der EU hervorgeht, hat die russische Führung im Jahr 2018 etwas weniger als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Forschung und Entwicklung (F&E) ausgegeben.
Zum Vergleich: Deutschland erreichte 3,1 Prozent, und die Gemeinschaft kam auf einen durchschnittlichen Wert von 2,1 Prozent.