Das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird im Zuge der Corona-Krise dieses Jahr von einem starken Rückgang betroffen sein. Wie hoch dieser ausfällt, ist allerdings unter Ökonomen umstritten. Die Prognosen reichen von minus 2,0 Prozent bis minus 8,2 Prozent. Das russische Wirtschaftsministerium geht von minus 4,8 Prozent aus.
Hier eine Übersicht der Prognosen ausgesuchter Banken, Wirtschaftsinstitute, internationaler Organisationen und Regierungseinrichtungen (in Prozent):
- Commerzbank: -2,0
- Sberbank (größte Bank Russlands): -4,2
- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): -4,2
- OPEC: -4,5
- Reuters-Umfrage unter Analysten: -4,5
- Russisches Wirtschaftsministerium: -4,8
- The Economist: -5,2
- Unicredit: -5,4
- Weltbank: -6,0
- Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW Kiel): -6,5
- Internationaler Währungsfonds (IWF): -6,6
- Ifo-Institut: -7,5
- OECD: -8,0
- CMASF (Think Tank in Moskau) -8,2
Die starke Varianz der Zahlen überrascht (und lässt den Beobachter bis zu einem gewissen Grad am Aussagewert solcher Prognosen zweifeln). Zwei Faktoren können allerdings in gewissem Maße die Unterschiede erklären:
- Zum einen die starke Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Rohstoffen, vor allem Erdöl und Erdgas, aber auch Metallen. Im März gab Russlands Finanzminister Anton Siluanov bekannt, dass das Land in diesem Jahr beim Export von Öl und Gas Einbußen von fast 40 Milliarden US-Dollar verzeichnen wird. Abhängig davon, wie sich die Preise für die beiden wichtigen Exportgüter für den Rest des Jahres entwickeln werden, fällt auch der Rückgang des russischen BIP aus – was wiederum bedeutet, dass die Prognosen für den BIP-Rückgang in hohem Maße davon abhängen, wie die jeweiligen Prognostiker die Entwicklung der Rohstoff-Preise einschätzen.
- Zum anderen, dass der Anteil des informellen Sektors an Russlands Volkswirtschaft sehr hoch ist, Schätzungen zufolge einen Umfang von fast 40 Prozent am gesamten BIP-Volumen hat. Die Prognose für den BIP-Rückgang hängt also auch stark davon ab, wie hoch die einzelnen Prognostiker den Umfang und die Dynamik der Schattenwirtschaft einschätzen, vor allem vor dem Hintergrund der Corona-Krise (schließlich betraf der Lockdown die nicht-staatlichen Unternehmen massiv), und in welchem Umfang sie diese Schätzung in ihre Prognose mit einfließen lassen.
Kaum Hilfe vom Staat
Vom Staat können Russlands Unternehmen nur vergleichsweise wenig Hilfe erwarten: Er macht lediglich eine Milliarden-Summe im unteren bis mittleren einstelligen Bereich locker (zum besseren Verständnis: der gesamte föderale Haushalt für 2020 beträgt rund 280 Milliarden Euro, das russische BIP betrug 2019 1.657 Milliarden Euro). Der Grund: Man will die sehr guten Haushaltszahlen nicht gefährden – die Verschuldung beträgt gerade einmal 15 Prozent des BIP, wobei der russische Finanzminister letztes Jahr sogar ein Plus von 1,8 Prozent verkünden konnte. Dieses Jahr wird es wohl ein Minus von circa 5 Prozent geben – immer noch wenig verglichen mit dem Haushaltsminus der meisten westlichen Industriestaaten (beispielsweise verbuchte der Haushalt der Bundesrepublik im ersten Halbjahr 2020 ein Minus von 33 Prozent; allein die Höhe der kurzfristig beschlossenen zusätzlichen Kredite beträgt 156 Milliarden Euro).
Sparsamkeit hat ihren Preis
Aber die Sparsamkeit des russischen Staates hat ihren Preis: So schätzen Experten, dass bis August rund eine Million Unternehmen ihren Betrieb eingestellt haben werden. Nach Berechnungen des „Economist“ wird Russland erst Ende 2024 wieder das Niveau von Ende 2019 erreicht haben. In allen anderen BRICS-Nationen (Brasilien, Indien, China, Südafrika) soll der Aufschwung rascher vorangehen, ebenso in allen anderen G7-Staaten mit Ausnahme von Japan (Deutschlands Wirtschaft soll sich Ende 2021 oder Anfang 2022 wieder auf dem Stand der Vor-Corona-Zeit befinden).
Immerhin: Die Stimmung in der russischen Wirtschaft befindet sich wieder deutlich im Aufwind. Der Einkaufsmanager-Index für das Verarbeitende Gewerbe sprang von 36,2 Punkten im Mai auf 49,4 Punkte im Juni (Veröffentlichung: 1. Juli) und befand sich damit denkbar knapp von der 50-Punkte-Marke entfernt, die eine unveränderte (also nicht negative) Geschäftsentwicklung anzeigt. Auch der Einkommensmanager-Index für den Dienstleistungs-Sektor verbesserte sich kräftig, und zwar von 35,9 Punkten im Mai auf 47,8 Punkte im Juni (was natürlich immer noch im Negativ-Bereich liegt, aber auf einen baldigen Sprung in den neutralen oder sogar positiven Bereich hoffen lässt).