Die Geschichte, die sich der Westen in den vergangenen Jahrzehnten über China erzählt hat, fällt derzeit in sich zusammen. Laut dieses Narrativs war China unter der Herrschaft des „Großen Vorsitzenden“ Mao Zedong (1949-76) ein radikal ideologisches Land und wandelte sich dann in den Jahrzehnten nach dem Wahnsinn der Kulturrevolution (1966-76) weitgehend zum wirtschaftlichen Entwicklungs- und schließlich Erfolgs-Projekt. Natürlich sei China autoritär und seinem Großmachtstreben verhaftet geblieben, doch habe es die revolutionäre Glut der maoistischen Hoch-Zeit ein für alle Mal hinter sich gelassen.
In dieser Version der Ereignisse war beziehungsweise ist die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wirtschaftlich legitimiert: Die Partei würde so lange überleben, wie sie über eine Wirtschaft präsidiert, die einen steigenden Lebensstandard gewährleistet, aber bei Ausbleiben eines starken Wirtschaftswachstums unweigerlich scheitern. In Wahrheit freilich ist Mao nie wirklich verschwunden. Auch wenn sein Ruf zeitweise gelitten hat, bleibt er für große Teile der chinesischen Gesellschaft ein Gegenstand der Faszination und Verehrung. Und in der Ära von Xi Jinping (seit 2012 Generalsekretär der KPCh und seit 2013 Staatspräsident) gibt es eine stetige interne Debatte darüber, ob Xi der neue Mao sei.
Die übrige Welt hat allmählich Einblick in diese Diskussion gewonnen, und eine breite Palette neu erschienener Bücher, die vor einem Jahrzehnt anachronistisch gewirkt hätten, scheint plötzlich zeitgerecht. Wie relevant genau sind Mao und der Maoismus für das heutige China wirklich? Die Antwort, etwas vereinfacht: Sehr relevant, wenn auch nicht so, wie man das womöglich erwarten würde.
Mao als Utopie
Einen allgemeinen Überblick über den Neo-Maoismus, der die Entwicklung in China seit den 1990er Jahren geprägt hat, bietet „China’s New Red Guards“ (Chinas neue Rote Garden“), eine überzeigende Einführung in das Thema durch den Politikwissenschaftler Jude Blanchette. Das Buch bewältigt die schwierige Aufgabe, komplexe politische Gruppierungen und ihre internen Machtkämpfe auf eine Weise zu erklären, die sich liest wie ein Thriller. Seinen Kern bildet die Schilderung von „Utopia“, einer Online-Gruppe chinesischer Denker, die in der Zeit nach 1989 konsequent für ein starkes Gefühl nationaler chinesischer Identität eintraten – nicht als Ersatz für Maos Erbe, sondern als Weg, dieses mit neuem Leben zu füllen.
Blanchette schreibt über den Aktivisten Zhang Hongliang, der in den 2000er Jahren den Aufstieg der chinesischen Konsumkultur untersuchte und alles dafür tat, diese zurückzudrängen. Im Jahr 2006 argumentierte Zhang, die Kulturrevolution repräsentiere auf überzeugende Weise „die in der menschlichen Geschichte erstmalige Schaffung eines Modells der Politik für die Massen“. Seiner Meinung nach sei China Ende des 19. Jahrhunderts von sogenannten „Kompradoren“ (Handelsvermittler zwischen China und ausländischen Mächten) und „internationalen chinafeindlichen Kräften“ bedroht gewesen sei.
Doch natürlich beschreibt Blanchette ein China, wie Mao selbst es sich kaum hätte vorstellen können – eines, in dem neo-maoistische Rezepte häufig weite Verbreitung in sozialen Medien finden, bevor sie den Zensoren auffallen. Die chinesischen Behörden müssen gegenüber Gruppen wie „Utopia“ – deren Kritik sich unmittelbar gegen die begeisterte Annahme des Turbokapitalismus durch die KPCh richtet – besonders wachsam sein, weil diese nicht als Instrumente ausländischer Regierungen abgetan werden können, so wie das bei den wenigen verbleibenden Liberalen in China normalerweise der Fall ist.
Blanchette legt darüber hinaus eine hervorragende Analyse eines der faszinierendsten Ereignisse der jüngsten politischen Geschichte Chinas vor: dem Bo-Xilai-Skandal. Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des ehemaligen KPCh-Vorsitzenden von Chongqing, Bo, wurde 2012 brutal beendet, als er und seine Frau Gu Kailai verhaftet und später wegen Korruption und, in ihrem Fall, Mord verurteilt wurden. Die schrillen Details dieser Geschichte haben manchmal die interessantesten und nach wie vor relevanten Aspekte von Bos Politik verschleiert. Bo sprach etwas für viele chinesische Normalbürger Offensichtliches aus: dass der wachsende Wohlstand im Lande äußerst ungleich verteilt ist und häufig die bestehenden Klassenunterschiede verschärft.
Bos Vorgänger als KPCh-Chef in Chongqing, Wang Yang, wurde später Chef der wirtschaftsanarchischen Provinz Guangdong, wo seine Politik es einigen örtlichen Geschäftsleuten erlaubte, sehr reich (und, in einigen Fällen, sehr korrupt) zu werden. Bo jedoch erkannte, dass es unter den chinesischen Normalbürgern ein echtes Bedürfnis nach einer anderen Art Politik gab. Er wollte daher „Schwarz schlagen, Rot singen“ – das heißt, hart gegen die „schwarzen Gesellschaften“ (kriminelle Kartelle) vorgehen, die in Chongqing florierten, und maoistische kollektivistische Hymnen wie „Der Osten ist rot“ wieder aufleben lassen.
Bos „Chongqing-Modell“ erweckte kurzzeitig die Aufmerksamkeit von ehrgeizigen chinesischen Politikern und auch von Wissenschaftlern. Doch ließ der steile Aufstieg des Kommunalpolitikers in der obersten Führung Chinas schon bald die Alarmglocken schrillen, und im März 2012 begann dann Bos spektakulärer Sturz, der in seiner Verurteilung kulminierte. Damals gingen viele davon aus, dass diese Episode einen Putsch gegen ein maoistisches Erwachen, eine maoistische Wiederauferstehung darstellte. Doch wie Blanchette zeigt, geriet Bo nicht wegen seiner Ideologie ins Visier der obersten Führung, sondern wegen seines persönlichen Ehrgeizes.
Freilich war die unterschwellige Wut, die Bos Ideen überhaupt derart populär gemacht hatte, damit nicht verschwunden. Und an dieser Stelle verortet Blanchette den wahren Grund für die Nervosität der Zentralregierung gegenüber neomaoistischen Strömungen. Während es schon immer liberale Trends in der chinesischen Gesellschaft gab, schlagen diese nur selten (wie etwa möglicherweise Anfang der 1980er Jahre) auf die Stimmung in der Bevölkerung durch. Doch beim Nationalismus ist das anders. Mit seiner Rückbesinnung auf gemeinsame Erinnerungen an den Staatsgründer ist der Neomaoismus deutlich wirkungsmächtiger als jede liberale Gedankenströmung, insbesondere, wenn er einen Kanal bietet, über den die Werte des aktuellen Einparteienstaates unter Anklage gestellt werden.
Letztlich jedoch ist die von „Utopia“ und ihren Anhängern propagierte Version des Maoismus ein Fantasiebild. Während sie sich auf die Sehnsucht nach einer Welt gemeinsamer Werte, des Kollektivismus und eines selbstgenügsamen Altruismus stützt, ignoriert sie viele dem Maoismus zugrundeliegende zentrale Werte, nicht zuletzt die Verherrlichung der Gewalt als transformative Kraft.
Kein bäuerlicher Philosoph, sondern brutales politisches Genie
Das Buch „Maoismus“ der Historikerin und Übersetzerin Julia Lovell bietet eine herausragende, detaillierte Orientierungshilfe dazu, worum es bei dieser vielleicht am schwersten fassbaren aller Ideologien tatsächlich geht. Das Werk besteht aus zwei Teilen: Es beginnt mit einer Schilderung der Verbreitung von Maos Ideen im modernen China und verfolgt dann deren erstaunliche globale Ausbreitung an so weit entfernte Orte wie Paris und Peru.
Lovell zeigt, dass es keine einheitliche Version des „Maoismus“ gibt und dass er, wie andere Ideologien auch, oft angepasst wird, um lokalen Umständen Rechnung zu tragen. Trotzdem gibt es bestimmte Faktoren, die ihn unverwechselbar machen: die Betonung unablässiger politischer Mobilisierung, die Bereitschaft zum Einsatz und zur Verherrlichung von Gewalt, der Hass gegen den Imperialismus, ein fester Glaube an die marxistisch-leninistische Idee einer Avantgarde-Partei und die fixe Idee, dass „Widersprüche“ ein Zeichen sozialen Fortschritts seien (Maos „Widerspruchstheorie“ dient der Vereinfachung von Marx´ Ideen, um sie in der Praxis anwenden zu können).
Vor allem aber weist der Maoismus ein Maß an Flexibilität auf, das der Marxismus-Leninismus nie erreichen konnte. In Betonung dieses Punktes zitiert Lovell eine Beobachtung des französischen Journalisten Christophe Bourseiller: „Der Maoismus existiert nicht. Das tat er noch nie. Das ist ohne Zweifel die Erklärung für seinen Erfolg.“
Lovell verweist zudem auf eine der zentralen Anomalien des Maoismus. Für eine derart stramm chinesische Ideologie war er schon immer relativ stark von seiner Beziehung zur weiteren Welt abhängig. Er erreichte erstmals 1937 mit der Veröffentlichung „Roter Stern über China“ des Journalisten Edgar Snow ein globales Publikum. Snow präsentierte darin ein Bild Maos, das bis heute wirkungsstark bleibt. Er stellte Mao als eine Art bäuerischen, in einer Höhe lebenden Philosophen dar, und dieses Portrait wurde nie völlig durch das präzisere Bild eines politischen Genies abgelöst, das durch eine Mischung aus echter Leidenschaft und narzisstischer Bereitschaft zum Einsatz aller zum Erreichen seiner Ziele erforderlichen Mittel – einschließlich brutalster Gewalt – angetrieben wurde.
Dies erklärt die Kulturrevolution, die auf ihrem Höhepunkt ein Destillat von Maos Instinkt darstellte, seine Feinde völlig zu vernichten. Dieses Ziel erwies sich als viel wichtiger als alles, was dabei neu errichtet oder geschaffen wurde. Während einige Aspekte der Industriepolitik jener Zeit – darunter die Errichtung von Fabriken im Inland – Bestand hatten, dominierte das zerstörerische und nicht das schöpferische Element.
Entfesselter Maoismus: Der Schrecken der Roten Garden
Als früher Höhepunkt maoistischer Politik enthielt die Kulturrevolution „Widersprüche“, die noch immer nicht aufgelöst sind. In „Agents of Disorder“ („Handlanger des Chaos“) bemüht sich der Soziologe Andrew G. Walder, die Mythen über jene außergewöhnliche Zeit auszuräumen.
Die Kulturrevolution wird gemeinhin so beschrieben: An ihrem Anfang habe ein gewaltsamer Aufstand im Jahre 1966 gestanden, der in ein dreijähriges Stadium Anarchie ausartete. Erst Maos Einsatz der Armee im Jahr 1969 habe die Bewegung der Roten Garden aufs rechte Maß zurückgestutzt und zu einer Beruhigung der Lage geführt. Während der folgenden Jahrzehnte gingen viele davon aus, dass die radikalsten Elemente der Roten Garden, die die Macht auf den Straßen ergriffen hatten, junge Leute waren, denen man während der ersten Jahre von Maos Herrschaft den von ihnen erstrebten Status verweigert hatte. Diese „verdorbenen und enttäuschten Elemente“ hätten nur auf eine Gelegenheit zur Rebellion gewartet.
Walder zeigt, dass man viele dieser Annahmen hinterfragen sollte. So kam es nicht deshalb zur Gewalt, weil Chinas zentralisiertes System unter dem Ansturm einer anarchischen Bewegung zusammenbrach. Vielmehr ermöglichte erst die massive Zentralisierung Chinas unter Mao die effiziente Ausbreitung von Gewalt und Vergeltung durch das System. Tatsächlich erwies sich die Zeit nach 1969 – nach der Unterdrückung der Roten Garden – als viel gewaltsamer als das, was davor passiert war.
Walder stützt sich auf eine breite Vielzahl von Quellen, insbesondere ein sehr chinesisches Genre: das „Ortslexikon“, eine Art Kompendium lokaler Informationen, die es schon zu kaiserlichen Zeiten gab. Durch Einsatz dieser staatlichen Quellen ist der Autor in der Lage, die Aufmerksamkeit von der langjährigen Fixierung auf „große Charakterportraits“ und bunte Banner und Slogans („Zerschmettert dem Hund Chen Yi den Kopf!“) abzulenken, die die Kulturrevolution für Wissenschaftler früherer Zeiten so faszinierend und zugleich unerklärlich gemacht haben.
Statt diese Episode als Zusammenbruch des chinesischen Staats zu präsentieren, zeigt Walder, dass man sie am besten als Mutation (oder vielleicht Metastasierung) staatlicher Strukturen in neue Formen begreifen sollte. Dieser Prozess wurde durch Maos eigene Revolutionäre vorangetrieben, die die neue politische Lage nutzten, um persönliche Rechnungen zu begleichen und lokale Machtbeziehungen neu auszutarieren.
Nicht schwarz, nicht weiß, sondern grau: Mao in fünfzig Schattierungen
Eine andere Sicht des Lebens im China Maos findet sich in einem der ungewöhnlichsten und interessantesten Bücher der letzten Jahre über diese Ära: „Eight Outcasts“ („Acht Ausgestoßene“) von Yang Kuisong. Yang ist einer der angesehensten zeitgenössischen Historiker des modernen Chinas und immer bereit, einen skeptischen Blick auf die historische Orthodoxie des Staates zu werfen. Wie er in seiner Einleitung herausstellt, wurde er selbst in den letzten Tagen von Maos China verhaftet, was ihm einen persönlichen Einblick in die Behandlung „verdorbener Elemente“ durch das Regime verschaffte.
Doch enthält sein Buch keine bloßen Memoiren des Elends. Er schildert detailliert acht Fallstudien, basierend auf Personalakten aus den Archiven der Mao-Ära. Jeder seiner Protagonisten verstieß auf die eine oder andere Weise gegen Maos Edikte. Einer etwa hatte sich des Vergehens schuldig gemacht, in der Zeit vor 1949 Kontakte zu politisch problematischen Familien gepflegt zu haben; ein anderer war schlicht ein Arbeiter, der zu viel angab und nörgelte und somit einen Mangel an sozialistischer Begeisterung zeigte.
In all diesen Geschichten offenbart sich das Abbild nicht etwa eines allmächtigen totalitären Staates, sondern vielmehr eines repressiven Regimes, das sich häufig uneinig war, wie weit es bei seinen Repressionen gehen sollte. Bei manchen Gelegenheiten ließen lokale Parteikader die Dinge laufen oder bemühten sich, Menschen zu rehabilitieren, die sich anscheinend zum Besseren geändert hatten.
Insgesamt ist das Bild Chinas in den 1950er und 1960er Jahren eines mit vielen Grautönen. Die Beschränkungen der Freiheit waren während Maos Zeit an der Macht unbestreitbar ausgeprägter als in den Jahren zuvor oder danach. Dies galt sowohl für die Landarbeiter, denen es nicht länger gestattet war, ihre Agrarkollektive zu verlassen, als auch für die Intellektuellen, die es nicht wagten, ihre Meinung zur Parteipolitik zu äußern.
Doch während der Maoismus der Gesellschaft systematisch Beschränkungen auferlegte, fielen seine totalitären Ambitionen häufig den Ambiguitäten und Besonderheiten lokaler Entscheidungsfindung zum Opfer. Wie jemand das Regime erlebte, hing letztlich davon ab, wie kommunale Behördenvertreter die Richtlinien umsetzten und in welchem Maß sie bereit waren, die ihrer Macht unterworfenen Menschen auszubeuten. Yang lässt die Einzelheiten dieser Geschichten für sich selbst sprechen.
Yangs und Walders von Grautönen bestimmte historische Darstellungen legen nahe, dass die heutigen „Neomaoisten“ ihre eigene mythische Version des Maoismus propagieren und nicht den Maoismus, so wie er wirklich war. In ähnlicher Weise erfasst Lovell in ihren letzten Kapiteln die problematischsten Aspekte des Versuchs, neue ideologische Beschränkungen als Rückkehr des „Großen Vorsitzenden“ zu fassen – auch wenn Xi eifrig bestrebt ist, diesen Titel für sich zu beanspruchen. Mit begründeter Vorsicht bezeichnet sie das heutige China nicht als maoistisch, sondern als „Mao-isch“: Es ist ein Land, in dem der Name des mythischen Führers lediglich als Ausgangspunkt für alle möglichen außergewöhnlichen ideologischen Entscheidungen genutzt wird.
In dieser Welt kann sich ein Schriftsteller wie Han Deqiang auf einen Bauernhof zurückziehen, um eine Mischung aus thailändischem Buddhismus und maoistischem Gedankengut zu praktizieren, bei dem ein Lob auf den regelmäßigen Stuhlgang und ideologisch korrekte Einstellungen Hand in Hand gehen (Mao selbst zeigte eine lebenslange Fixierung auf den Stuhlgang und schlug im Laufe der Jahre eine ganze Palette von Analogien vor, die die Revolution mit einer erfolgreichen Darmentleerung verglichen.) In ähnlicher Weise hat es ein weiterer Denker, Zhang Chengzhi, geschafft, den Maoismus in ein Vehikel für eine unerwartete neue Art panislamischer Identität zu gießen, die sich für ein freies Palästina ausspricht.
Sein wie das Wasser: Mao und die Proteste in Hongkong
Diese beiden Beispiele sollten ausreichen, um zu zeigen, dass der Maoismus unendlich vielgestaltig bleibt; er bedeutet, was auch immer die Menschen in ihm sehen wollen. Und doch gibt es einen zentralen Glaubenssatz des klassischen Maoismus, der in Xis China völlig fehlt: die Mobilisierung der Bevölkerung. Mao selbst setzte starke Hoffnungen auf eine spontane Erhebung der Massen. Doch der einzige Ort, wo das in den letzten Jahren in der chinesisch sprechenden Welt passierte, ist Hongkong. Und die Ziele der dortigen Demokratiebewegung könnten von Maos eigenen gar nicht weiter entfernt sein.
Während eines großen Teils des Jahres 2019 wurden die öffentlichen Räume der Stadt von Menschen besetzt, die nicht etwa „Der Osten ist Rot“ sangen, sondern „Hörst du die Menschen singen?“ aus dem Musical „Les Misérables“, das auf dem Victor-Hugo-Roman „Die Elenden“ basiert. Und als die Behörden versuchten, nach unklugen politischen Entscheidungen einen Rückzieher zu machen, begegneten ihnen die Menschen nicht mit Kompromissen, sondern mit leidenschaftlichen, noch lautstärkeren Forderungen nach echter Demokratie. Wie die Protestierenden es formulierten: Sie hätten „fünf Forderungen, nicht eine weniger.“
Natürlich gab es auch nicht hinnehmbare Gewalt; im öffentlichen Nahverkehr und auf den Universitätsgeländen gab es Angriffe seitens einer kleinen Minderheit von Protestierenden, die Molotowcocktails warfen. Bei anderen Gelegenheiten wurden friedliche Demonstranten und unschuldige Passanten von Schlägern angegriffen, von denen viele annahmen, dass sie mit Establishment-nahen Politikern im Einvernehmen standen. Am wichtigsten jedoch war, dass die Bewegung keinen alleinigen Anführer hatte. Anders als die studentischen „Regenschirm“-Proteste des Jahres 2014 waren die Massendemonstrationen von 2019 eine echte Graswurzelbewegung.
Es wird viele Jahre dauern, eine umfassende soziologische und historische Darstellung der Protestbewegung von 2019 zu verfassen. In der Zwischenzeit können wir uns dem Buch „Mahnwache“ des Historikers Jeffrey Wasserstrom zuwenden, einem kurzen, aber brillanten ersten Entwurf einer derartigen Studie. Das Buch profitiert von Wasserstroms eigenen Begegnungen mit einigen bekannteren Teilnehmern der Bewegung, darunter Joshua Wong, der später wegen zivilen Ungehorsams inhaftiert wurde. Doch es zeigt auch, dass diese jungen Befürworter der Demokratie von Kräften außerhalb ihrer Kontrolle mitgerissen wurden.
Wasserstrom reflektiert über eine Formulierung, die die Demonstranten von einer anderen Figur übernahmen, die sich wie Mao von traditionellen chinesischen Erzählungen über Schwertkämpfer und Gesetzlose inspirieren ließ. Der Rat des Filmstars Bruce Lee, wie das Wasser zu sein, entwickelte sich zu einem Mantra der Proteste in Hongkong und – in neuerer Zeit – an Orten wie Weißrussland. Die dahinterstehende Vorstellung ist, dass Demonstrationen frei und unvorhersehbar verlaufen sollten statt nach einem detaillierten, durch eine rigide Hierarchie umgesetzten Plan.
Wie Wasserstrom zeigt, ist diese Metapher eng mit taoistischem Denken verknüpft und hat in China lange bestehende kulturelle Assoziationen. Nur indem sie diese tiefen chinesischen Wurzeln ignorieren, können die Zentralregierung in Peking und ihre Faktoten in Hongkong behaupten, dass die Proteste völlig von westlichen Vorstellungen beeinflusst seien. Tatsächlich hätte Mao angesichts der Wassermetapher womöglich zustimmend genickt, bedenkt man, dass er seine Partei als Fisch betrachtete, der in einem Meer von Menschen schwamm.
Maos Wunschbild der Kulturrevolution war das einer klassenübergreifenden Volksmobilisierung von unten zugunsten einer neuen Politik. Es ist daher zutiefst ironisch, dass die derzeitige Bewegung, die dieser Vision am nächsten kommt, sich Ziele zu eigen gemacht hat, die in völligem Widerspruch zu Maos eigenen stehen. Mao hätte die Forderungen der Hongkonger Demonstranten nach einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie gehasst. Doch die Struktur der Demonstrationen durch eine maoistische Brille zu betrachten ist nicht abwegig.
Hongkongs politische Führung betont ständig, dass die Stadt kein Außenposten des Westens sei; sie sei vielmehr chinesisch, und sei es schon immer gewesen. Von dieser Warte aus betrachtet lassen sich Hongkongs politische Bewegungen am besten in einem chinesischen Kontext verstehen, der vielen Gedankensträngen – vom Konfuzianismus und Marxismus bis zur freiheitlichen Demokratie – Rechnung trägt. All diese Kräfte sind im modernen China präsent und treiben den ständigen Gegendruck von Chinas Regionen gegen die Forderungen des Zentrums an.
Die von den Hongkonger Protesten ausgehende Gefahr ist, wie kluge Beobachter auf dem Festland vermutlich erkennen, nicht, dass sie von ausländischen Kräften angetrieben werden, sondern dass sie uneingeschränkt chinesisch sind. Die Geschichte des chinesischen Staates hat wiederholt gezeigt, dass sich spontane politische Bewegungen am schwersten kontrollieren lassen. Mao, der einmal angemerkt hat, dass „ein einziger Funken einen Steppenbrand auslösen kann“, war sich darüber völlig im Klaren.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Rana Mitter ist Professor für die Geschichte und Politik des modernen China an der Universität Oxford und Verfasser zahlreicher Bücher, darunter zuletzt “China’s Good War: How World War II Is Shaping a New Nationalism“ (Chinas guter Krieg: Wie der Zweite Weltkrieg einen neuen Nationalismus formt“).
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