Weltwirtschaft

Nord Stream 2: Deutschland gegen Polen, die Ukraine und das Baltikum

Lesezeit: 6 min
10.04.2021 17:52
Im Streit um das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 sind die Fronten verhärtet. Während Deutschland und Russland das Projekt fördern, werden sie von Gegenspielern attackiert.
Nord Stream 2: Deutschland gegen Polen, die Ukraine und das Baltikum
Von oben ist zu sehen, wie die Pipeline über die Ablauframpe des Verlegeschiffes Audacia geführt wird, um auf dem Meeresboden der deutschen Ostsee abgelegt zu werden. (Foto: © Nord Stream 2/Axel Schmidt)
Foto: Axel Schmidt

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Nord Stream 2 ist eine derzeit im Bau befindliche Pipeline von Russland nach Deutschland über die Ostsee. Die neue Pipeline wird neben der bereits gebauten Pipeline Nord Stream 1 verlaufen und die Menge des durch das Baltikum geleiteten Gases auf 110 Milliarden Kubikmeter pro Jahr verdoppeln. Die vorgeschlagene Route führt durch die Hoheitsgewässer und die AWZ (ausschließliche Wirtschaftszone) von drei weiteren Ländern: Finnland, Schweden und Dänemark.

Die Pipeline soll Europa eine nachhaltige Gasversorgung bieten, während Russland einen direkteren Zugang zum europäischen Gasmarkt erhält. Da die Spannungen zwischen Russland und dem Westen ihren höchsten Stand seit Jahrzehnten erreicht haben, stehen viele den rein wirtschaftlichen Überlegungen, die dem Projekt zugeschrieben werden, skeptisch gegenüber.

Deutschland befindet sich in einer prekären Lage. Öl und Gas sind das Lebenselixier der deutschen verarbeitenden Wirtschaft, aber das Land produziert im Inland nur sehr wenig Energie und ist für 98 Prozent seines Öls und 92 Prozent seiner Gasversorgung auf Importe angewiesen. So lag der russische Anteil der deutschen Ölimporte im Jahr 2015 bei 40 und der Gasimporte bei 35 Prozent.

Während die Bundesregierung den Standpunkt vertritt, dass es sich bei Nord Stream 2 um ein rein wirtschaftliches Projekt handeln würde, meinen die USA, Nord Stream 2 sei ein politisches Projekt, das den Einfluss Russlands auf Europa erweitern könnte. Doch die Gegnerschaft der USA dürfte auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass Russland mit Nord Stream 2 und TurkStream die Ukraine als Transitland für russisches Gas umgehen würde.

Seit ihrer Unabhängigkeit am Ende des Kalten Krieges ist die Ukraine Russlands „Pförtner“ für den europäischen Gasmarkt. Ab 2017 wurden etwa 40 Prozent der gesamten europäischen Gasversorgung durch russische Unternehmen über die Ukraine abgewickelt. Durch die Transitgebühren nimmt Kiew jährlich etwa zwei bis drei Milliarden US-Dollar ein. Durch die Beendigung des Gastransits könnte das BIP der Ukraine um bis zu drei Prozent gesenkt werden, was aus westlicher Sicht nicht wünschenswert wäre, zumal massive Investitionen in die Landwirtschaft des Landes dringend erforderlich sind. Der Ukraine gehört ein Drittel der „schwarzen Erde“, die als der weltweit beste Boden gilt. Als größter Staat in Europa verfügt die Ukraine über eine sehr große Anbaufläche. Es liegt im US-amerikanischen Interesse, dass das Land eine wichtige Grundlage für westliche Agrar-Investoren schafft, was jedoch direkt von den Einnahmen des Landes abhängt, die sie unter anderem über die Transitgebühren erhält.

Während sich die Diskussion um Nord Stream 2 ausschließlich auf die Gas-Problematik beschränkt, wird ein weiterer wichtiger Punkt übersehen. Denn das Projekt beflügelt schließlich auch die Streitigkeiten innerhalb der EU. In gewisser Weise treibt sie die Fragmentierung der EU voran, weil die verschiedenen EU-Staaten das Projekt aus geopolitischen Gründen anders bewerten. Polen und die baltischen Staaten sind aus sicherheitspolitischen Gründen strikt gegen den Bau von Nord Stream 2. Sie sind loyale Verbündete der USA und teilen die Linie der US-Regierung im Zusammenhang mit Politik der Eindämmung Russlands.

Doch Polen hat auch ein energiepolitisches Eigeninteresse. Es möchte seine Rolle im Rahmen des europäischen Energieprojekts „Northern Gas Corridor“ untermauern. Einen wichtigen Baustein bildet hierbei das „Baltic Pipe Projekt“. „Das Baltic Pipe Projekt ist ein strategisches Infrastrukturprojekt, mit dem Ziel im europäischen Markt einen neuen Gasversorgungskorridor zu schaffen. Es wird den Transport von Gas aus Norwegen zu den Märkten in Dänemark und Polen sowie zu den Endverbrauchern in benachbarten EU-Ländern ermöglichen. Gleichzeitig kann durch das „Baltic Pipe Projekt“ Gas aus Polen nach Dänemark geliefert werden. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem dänischen Gas- und Strom-Übertragungsnetzbetreiber Energinet und dem polnischen Gas-Übertragungsnetzbetreiber GAZ-SYSTEM S.A. entwickelt“, wird auf der Webseite „Baltic Pipe Project“ mitgeteilt.

Der polnische Energie-Riese PGNiG hat bereits für einen Zeitraum von 15 Jahren (vom 01.10.2022 bis 30.09.2037) die Transportkapazität der Pipeline von acht Milliarden Kubikmeter pro Jahr bei einer Auktion erworben und eine Zahlung von umgerechnet 1,79 Milliarden Euro an das Konsortium der Gaspipeline-Betreiber zugesichert.

Pawl Poprawa, Experte an der AGH-Universität für Wissenschaft und Technologie in Krakau, stellte in Bezug auf die Aussichten der Gasförderung in Norwegen fest, dass PGNiG ab 2022 in Norwegen jährlich etwa 2,5 Milliarden Kubikmeter Eigengas produzieren wird. Die restlichen 7,5 Milliarden Kubikmeter werden von anderen norwegischen Gasproduzenten gekauft.

Polen möchte selbstständig als europäisches Energiedrehkreuz auftreten, weshalb Nord Stream 2 eine Konkurrenz zu den Ambitionen Warschaus darstellt. Radio Poland hatte zuvor berichtet: „Die Nord-Stream 2-Pipeline sorgt in Polen weiterhin für große Verunsicherung und Kritik. Die Ostseepipeline, durch die russisches Erdgas nach Deutschland transportiert wird, untergräbt nach Ansicht vieler polnischer Politiker die Energiesicherheit Polens. Wie die Tageszeitung Gazeta Wyborcza heute berichtet, nimmt daher das Projekt einer alternativen Pipeline durch die Ostsee immer konkretere Formen an.“

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und der polnische Außenminister Zbigniew Rau hatten im Februar 2021 von US-Präsident Joe Biden gefordert, die Fertigstellung der Nord Stream 2-Gaspipeline von Russland nach Deutschland zu verhindern, die sie als „gefährliches, spaltendes Projekt“ bezeichnen.

„Polen und die Ukraine haben lange vor den Gefahren gewarnt, die mit dem Bau von Nord Stream 2 verbunden sind. Unsere Forderungen nach Wachsamkeit und Kühnheit wurden im US-Kongress gehört. Dieser hat Maßnahmen ergriffen, um dieses gefährliche, spaltende Projekt zu stoppen. Wir fordern US-Präsident Joe Biden auf, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Abschluss des Projekts zu verhindern“, so Kuleba und Rau in einem gemeinsamen Artikel, der am 22. Februar 2021 in der Zeitung „Politico“ veröffentlicht wurde.

Weiterhin führten die beiden Vertreter aus: „In dieser Frage sind die USA weiterhin von entscheidender Bedeutung. Sie müssen Behauptungen zurückweisen, wonach Nord Stream 2 zu groß geworden ist, um zu scheitern, und dass es deshalb fertiggestellt werden muss. Wenn das Projekt Erfolg haben sollte, könnte Russland versuchen, die ukrainische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Westen sich nicht um seine eigenen Prinzipien und letztendlich um die Sicherheit und den Wohlstand der Ukraine kümmert.“

Bei Nord Stream 2 gehe es „nicht um die Energiesicherheit Deutschlands, unseres engen Verbündeten und Partners“, zitiert Radio Free Europe/Radio Liberty die beiden Staatsmänner. „Wir respektieren das Recht Deutschlands, seinen Standpunkt zu vertreten. Wir sind jedoch auch der festen Überzeugung, dass solche Projekte nicht eng durch die Linse der bilateralen Beziehungen betrachtet werden können, sondern aus einer breiteren Perspektive der Interessen und der Sicherheit Europas betrachtet werden sollten“, so die Vertreter aus Polen und der Ukraine.

Russland sieht die Einmischung der USA in das Nord Stream 2-Projekt kritisch. „Die USA erklären ständig, dass Wirtschaft und Energie nicht politisiert werden dürfen. Das US-Außenministerium gab zu, dass die USA die Grundprinzipien des Freihandels und des Wettbewerbs untergraben, indem sie die Gesetze des Marktes ihren eigenen geopolitischen Interessen unterordnen und gegen den Willen souveräner Länder und gegen die Interessen der Bürger unabhängiger Staaten handeln“, teilte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Zacharowa, am 21. Februar 2021 mit.

Am 22. Februar 2021 wurde vom US-Außenministerium verkündet, dass inzwischen mindestens 18 europäische Unternehmen ihre Teilnahme an dem umstrittenen Projekt beendet oder ihren Rückzug zugesichert hätten. Es handelt sich dabei unter anderem um den Industriedienstleister Bilfinger und den zur Münchener Rück gehörenden Versicherer Munich Re Syndicate Limited.

Deutschland stellt sich vehement gegen einen Stopp des Projekts. „Die EU-Länder haben sich auf neue Sanktionen gegen Russland geeinigt. Die Frage ist nur, wie viel Eindruck das Paket in Moskau macht, aber die EU will nicht tatenlos zusehen, wie der führende Oppositionelle Alexej Nawalny ins Gefängnis geworfen wird. (...) Das Zurückdrehen der Gaspipeline Nord Stream 2, die russisches Gas nach Deutschland bringt und kurz vor der Fertigstellung steht, gilt noch immer als ein Schritt zu weit. Deutschland ist wegen seiner Abhängigkeit von russischem Gas vehement dagegen. Die Niederlande betrachten es als ein kommerzielles Projekt, an dem sich die Regierung lieber nicht die Finger verbrennen möchte. Außerdem werden auch die Niederlande durch das Einstellen der Gasförderungen in Groningen noch abhängiger von russischem Gas werden“, so die niederländische Zeitung „De Telegraaf“.

Wie der Disput um Nord Stream 2 ausgehen wird, wird sich zeigen lassen. Doch der Druck Washingtons auf Berlin steigt und wird offenbar noch weiter zunehmen.

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Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.



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