Wie fast alle Länder der Welt wurde auch Russland von der Corona-Rezession hart getroffen, sodass seine Wirtschaft im letzten Jahr um etwa drei Prozent zurückging. Prognosen von IWF und Weltbank zufolge wird sich die russische Wirtschaft in diesem Jahr jedoch deutlich erholen und um mehr als vier Prozent wachsen.
Armes Russland
Das ist auch bitter nötig. Die Wachstumszahlen waren bereits vor der Pandemie seit geraumer Zeit unbefriedigend – zumindest aus der Perspektive eines aufstrebenden Schwellenlandes. Schaut man sich die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seit 2012 – also dem Beginn der zweiten Amtszeit Putins als Staatspräsident – an, fällt auf, dass es auch nach der zwischenzeitlichen Wirtschaftskrise (2014 bis 2016) nur sehr schleppend wieder aufwärts ging.
Betrachtet man das gesamte letzte Jahrzehnt, so ist der Lebensstandard der Russen nicht gestiegen, sondern sogar gefallen. Verglichen mit 2011 ist das reale verfügbare Einkommen um circa zehn Prozent gesunken. Russland ist nach wie vor ein relativ armes Land – trotz seiner enormen Rohstoff-Reserven.
Dass es viel besser geht, zeigt der Vergleich mit anderen Schwellenländern, allen voran China. Das Reich der Mitte befindet sich mit einem Pro-Kopf-Einkommen von circa 10.300 Dollar zwar noch nicht ganz auf dem Niveau von Russland (11.500 Dollar), wächst dafür aber sehr viel stärker. Und während China in den letzten Jahren zunehmend zu den USA aufschließt und sie in wenigen Jahren als Weltwirtschaftsmacht Nummer Eins ablösen dürfte, strauchelt die russische Wirtschaft schon seit Jahren. Russland braucht mehr Wachstum, aber es ist unklar, woher es kommen soll.
Auf der Habenseite: Grundsolide Bilanzen
Dabei hat Russland grundsätzlich gute Voraussetzungen, um einen ökonomischen Aufschwung zu erleben. So verfügt das Land über riesige Rohstoff-Vorkommen. Weiterhin sind die Staatsfinanzen sehr solide - die Staatsverschuldung beläuft sich auf lediglich 18 Prozent der Wirtschaftsleistung. Von solchen Werten kann man in Deutschland (71 Prozent), China (65 Prozent) oder den USA (132 Prozent) nur träumen. Haushalts-Defizite belaufen sich – wenn überhaupt vorhanden – stets im niedrigen einstelligen Prozentbereich des BIP.
Auch in der Coronakrise zeigt man sich bisher recht sparsam. Die Corona-bedingten Staatsausgaben betrugen letztes Jahr insgesamt 2,86 Billionen Rubel (32 Milliarden Euro) beziehungsweise etwa 2,7 Prozent des BIP. Es gab kaum Hilfszahlungen für in Not geratene Unternehmen. Im Zweifelsfall setzt man die Mittel lieber investiv ein, wobei die Regierung vorwiegend Infrastrukturprojekte (unter anderem Eisenbahnstrecken, Pipelines, Explorationsprojekte und Kraftwerke) unterstützt.
Infolgedessen sind Staatsquote und Steuerlast im Vergleich zu anderen Industrie- und Schwellenländern ausgesprochen niedrig. Russland verfügt außerdem über einen ansehnlichen Vorrat an Devisenreserven in Höhe von 573 Milliarden Dollar sowie einen über 180 Milliarden Dollar schweren Staatsfonds. Insgesamt ist das eine gute Basis, um nachhaltiges – das heißt nicht auf Schulden angewiesenes – Wirtschafswachstum zu erzielen.
Wo soll das Wachstum herkommen?
Woran scheitert es also? Eins ist glasklar: Russland ist immer noch äußerst abhängig von Öl und Gas, direkt und indirekt. Die Branche der großen Ölmultis (Gazprom, Rosneft und Co.) inklusive der damit verbundenen Dienstleister steht für rund ein Drittel der nationalen Wertschöpfung (wobei diese Kennzahl recht stark variiert, je nach den Preisen der fossilen Brennstoffe) und ist der produktivste Sektor der gesamten Wirtschaft.
Russland ist traditionell ein bedeutender Akteur im globalen Erdölmarkt – so bedeutend, dass man sich engstens mit den OPEC-Ländern, allen voran Saudi-Arabien, über die Produktionsmengen abstimmt. Das Ziel dabei ist es, die Preise auf Niveaus zu stabilisieren, welche den großen Produzentenländern Staatseinnahmen sichert und Investitionssicherheit ermöglicht. Das ist allerdings ein zweischneidiges Schwert, weil ein geringeres Absatzvolumen zu einem höheren Preis keine Garantie für höhere Gesamt-Einnahmen ist.
Dennoch ist es aus russischer Sicht aber logisch, die Ölpreise zumindest so hoch zu halten, dass die Produzenten noch Gewinne erwirtschaften und der Staatshaushalt einigermaßen gesund ist. Das war in der Vergangenheit meistens der Fall. Die Kosten der Ölförderung in Russland werden auf durchschnittlich rund 40 Dollar je Barrel (159 Liter) geschätzt. Zum Vergleich: In Saudi-Arabien betragen die Kosten etwa 20 Dollar. In den USA sollen die durchschnittlichen Förderkosten dagegen deutlich höher sein. Stichwort USA: Die dortigen Schieferöl-Förderer operieren als Gesamtsektor im Kontrast zu den russischen Ölfirmen durchschnittlich hoch defizitär. Nach der Wahl von Biden ist ihre Zukunft ohnehin ungewiss, denn schärfere Regulierungen sowie der „New Green Deal“ könnten die US-Schieferölbranche drastisch schrumpfen lassen. Das wäre wiederum gut für Russland, weil dann das Angebot auf den Weltmärkten deutlich sinken würde, und die Ölpreise weiteren Auftrieb bekämen.
Die Führung Russlands setzt mittlerweile immer mehr auf Erdgas, ein Bereich, in dem man sich ein höheres Wachstumspotential verspricht. Sie hat neue Pipelines von Sibirien nach China gebaut, mit China langjährige Kontrakte bezüglich der Lieferung von Erdgas abgeschlossen und sich somit einen neuen und nachhaltigen Wachstumsmarkt für die Gaslieferungen erschlossen. Zusätzlich soll Nordstream-2 weitere Wachstumsmärkte in Westeuropa sichern.
Für bedeutende Produzenten von Erdgas gilt allerdings dasselbe wie für allzu exponierte Erdöl-Hersteller: Wenn die Preise fossiler Brennstoffe einbrechen, ist das für die Wirtschaft immer eine mittlere Katastrophe. Der Einbruch der Öl- und Gaspreise am Weltmarkt seit 2014 bis 2020 erklärt deshalb auch einen erheblichen Teil des gesamtwirtschaftlichen Wachstums-Einbruchs in Russland. Genauso wie übrigens die Explosion der Öl- und Gaspreise in den 2000er (Nuller-) Jahren die hohen Wachstumsraten begünstigt hatte. Derzeit stimmt die aktuelle Entwicklung der Ölpreise - zumindest vorsichtig - optimistisch für die Zukunft.
Jüngst hat die Putin-Regierung darüber hinaus eine Wasserstoff-Offensive angekündigt. Man wolle bis 2035 zum weltweit führenden Produzenten und Exporteur von Wasserstoff werden. Russland könnte auf diesem Wege zwar sein Energie-Portfolio diversifizieren, wäre aber nach wie vor zu abhängig vom Energiesektor, das heißt von der Weltnachfrage und den Preisen von bestimmten Energieträgern. Ob die ambitionierten Pläne sinnvoll sind, ist daher durchaus fraglich, zumal es keineswegs sicher ist, dass sich Wasserstoff wirklich durchsetzt. Andererseits würde Russlands Wirtschaft ohne diese Diversifikation noch mehr unter der zunehmenden Abkehr großer Abnehmerländern von fossilen Brennstoffen leiden.
Russland muss zu einem attraktiveren Standort werden
Russland besitzt bereits einen nicht zu unterschätzenden IT-Sektor und eine recht große Chemie-Industrie. Beide Sektoren profitierten von der Coronakrise und sind generell attraktive Wachstumsmärkte der Zukunft. Dass diese Branchen kräftig wachsen, dürfte also im Interesse des Kremls sein.
Ein weiterer Lichtblick ist die Landwirtschaft. Russland hat sich in der jüngsten Vergangenheit im globalen Vergleich zu einem bedeutenden Produzenten von Getreide entwickelt. Der Agrarsektor generiert aber lediglich fünf Prozent der Wirtschaftsleistung. Gleichzeitig besteht Aufholbedarf in der allgemeinen Modernisierung und Digitalisierung der Firmenlandschaft.
Anstatt aggressiv auf Wasserstoff zu setzen, wäre die Regierung also womöglich besser beraten, mit ihrer Industriepolitik strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der russischen Unternehmen nachhaltig steigen. Außerdem sollte man die Standort-Attraktivität nicht außer Acht lassen. Zwischen 2014 und 2019 lagen Russlands jährliche Nettozuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen im Schnitt bei nur rund 1,5 Prozent des BIP.
In einem ersten Schritt gälte es, die Korruption einzudämmen. In der aktuellsten Version des vom Fraser-Instituts veröffentlichten „Economic Freedom of the World Index“ – in dem Ländern anhand verschiedener Kriterien (Staatsquote, Rechtssystem, Geldwert-Stabilität, Handelsfreiheit, Regulierung) ein Wert für die wirtschaftliche Freiheit der Bürger zugeordnet wird – landet Russland auf Platz 89. Damit steht man unter anderem hinter Honduras, Katar, Kenia und Libanon. Der Hauptgrund für die schlechte Bewertung sind gravierende Defizite beim Schutz von Eigentumsrechten. Das Problem ist, dass Korruption und staatliche Willkür ein integraler Bestandteil des politischen und wirtschaftlichen Systems sind. Es gibt wenig Anzeichen, dass das Putin-Regime davon abkehren wird.
Indirekte Wirkung von niedrigen Energiepreisen auf die Binnenwirtschaft
Niedrige Energiepreise haben einen doppelten Effekt auf die russische Binnenkonjunktur. Wie in anderen großen Produzentenländern wird der Staatshaushalt primär von Steuerzahlungen der nationalen Energieriesen getragen. Sinken diese, werden die Staatsausgaben angepasst beziehungsweise gebremst. So hat die russische Regierung das Pensionsalter angehoben, was sehr unpopulär und für viele Russen und Russinnen schwerwiegend ist. Russland will nach den chaotischen Erfahrungen der 1990er Jahre unter keinen Umständen in Budgetdefizite und in das Risiko einer ausufernden Staatsverschuldung kommen.
Der obige Staatsausgaben-Effekt wird durch das Währungsregime gemildert. Anders als andere große Produzentenländer, etwa die meisten OPEC-Länder, hat Russland seine Währung nicht fix an den US-Dollar gebunden. Vielmehr betreibt die Zentralbank gekonnt eine Politik des kontrollierten Floatens (englisch „managed float“). Sie steuert den Wechselkurs so, dass die Ertragsbilanz-Überschüsse und die Staatseinnahmen stabilisiert werden, wo auch immer der Erdölpreis liegt. In Zeiten der fallenden Energiepreise lässt sie den Rubel an den Devisenmärkten gegenüber dem Dollar und Euro absinken. Bei steigenden Erdölpreisen lässt sie einen festeren Rubel zu. Dies deshalb, weil die Einnahmen aus den Energie- und anderen Rohstoff-Exporten in Dollar und zu einem kleineren Teil in Euro anfallen, die Kosten der Produktion aber in Rubel. Wenn die Energiepreise einbrechen, fällt auch der Rubel und der Rückgang der Export-Einnahmen ist zwar in Fremdwährung drastisch, in Rubel gerechnet aber sehr stark gedämpft.
Aktuell notiert die Währung bei rund 75 Rubel je Dollar.
Die Kehrseite dieser Währungspolitik ist, dass die vom letzten Jahrzehnt gebeutelte Bevölkerung Russlands zunehmend unter erhöhter Inflation zu leiden hat. Die Dauerschwäche des Rubel nagt genauso wie die daraus resultierende Inflation direkt an der Kaufkraft der Bürger. Die Preise zogen zuletzt merklich an, im März betrug die Inflationsrate 5,8 Prozent. Im Kampf gegen die hartnäckig hohe Inflation und den schwachen Rubel hat die Zentralbank die Zinsen jüngst von 4,25 auf 4,5 Prozent heraufgesetzt. Kontinuierlich hohe Inflationsraten höhlen die Kaufkraft der privaten Haushalte aus und sorgen dafür, dass nicht nur der Energiesektor, sondern neben den Staatsausgaben auch der private Konsum und damit die Binnenwirtschaft insgesamt von den Erdölpreisen gedrückt werden.
Die Nebenwirkungen der Wirtschaftspolitik und ihre politischen Folgen
Präsident Putin prangerte zuletzt insbesondere die Verteuerung von Lebensmitteln an und hat bereits Gegenmaßnahmen eingeleitet. Über eine Verdoppelung der Exportsteuern soll der Getreide-Export beschränkt und damit die inländischen Preise stabilisiert werden. Wirtschaftsexperten und Landwirte warnen hingegen, dass die Regierung damit eine der wenigen Erfolgsbranchen ausbremst.
Die Währungsschwäche und damit verbunden die Inflation und der Kaufkraftverlust der privaten Haushalte sind das Spiegelbild der – politisch erwünschten – Politik des schwachen Rubels angesichts der niedrigen Erdölpreise. Russland beziehungsweise das Regime von Präsident Putin leiden unter dem Trauma des Staatsbankrotts von 1998 einerseits, und den unverhohlenen Sanktionen der USA und westlicher Länder andererseits. Sie wollen um jeden Preis eine Zahlungsbilanz-Krise und jegliche Abhängigkeit von Kapital-Importen aus westlichen Ländern vermeiden. Am Primat des Energiesektors soll nicht gerüttelt werden, weil er den Schlüssel für die Staatsfinanzen sowie die wirtschaftliche und politische Macht des Regimes darstellt.
Die Politik der Suppression der privaten Einkommen und des Konsums hat umgekehrt eine weitere innen- und außenpolitische Dimension. Sie hat zu großer Unzufriedenheit der sonst stoisch leidgewohnten Bevölkerung geführt. Das erklärt auch die außerordentliche Härte, mit der das Regime in Fällen wie dem Oppositionellen Nawalny operiert, der die Korruption von Regime-Exponenten wirksam angeprangert hat. Diese Repression isoliert das Regime international, und verlängert Sanktionen und die Konfrontation. Der Einfluss von Hardlinern der Neokons auch in der neuen Administration Biden heizt diese Spirale zusätzlich an – eine ungute Entwicklung, die rasch in einen neuen geopolitischen Konflikt eskalieren könnte.