Finanzen

Inflation in der Türkei außer Kontrolle - Erdogan feuert Chef der Statistikbehörde

Die ohnehin starke Entwertung der Landeswährung hat sich im Januar beträchtlich beschleunigt. Einen „Schuldigen“ für die Misere hat Präsident Erdogan schon gefunden.
03.02.2022 10:01
Aktualisiert: 03.02.2022 10:01
Lesezeit: 2 min

Die Inflation in der Türkei hat sich von einem extrem hohen Niveau aus weiter beschleunigt. Die Verbraucherpreise seien im Januar gegenüber dem Vorjahresmonat um 48,7 Prozent gestiegen, teilte das nationale Statistikamt am Donnerstag in Ankara mit. Im Vormonat hatte der Anstieg 36 Prozent betragen. Analysten hatten für Januar mit einer Rate von im Schnitt 46,7 Prozent gerechnet.

Besonders beunruhigend: Im Monatsvergleich zu Dezember erhöhten sich die Verbraucherpreise ebenfalls stark um 11,1 Prozent.

Die hohe Teuerung ist vorwiegend Folge der schwachen Lira, da sie Einfuhren verteuert. Nach einem dramatischen Sinkflug 2021 ist der türkischen Regierung mittlerweile eine Stabilisierung der Landeswährung gelungen, indem sie für Verluste aus Währungsschwankungen unter bestimmten Bedingungen einspringt. An der lockeren Ausrichtung der türkischen Geldpolitik, laut Experten die Hauptursache der schwachen Lira, hat sich bisher aber nichts geändert. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist erklärter Gegner hoher Zinsen, die von Ökonomen als Mittel gegen hohe Inflation empfohlen werden.

Wie stark sich der Preisanstieg importierter Güter in die Türkei auswirkt, zeigt unter anderem die Entwicklung der Erzeugerpreise. Die Preise, die Produzenten für ihre Waren verlangen, legten im Januar um 93,5 Prozent im Jahresvergleich zu. Die Erzeugerpreise dürften mit einer Verzögerung zumindest teilweise auf die Verbraucherpreise durchschlagen.

Erdogan findet „Schuldigen“

Im Vorfeld der Veröffentlichung der extrem hohen Inflationsdaten hatte Erdogan den Leiter der nationalen Statistikbehörde entlassen. Erdogan ernannte am Samstag den früheren Vize-Chef der türkischen Bankenaufsicht, Erhan Cetinkaya, zum Nachfolger des bisherigen Behördenchefs Sait Erdal Dincer.

Erdogan nannte keinen Grund für die Entlassung Dincers, die 18 Monate vor der nächsten Präsidentschaftswahl erfolgte. Dincer war Anfang Januar in die Kritik geraten, nachdem seine Behörde einen Anstieg der Inflationsrate um gut 36 Prozent im Vorjahresvergleich bekanntgegeben hatte. Dies war der höchste Wert seit mehr als 19 Jahren. Bereits im November 2021 hatte die Inflationsrate rund 21 Prozent erreicht.

Nach der Installation eines Erdogan-treuen Statistikers an der Spitze der Behörde ist die Wahrscheinlichkeit beträchtlich gestiegen, dass sich die Geldentwertung in den kommenden Monaten „wie von Zauberhand“ schrittweise wieder abschwächen wird. In einem am Donnerstag veröffentlichten Interview mit der japanischen Wirtschaftszeitung Nikkei sagte der türkische Finanzminister Nureddin Nebati, dass er den Höhepunkt des Preisanstiegs im April erwartet. Seiner Einschätzung nach dürfte die Inflationsrate dabei nicht über die Marke von 50 Prozent steigen.

Ein von der dpa befragter Analyst der Commerzbank verwies explizit auf den kürzlich erfolgten Wechsel an der Spitze des türkischen Statistikamtes. Am Markt gebe es mittlerweile die Sorge, dass die personelle Veränderung Konsequenzen für die Zuverlässigkeit künftiger Konjunkturdaten aus der Türkei haben könnte. „Dieser Cocktail aus wenig glaubwürdiger Geldpolitik, Irrungen und Wirrungen der Zentralbank und Dazwischengrätschen der Regierung ist ein alter Bekannter und dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später die nächste Lira-Krise auslösen“, warnte Ghose.

Angesichts der hohen Inflation wächst auch der Unmut bei den Menschen: Seit Tagen streiken in der Türkei Mitarbeiter mehrerer Unternehmen, darunter solche des Online-Shops Hepsiburada oder dem Lieferdienst Yemeksepeti. Unter anderem legten Kurierfahrer ihre Arbeit nieder. Sie forderten höhere Löhne angesichts der krassen Preissteigerungen etwa bei Lebensmitteln und Energie.

In der Türkei gebe es Tausende Universitätsabsolventen, die mehrere Sprachen sprechen und als Kurierfahrer arbeiteten, weil sie sonst keine Arbeit fänden, sagte Ali Riza Kücükosmanoglu, Chef der Speditionsgewerkschaft Nakliyat-Is, der Deutschen Presse-Agentur. Die Jugendarbeitslosigkeit lag nach offiziellen Angaben im November bei mehr als 22 Prozent. Die Gewerkschaft geht aber von einer noch höheren Zahl aus.

Am Devisenmarkt geriet die türkische Lira nach der Veröffentlichung der Inflationsdaten unter Druck. Allerdings hielten sich die Kursverluste im Handel mit dem US-Dollar und dem Euro in Grenzen und betrugen jeweils weniger als ein Prozent.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis-Prognose: Experten sehen weiterhin Potenzial am Markt
30.11.2025

Die Entwicklung am Goldmarkt sorgt derzeit für besondere Aufmerksamkeit, da viele Anleger Orientierung in einem zunehmend unsicheren...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europas Start-ups: Talente ziehen lieber in die USA statt nach Europa
30.11.2025

Immer mehr europäische Start-ups verlagern ihre Aktivitäten in die USA, um dort leichter an Risikokapital zu gelangen. Kann Europa durch...

DWN
Politik
Politik Militärischer Schengen-Raum: Wie die EU die Truppenmobilität beschleunigen will
30.11.2025

Die sicherheitspolitischen Spannungen in Europa erhöhen den Druck auf die EU, ihre militärische Handlungsfähigkeit neu auszurichten. Wie...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Digital Champions: Das sind die neuen deutschen Tech-Vorbilder
30.11.2025

Von Leipzig bis Heidelberg entsteht eine Generation von Startups, die KI-Forschung in Markterfolg übersetzt. Digitale Champions wie Aleph...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft KI-Blase durch steigende Investitionen: Wie EU und deutsche Wirtschaft betroffen sind
30.11.2025

Die rasanten Investitionen in künstliche Intelligenz lassen Experten vor einer möglichen KI-Blase warnen. Droht diese Entwicklung, die...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europas Rüstungsindustrie im Aufschwung: USA profitieren von der Aufrüstung
30.11.2025

Europa versteht sich gern als Friedensmacht, die auf Diplomatie und Werte setzt, während in ihrem Inneren eine hochdynamische Sicherheits-...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Russland übernimmt ausländische Markenrechte: Mehr als 300 Brands gefährdet
30.11.2025

Ausländische Marken geraten in Russland zunehmend unter Druck, seit viele Unternehmen ihre Aktivitäten im Land eingestellt haben. Wie...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europa im Schuldenstrudel: Warum die alten Mächte wanken und der Süden aufsteigt
29.11.2025

Europa war lange in zwei Gruppen geteilt. Es gab die Staaten mit fiskalischer Disziplin, angeführt von Deutschland, und die...