Der Welthandel hat mit den ökonomischen Folgen des russischen Einmarschs in die Ukraine zu kämpfen. Darauf weist das jüngste Daten-Update des Kiel Trade Indicators des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) hin. Anhand der Auswertung von Schiffsbewegungsdaten in Echtzeit schätzt der Indikator die Handelsflüsse, also Im- und Exporte, von 75 Ländern und Regionen weltweit, sowie des Welthandels im Allgemeinen. Ein am IfW Kiel programmierter Algorithmus wertet die Schätzungen unter Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz dann aus und übersetzt die Daten so "in reale, saisonbereinigte Wachstumswerte gegenüber dem Vormonat", wie es auf der Website des IfW heißt.
Insgesamt dürfte der Welthandel laut dem Kiel Trade Indicator im Vergleich zum Vormonat jedenfalls um 2,8 Prozent zurückgehen. Der für den Februar prognostizierte Einbruch verschiebe sich in den März. Vincent Stamer, Leiter des Kiel Trade Indicators erklärt dazu: "Die angespannte Lage in der Weltwirtschaft und zunehmende Schwankungen im Containerschiffnetzwerk werden im Kiel Trade Indicator durch fast ausschließlich negative Vorzeichen sichtbar. Reale Verwerfungen durch die Invasion Russlands in der Ukraine und die Sanktionen des Westens sowie eine hohe Unsicherheit der Firmen mit Beziehungen zu Russland werfen den Märzhandel spürbar zurück."
Russland und die Ukraine im freien Fall
Der russischen Volkswirtschaft diagnostiziert der Kiel Trade Indicator "einen weiter fallenden Handel". So seien die russischen Exporte um 5 Prozent und die russischen Importe um fast das doppelte gesunken. An den drei größten russischen Häfen – St. Petersburg, Wladiwostok und Novorossiysk – würde inzwischen sogar nur noch die Hälfte der sonst üblichen Menge an Containerfrachtern verkehren.
"Die Sanktionen des Westens", betont Stamer, "zeigen ganz offenbar Wirkung, und die russische Bevölkerung sieht sich einem immer knapper werdenden Warenangebot gegenüber. Europas Unternehmen und Reedereien schränken offensichtlich den Transport über den Seeweg ein." Gleiches dürfe für den Handel über den wichtigeren Straßenverkehr gelten, was den starken Rückgang bei Russlands Importen erkläre.
Am stärksten leidet der ukrainische Handel unter der aktuellen Lage. Die Ukraine, so heißt es in einer Pressemitteilung des IfW, sei "praktisch vom internationalen Seehandel abgeschnitten." Den wichtigsten Hafen des Landes, Odessa am schwarzen Meer, habe seit Kriegsausbruch kein größeres Containerschiff mehr angelaufen.
Deutschland und die EU schwächeln, China bleibt stabil
In Deutschland dürften die Exporte laut dem Kiel Trade Indicator im Vergleich zum Februar um 3,7 Prozent sinken, die Importe um 3,2 Prozent. Auch in der EU ist auf Seiten der Exporte ein Minus von 5,6 Prozent zu verzeichnen. Die Importe hingegen gingen um 3,4 Prozent zurück, In den USA sind vor allem die Exporte betroffen: Um 3,4 Prozent sind diese gefallen, während die Importe nur um 0,6 Prozent zurückgegangen sind.
Für China stehen die Signale laut dem Kiel Trade Indicator wiederum auf Stagnation. Dank einer Zunahme an Importen von 0,9 Prozent und einer Abnahme von Exporten um 0,9 Prozent stehe China zurzeit mit einer schwarzen und einer roten Null da. Der aktuelle Lockdown in Schanghai, wo vor allem Elektronikartikel für den Export produziert werden, schlägt sich, so Stamer, jedoch "noch nicht klar in den Handelszahlen für März nieder". Wohl auch deshalb, weil man den örtlichen Hafen dort nach wie vor weiterbetreibe.
"Künftige Verwerfungen in Chinas Handel", warnt Stamer, "sind damit aber keineswegs vom Tisch, auch weil die Omikron-Variante des Corona-Virus nach wie vor grassiert." Besorgniserregend sei zudem der deutliche Anstieg des weltweiten Containerschiffstaus, der auch auf Lockdowns in China zurückgeführt werden könne. So steckten derzeit etwa 12 Prozent aller weltweit verschifften Waren fest. Im vergangenen Jahr, ergänzt Stamer, hätte der Wert nur in zwei Monaten höher gelegen.
Anzeichen einer "Deglobalisierung"?
Die Daten des Kiel Trade Indicators harmonieren dabei durchaus mit den Aussagen des Vorsitzenden des Vermögensverwalters Blackrock, Larry Fink. Die Financial Times zitierte Fink jüngst damit, dass "der russischen Einmarsch in die Ukraine zum Ende jener Globalisierung" geführt hätte, "wie wir sie in den vergangenen drei Jahrzehnten erlebt hatten. Der Krieg habe sich bereits zuvor zunehmend abzeichnende Tendenzen der ökonomischen Abkopplung verstärkt.
Deshalb prognostiziert Fink eine Rückkehr vieler Firmen ins eigene Land, sowie ein verstärktes Interesse seitens Regierungen, ökonomische Abhängigkeiten von anderen Ländern möglichst zu reduzieren. In einer Analyse für die arabische Tageszeitung Asharq Al-Awsat ging der deutsche Ökonom Peter Coy der Frage nach einer möglichen Deglobalisierung ebenfalls auf den Grund – und kam infolge einer Befragung zahlreicher Experten zu einem anderen Ergebnis: Die Globalisierung ende nicht, sondern verändere sich nur.
Rettet der Homo oeconomicus die Globalisierung?
So schreibt Coy: "Es wird immer Kräfte geben, die Länder auseinanderstreben lassen. Aber gleichsam gibt es genauso starke Kräfte, die sie wieder zueinanderstreben lassen: Unternehmen und Staaten haben einen starken Antrieb, zu handeln, weil sie mehr Geld verdienen können, wenn sie sich auf das konzentrieren, was sie am besten können und Waren, die sie nicht so gut produzieren können, bei anderen kaufen."
Dennoch weist Coy auch auf die Schattenseiten der Globalisierung hin. Diese könne schädliche Folgen tragen und Arbeitern sowie dem Planeten beispielsweise dann Schaden zufügen, wenn Unternehmen ihre Produktion in Länder verfrachten, in denen die Gehälter oder Umweltstandards niedriger sind. Um zu unterstreichen, dass eine isolierte Volkswirtschaft der Welt nach wie vor nicht als erstrebenswert gelte, führt Coy die Bestrafungsintention der westlichen Sanktionen gegen Russland an, die das Land ja schließlich auch wirtschaftlich isolieren würden.
Die Gefahr, dass es sich bei diesem Beweis um einen, auch weil auf der wackeligen Prämisse des stets wirtschaftlich klug handelnden Homo oeconomicus basierenden, unzulässigen Umkehrschluss handelt, ist jedoch durchaus latent.